»Liebe Kameraden des antifaschistischen Widerstandes!«138 Rührte eine solche Anrede aus dem Mund des Generalsekretärs die einstigen Widerstandskämpfer an? Wer ahnt, was sie aus gegebenem Anlaß fühlten – mit der Vision von einer gerechteren Gesellschaft in die Zukunft Aufgebrochene, die ein Jahrhundertexperiment versucht hatten? Jüngere waren ihnen gefolgt. Gestanden sie sich ein, daß der sozialistische, ja kommunistische Zukunftsentwurf, dem sie gefolgt waren, von Anfang an nicht ohne den autoritären Zugriff auf das Individuum ausgekommen war, um den Neuen Menschen zu schaffen? Wenn sie aber fest an die planbare Größe Produktivkraft Mensch geglaubt hatten, die es nur unentwegt zu erziehen und in der als wahr und richtig erkannten Richtung politisch-ideologisch durchzuformen galt, waren sie da nicht zum Scheitern Aufgebrochene gewesen? Mußten sie nicht irre werden an ihren Objekten, als »die Menschen, unsere Menschen« die heroischen Züge der Sockelfiguren entlang des Vierzigjahresweges nicht annahmen? »Liebe Aktivisten der ersten Stunde!« Mit ungestümem Schwung waren sie aufgebrochen, dann aber auf dem Weg durch erstarrende Strukturen ermüdet, auch zerbrochen beim Vergessen der zu Unpersonen Gewordenen,139 abgestumpft beim Immer-Weiter-Gehen durch Verengungen, die sich wie Tunnelwände aneinanderreihten. Die Innenansicht von Ausschluß, Verfahren, Haft hatte gefühlstaub gemacht. Andere waren an die Seite getreten, von wo sie in Abständen, aus den Ordens- und Auszeichnungsregistern heraus, zur Ehrung aufgerufen wurden. »Liebe Freunde und Genossen!«140 Was hieß das angesichts der allgemeinen Sprachlosigkeit, die lähmte, einmal überwunden aber erschreckte, nämlich als auf den Straßen das Durchatmen und drinnen das Aufatmen einsetzte, dieses »Nach langem Schweigen endlich sprechen«.141
Die Sitzordnung des Präsidiums demonstrierte die ›Geschlossenheit‹ der im Demokratischen Block unter Führung der SED vereinten Parteien. Sie war Programm. Politbüromitglied Kleiber (SED) saß zwischen dem Nationaldemokraten Homann (NDPD)142 und dem Liberaldemokraten Gerlach (LDPD), der Bauernparteivorsitzende Maleuda (DBD) fand seinen Platz zwischen den Politbüromitgliedern Mittag und Herrmann,143 und neben Herrmann saß Götting (CDU).144 Mittag und Herrmann werden mit Honecker am 18. Oktober entmachtet werden, Maleuda wird als erster Volkskammerpräsident der Wende an die Stelle von Sindermann treten, Rechtsanwalt de Maizière145 (er befand sich als einziger der Genannten nicht im Saal) Götting ablösen, Gerlach am 6. Dezember mit der Wahrnehmung der Aufgaben des amtierenden Staatsratsvorsitzenden beauftragt werden. In einer vorgezogenen Rede zum 40. Jahrestag hatte er Betroffenheit darüber ausgedrückt, daß »Kinder der Revolution, hier erzogen und politisch gebildet«, das Land verlassen,146 und hatte später sogar die verheerende Sicherheitsdoktrin des Honecker-Politbüros angegriffen. »Was Liberaldemokraten heute mit Sorge erfüllt, ist, daß sich politische Wachsamkeit auch gegen Bürger zu kehren beginnt, die sich, in ihrem demokratischen Verständnis von Humanismus, von Dasein für Mitmenschen folgend, kooperativ an der Gestaltung des Sozialismus beteiligen wollen, aber Gefahr laufen, als Quertreiber ausgegrenzt zu werden.«147 Armeegeneral Mielke,148 dafür zuständig, blieb an der Festtafel unauffällig. Krenz149 hatte den Blick von einem entfernten Platz auf den Redner gerichtet: von Honecker trennten ihn Hager, Axen, Stoph. Von der entgegengesetzten Seite blickte Mittag150 mit ebensolcher Aufmerksamkeitshaltung zum Rednerpult. Zwischen ihm und Honecker saßen Keßler und Sindermann. Das Politbüro, das eine offene Debatte nicht kannte, »nicht einmal am Rande«,151 wo jede Fehlerdiskussion verpönt war,152 war vor dem Parteiherrn in der Habachtpose erstarrt. Der Gewerkschaftsvorsitzende Tisch153 war von Krenz durch Mückenberger getrennt, von dem es hieß, er schliefe im Stehen. Zu seiner Linken ragte Alfred Neumann auf; an seiner Seite hatte der Berliner Bezirkssekretär Schabowski Platz genommen, der Stoph »einen Aktivposten in der Technologie des Sturzes von Honecker« nennen wird.154
Als die »verdorbenen Greise«, wie der geächtete Sänger sie genannt hat,155 und die anderen einzogen, applaudierten die Gäste stehend. All das zählt nicht in der Geschichte, aber es gehört dazu. »Mit herzlichem Beifall begrüßen Widerstandskämpfer und Aktivisten der ersten Stunde die Mitglieder der Partei- und Staatsführung.« Es war eher ein Hineinrufen in den Saal mit hoher, sich überschlagender Stimme als ein Sprechen: »Wir sind gewiß, daß die DDR auch die Anforderungen der Zukunft bewältigen wird.« Der Generalsekretär reichte einem Genossen die Hand, dieser nahm sie mit beiden Händen.156 Zwei Mitunterzeichner der Gründungsurkunde der Freien Deutschen Jugend von 1946, inzwischen beide weißhaarig, standen sich gegenüber. Ministerratsvorsitzender Stoph, rechts neben Honecker, dessen Absetzung er in der Politbürositzung am 17. Oktober fordern wird,157 enthüllte am Nachmittag im Ministerium eine Tafel zum Gedenken an die Staatsgründung vor vierzig Jahren. Währenddessen traf die Regierung letzte Vorbereitungen, den paß- und visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der ČSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen.158 Denn nach der Ausweisung der Botschaftsflüchtlinge war die Bonner Vertretung in Prag binnen Stunden zum zweiten Mal von Flüchtlingen überrannt worden159 Die zweite Ausweisung in Sonderzügen über das Territorium der DDR stand bevor. Die Schließung der Grenze, die ADN noch am 3. Oktober meldete, versperrte den Fluchtweg nach Prag und Budapest.
Mit einem Male erschien das Land seinen Bewohnern wieder wie ein Haus ohne Fenster und Türen. Ein Ausbruch von Massenwut stand bevor. Zuerst eskalierten Gewalt und Gegengewalt am 4. Oktober abends am Dresdner Hauptbahnhof, nachdem die Ankunft der aus Prag angekündigten Züge um 24 Stunden verschoben worden war. Die einen wollten die Grenzöffnung erzwingen, die anderen auf Bahnsteig 5 zu den Ausgewiesenen in den Sonderzügen aus Richtung Bad Schandau aufspringen, wieder andere die Demokratiebewegung beginnen. Was in Dresden geschah, wirkte am Beginn der Jubelwoche wie eine Explosion. Am 4. Oktober waren gegen 17 Uhr Haupt- und Vorhalle des Bahnhofes, der Dreh- und Angelpunkt der Berufsverkehrszüge war, mit Menschen so angefüllt, daß er nicht mehr betreten werden konnte. Die Polizeiketten standen mittendrin im Stau der meist jungen Leute. Bahnsteig 5 war geräumt und wurde von Schutz- und Transportpolizei (ohne Schilde) abgesperrt. Die anderen Bahnsteige konnten nur mit Fahrkarte betreten werden. Über allem lag eine relative, aber spannungsgeladene Ruhe. Es gab weder Sprechchöre noch Transparente. Einzelrufe wie Raus! waren zu hören. Vor dem Bahnhof hatten sich rund 500 bis 700 »Schaulustige« angesammelt. Dann fuhr die Polizei in etwa 20 bis 25 LKWs auf das entferntere Bahnhofsgelände und rückte von dort ins Innere des Bahnhofs vor. Die Hallen und Bahnsteige wurden »freigeräumt« und dabei verwüstet. Die Wartenden wurden mit Wasserwerfern und Schlagstöcken herausgetrieben; anschließend verbarrikadierten sich die Polizeikräfte. Vor den Ausgängen in Richtung Prager Straße standen die Menschen, durchmischt mit Stasi, Kopf an Kopf und warteten in der ganzen Breite bis über die Fahrbahn vor dem Lenindenkmal. Jugendliche, teils mit Motorradhelm, wagten sich vor, warfen Pflastersteine, später Benzinkissen (mit benzingetränktem Material gefüllte Plastebeutel), während behelmte Polizei hinter Schilden aus der Bahnhofsdeckung herausstürmte und die Werfenden zurückzudrängen suchte, bis diese erneut vorrückten, nur unterbrochen vom Einsatz zweier Wasserwerfer (der zuerst eingesetzte Wagen hatte unter dem Jubel der Menge technisch versagt), die wechselnd heranfuhren und ihr Wasser verspritzten. Die Ereignisse wogten bis zwei oder drei Uhr in der Nacht.
Angesichts dieser Konfrontation entstanden die ersten Sprechchöre: Schämt euch!, Bullenschweine! und Freiheit! (Leipzig am 25. September und 2. Oktober). In veränderter Form wiederholten sich die Zusammenstöße in Dresden am 5. und 6. Oktober, verlagerten sich aber, weil der Bahnhof abgeriegelt war, stärker in die Prager Straße und nahmen allmählich Demonstrationscharakter an. Über Lautsprecher befahlen die Polizeikräfte Räumen! Dann, »wie bei den Römerspielen mit den Schlagstöcken an die Schilde klopfend«, rückten sie gegen die Menschenmenge vor. Was dort auf beiden Seiten passierte, »das war rein auf Kampf aus, da waren keine Sprechchöre; das war wie Bürgerkrieg«.160