Der Partei- und Staatsapparat in der Provinz nahm den hauptstädtischen Feierton auf: er stellte sich nach den Regeln der rituellen Kommunikation auf die Sprachregelung der Zentrale ein. Die Durchhaltestimmung oben verstärkte das Schweigen und die Abschottung der Kader unten. Es wurde im Brustton der Überzeugung weitergeredet und Schulterschluß bewiesen. »Treffen des Politbüros des ZK der SED mit verdienstvollen Gründern der DDR« (Sächsische Zeitung).162 »Veteranen sangen Lieder«, die sie (im Kampf) begleitet hatten. »Du hast ja ein Ziel vor den Augen / Wir lieben das fröhliche Leben / Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf.« An diesem Tag wurde der Stammbetrieb des Stahl- und Walzwerks Riesa ausgezeichnet; der erste Schmelzer nahm ein Ehrenbanner aus der Hand des Ministers entgegen. Das Rohrkombinat erhielt für erfüllte Pläne und die termingemäße Übergabe aller Ratio(nalisierungs)mittel den Ehrennamen Karl Marx verliehen. Die Beschenkten dankten in Wendungen des Rituals.163 Das Gesprochene machte das scheinbar Erhabene zu Trivialem. Im Rohrwerk IV wurde der Jugendbrigadier der Brigade Karl Marx für die »Sächsische Zeitung« befragt, was der Name des »großen Klassikers« ihnen bedeute. Antwort: »Wir sind an und mit ihm gewachsen, auch wenn das mitunter recht unbequem war.« Frage: »Bedeutet der Name des weltbekannten Philosophen für euch, auch ständig und überall Spitze zu sein?« Antwort: »Er bedeutet zumindest, immer zur Spitze zu wollen. Stolpern gehört dabei zum Laufen. Auch wir hatten schon mit der Kondition zu kämpfen, standen mit 1.250 Tonnen in der Kreide. Klingt viel, sind aber ›nur‹ fünf Schichten. Wir haben uns gesagt, wir achten peinlichst auf Qualität. Nicht alle sahen das gleich so« usw. Frage: »Nun seid Ihr seit gestern also doppelt mit Marx verbunden?« Antwort: »Was heißt hier doppelt? Mehrfach! Wir freuen uns natürlich, daß unser Kombinat diese hohe Anerkennung erhielt. Wir wissen, daß ein solcher Ehrenname weit mehr als eine Geste der Anerkennung ist. Uns freut es, daß wir mit unserem Namen ein bißchen Vorreiter im Kombinat waren. Wir sehen Marx aber nicht nur gern auf unserem Brigadetagebuch, sondern auch am Zahltag, auf den blauen Scheinen. Denn: Gute Arbeit soll sich ja für jeden daran Beteiligten auch auszahlen, womit wir wieder bei Marx wären.«164
So wurde die um Höchstleistungen ringende Arbeiterklasse inszeniert. Der Brigadier war die Klasse; diese folgte Marx, und dieser verantwortete im Verständnis der Benutzten die beste aller Welten, den realen Sozialismus. Das Marx-Plakat im Wahlkampf 1990 mit der Aufschrift Proletarier aller Länder vergebt mir schloß an diese Erfahrung an. Das administrative System bewegte den Arbeiter ›von oben‹. Er stabilisierte es durch Arbeit und Anpassung. Die Inszenierung der machtausübenden Arbeiterklasse hielt an bis in die letzten Stunden vor der Wende. Der Arbeiter, der Angehörige der Intelligenz, der Genossenschaftsbauer, der Handwerker usw., das waren die Denkfiguren des administrativen Systems, die in einer ritualisierten Rang- und Reihenfolge als Identifikationsmuster dienten. Krenz hat nach seiner Wahl zum Generalsekretär am 18. Oktober die erste Fernsehansprache in beispielloser Verkennung der Realität auf dieses Muster aufgebaut.165 Die hochgebildete Intelligenz war zu diesem Zeitpunkt um einige Plätze an die Arbeiterklasse herangerückt, die Soldaten dagegen waren zurückgefallen. Hinter ihnen gab es nur noch die Veteranen der Arbeit, die Rentner, sowie die Kirchen.
Die stärkste Autorität im Lande war das Allerletzte.
Als sich der Einzelne dem Rollenspiel entzog und die Nische verließ, destabilisierte er das System. Der Zulauf zu den Friedensgebeten, schließlich zu den Leipziger Montagsdemonstrationen und deren landesweiten Anschlußbewegungen kennzeichnete die Veränderung des Kräfteverhältnisses. Damit verlor die Führung die Balance. Die Arbeiter hatten mehrheitlich durchaus ihre Rolle gespielt und als herrschende Klasse funktioniert. Sie kannten die Vorteile wie die Nachteile des Mitspielens. Im Betrieb funktionierte Herrschaft politisch, kaum ökonomisch. Der Arbeiter mußte nicht das Letzte aus sich herausholen, er ging aber mit in den Ruin. Die gigantische Fiktion der im Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern und den anderen Werktätigen die Macht ausübenden Arbeiterklasse konnte ohne das Stillhalten der Klasse mit Bauch nicht aufgerichtet werden. Die Revolution hat all diese Rollenspiele beendet. Das Staatsschauspiel Dresden sprach für eine ganze Bevölkerung: Wir treten aus unseren Rollen heraus.166 »Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputtmachen.« (Es war kaputt.) »Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft. Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig. Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.« (Die Künstler hatten die bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße am Hauptbahnhof vor Augen.) »Wir haben ein Recht«: 1. auf Information, 2. auf Dialog, 3. auf selbständiges Denken und Kreativität, 4. auf Pluralismus im Denken, 5. auf Widerspruch, 6. auf Reisefreiheit, 7. unsere staatlichen Leistungen zu überprüfen, 8. neu zu denken, 9. uns einzumischen. »Wir haben die Pflicht …, das Wort Sozialismus so zu definieren, daß dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.« Die aus ihrer Rolle heraustretenden Arbeiter haben diese »Pflicht« nicht mehr oder immer weniger gefühlt. »Wir haben die Pflicht, von unserer Staatsund Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen zur Bevölkerung wieder herzustellen.« Das Wort ›unser‹ gehörte zum Ritual, es liest sich in der Rückschau wie das Erschrecken vor dem eigenen Mut. Dadurch verlor die Erklärung an Kraft. Denn sie endete gehorsam.
Die aus der Rolle des Machtausübens heraustretenden Arbeiter begannen das System zu zerstören oder doch mitzuzerstören, nachdem der Erfolg der friedlichen Straßendemonstrationen sie in immer größerer Zahl angezogen hatte. Erst die Massenteilnahme der Arbeiter gab den Demonstrationen die schließlich entscheidende, die systemzerstörende Wucht.
Es lohnt nicht, die Feierlichkeiten zum Vierzigsten Jahrestag darzustellen. Wenn die Ereignisse vom 3. Oktober an einem Höhepunkt zustrebten, dann war das nicht die Festveranstaltung im Palast der Republik mit den Generalsekretären Honecker und Gorbatschow als Festrednern167 und auch nicht der Fackelzug der Einhunderttausend und deren FDJ-Gelöbnis,168 sondern die akute Staatskrise. In der Rückschau werden die Begegnung mit dem tschechoslowakischen Generalsekretär Miloš Jakeš (zurückgetreten am 24. November 1989) und das Treffen mit dem rumänischen Diktator Nicolai Ceauşescu (am 25. Dezember 1989 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und erschossen) zu unverrückbaren Krisenzeichen.169
Der Dialog führte die Zentrale in die Niederlage. Denn Dialog bedeutete Anhörung, und daraus entstand druckvolle Einwirkung, schließlich Mitverantwortung und ein die Apparate aufsprengendes Hineindrängen der Bürgerbewegungen in die öffentliche Verantwortung. Die von der Zentrale gesteuerten Gewalttätigkeiten gegen die »Kinder der Republik«, in Berlin am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag, und am 8. Oktober mit besonderer Brutalität ablaufend, gehörten zur Logik dieser aufs Ganze gehenden Konfrontation. Sie schien den Hauptverantwortungsträgern angesichts der Verweigerung vor allem junger Menschen nötig, denn diese trieb den totalen Stimmungsumschwung im Lande weiter voran. Mit beeindruckendem Mut protestierten Jugendliche an zahlreichen Orten, auch in kleinen Städten wie Bischofswerda,170 gegen das unerträgliche Jubilate von Partei und Staat, gegen die Jubelwoche in einem solchen Land des Verfalls und der Krise, und überall griffen Polizei und Sicherheitskräfte rücksichtslos durch, indem sie Proteste erstickten und Beteiligte verhafteten.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную