On the Road. Hans-Christian Kirsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Christian Kirsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783862870592
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Er klopft. Es öffnet ihm ein engelsgesichtiger junger Mann mit blondem Haar und hohlen Wangen. Man könnte meinen, er trinke nichts anderes als Wind und statt Fleisch esse er einen Haufen Schatten, geht es Allen durch den Kopf.

      ›Was spielst du denn da?‹ fragt er.

      ›Gefällt es dir?‹

      ›Ich würde sagen, es ist das Klarinettenquintett von Brahms.‹

      ›Richtig. dass es jemanden gibt, der so etwas zu schätzen weiß‹, wundert sich der andere und bittet ihn zu sich herein. Der Kommilitone stellt sich vor. Luden Carr. In den Bücherregalen sieht Allen französische Bücher. Flaubert, Rimbaud. Carr stellt zwei Gläser auf den Tisch und schenkt Rotwein ein. Die beiden werden Freunde. Sie treffen sich immer öfter zu langen Gesprächen. Carr stammt aus einer wohlhabenden Familie aus St. Louis, wo sein Großvater mütterlicherseits mit Jute und Hanffasern handelte. Als Lucien noch ein Kind war, hatte der Vater die Familie verlassen.

      Lucien ist zwei Jahre älter als Allen. Er hat eine Schule für verhaltensgestörte Kinder besucht, hat später an der renommierten Universität von Chicago sein Studium begonnen und ist im Herbst nach Columbia gekommen.

      Für Allen wird Rimbaud, mit dessen Gedichten ihn Carr bekannt macht, zur großen Entdeckung, zum Tor in die europäische Moderne. Bei ihm stößt er auf Sätze, auf die sich später die Literaten der Beat Generation berufen werden. Sein Tagebuch verzeichnet, was ihm nun als Aufgabe und Eigenart des Dichters erscheint:

      ›Der Dichter wird ein Seher durch ein langes dérangement aller Sinne. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns hat er durchlaufen. Er sucht sich selbst, gibt sich allen Giften in sich hin, behält aber nur die Quintessenz. Unbeschreibliche Qual, zu der er all seinen Glauben braucht, all seine übermenschliche Kraft, da er unter den Menschen zum großen Patienten wird, zum großen Kriminellen, zum großen Verfluchten - und zum überragenden Gelehrten. Denn wonach es ihn verlangt, ist das Unbekannte.‹8

      Es wird zugleich sein Lebensprogramm für die nächsten Jahre. Noch zögert Allen, ob er sich auf ein solches Boheme-Leben, wie es Lucien predigt, einlassen soll. Hat er sich nicht vorgenommen, ein Anwalt und Verteidiger des Proletariats zu werden?

      Langsam verflüchtigen sich Allens idealistische Träume. Er sieht, dass sich die Literatur der europäischen Moderne mit Themen beschäftigt, die auch ihn persönlich beunruhigen: Wahnsinn, Außenseitertum, das, was der Spießer abartig zu nennen pflegt.

      Ja doch, auch er ist ein Abartiger, ein Außenseiter. Er will es nur immer noch nicht wahrhaben.

      Daheim hat sich auch einiges geändert. Nachdem beide Söhne aus dem Haus sind, nachdem Louis zweiundzwanzig Jahre an der Seite von Naomi vor allem aus Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl ausgehalten hat, sie seine Liebe längst nicht mehr erwidert, ihn ständig mit Anschuldigungen und Verdächtigungen überhäuft, ist er am Ende seiner psychischen Kraft. Mehrmals hat Naomi nach solchen Anfällen von Misstrauen die gemeinsame Wohnung verlassen. Jetzt zieht sie endgültig aus, kriecht bei ihrer Schwester Eleanor in der Bronx unter. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Adressenschreiben. Auf Außenstehende wirkt sie normal, voller Selbstvertrauen, geradezu fröhlich. Aber immer wieder hat sie Anfälle, bei denen sie dann Stimmen hört und die alten Ängste sie wieder überwältigen. Sie wird schließlich die Geliebte eines Vertrauensarztes der Marinegewerkschaft, bei dem sie als Sprechstundenhilfe arbeitet.

      Dass es irgendwann zwischen den Eltern zum Bruch kommen würde, war vorauszusehen gewesen. Insofern geht Allen die Trennung der Eltern jetzt auch nicht übermäßig nahe. Er besucht hin und wieder sowohl den Vater in Paterson als auch die Mutter bei ihrem neuen Freund. Mehr und mehr nehmen ihn die Gespräche und die Lebensart seiner neuen Bekannten an der Universität gefangen.

      Mit Lucien Carr besucht er zum ersten Mal das New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village, dem damals noch ein Hauch Verworfenheit anhaftete.

      Durch Lucien lernt Allen einen hochaufgeschossenen, rotbärtigen Mann kennen, der David Kammerer heißt: eine tragische Gestalt.

      Kammerer hatte sich in Lucien Carr verliebt, als er diesen als Kind auf einem Spielplatz sah. Seither ist er ihm überallhin gefolgt. Hier in New York schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er ist zu jedem Opfer bereit, wenn er nur in Luciens Nähe sein kann. Das Verhältnis der beiden ist spannungsreich, weil es kaum ein Mädchen gibt, auf das der schöne Lucien mit seinen grünen Katzenaugen keinen Eindruck machen würde.

      Bei Allen löst das Verhältnis der beiden Männer zwiespältige Empfindungen aus. Einerseits kommt es ihm geradezu wie eine Offenbarung vor, dass sich jemand ganz offen zu seiner von der Gesellschaft tabuisierten Neigung bekennt. Andererseits hat die Besessenheit Kammerers und die Distanzierung, mit der Carr darauf reagiert, für ihn etwas Erschreckendes. Angesichts dieses Verhältnisses wird ihm klar, in welche Enttäuschungen und Leiden seine Veranlagung auch ihn stürzen wird.

      Als sie Kammerer aufsuchen, hat der einen Freund aus St. Louis zu Besuch: einen großen, dünnen Mann mit aschgrauer Haut, sandfarbenem Haar und zusammengekniffenen Lippen, die ab und zu nervös zucken. Allen, der zu diesem Zeitpunkt siebzehn ist, kommt der Besucher uralt vor. In Wirklichkeit ist der Gast, der gleich um die Ecke wohnt, damals dreißig Jahre.

      Die Rede kommt auf eine Schlägerei zwischen Kammerer und einem betrunkenen Maler, bei der dessen Atelier völlig verwüstet worden ist. Lucien hat dabei dem Maler ein Stück vom Ohrläppchen abgebissen und darauf seine Zähne auch noch in Kammerers Schulter gegraben.

      ›Mit den Worten des unsterblichen Barden‹, zitiert der Gast, der sich als William Seward Burroughs vorgestellt hat, ›ein Gegenstand, zu ausgehungert für mein Schwert.‹9

      Dass jemand offenbar für alle Gelegenheiten ein passendes Shakespearezitat aus dem Ärmel schütteln kann, beeindruckt Allen ungemein. So beginnt seine Freundschaft mit William Burroughs.

      3

      Ein Sohn aus gutem Hause

      (1914-1944) William Burroughs

      Once started out

      to walk around the world

      but ended in Brooklyn.

      That Bridge was too much for me

      I have engaged in silence

      exile and cunning.

      Lawrence Ferlinghetti1

      ... geboren am 5. Februar 1914 in St. Louis. In der Reihe seiner Vorfahren treten uns zwei bekannte Typen der amerikanischen Bevölkerung des 19. Jahrhunderts entgegen: der Yankee-Erfinder und der Prediger aus dem Süden.

      Der Großvater väterlicherseits war Mechaniker gewesen. Er hatte Patente auf Eisenbahnweichen und auf ein Papiermesser angemeldet, ohne Geld damit zu verdienen. Häufig war er arbeitslos. Sein Sohn William wurde mit achtzehn nach der High-School Bankangestellter. Als solcher war er Tag für Tag acht Stunden damit beschäftigt, Zahlenkolonnen abzuschreiben und zu addieren. Tausender, die zu Millionen kommen, von denen Hunderter abgezogen und erneut Tausender dazugezählt werden.

      Eine langweilige, monotone Arbeit. Sieben Jahre blieb William bei der Bank. Dann war seine Gesundheit ruiniert. Tuberkulose. So schwer, dass er seinen Beruf aufgeben musste.

      Er erinnerte sich an die Erfindertradition in der Familie.

      Es war die Zeit, in der man mit einem neuen Produkt, das sich in Massenproduktion herstellen ließ, von heute auf morgen reich werden konnte.

      Die erste Schreibmaschine 1868.

      Das erste Telefon 1876.

      Die Registrierkasse 1879.

      Der Füllfederhalter 1884.

      William Seward Burroughs erfand eine Rechenmaschine, die mit der Drehbewegung einer Kurbel eine Reihe von Zahlen addieren konnte und die Rechenoperation sofort ausdruckte. Später kam ein breiter Wagen dazu, der das Buchhaltungsjournal beförderte.

      Von dem bis heute üblichen Papierstreifen ließen sich alle Geschäftsvorgänge eines Tages ablesen.

      Zusammen