On the Road. Hans-Christian Kirsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Christian Kirsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783862870592
Скачать книгу
in einem Grab, so isoliert war ich durch die dicken Mauern des von Zügen überratterten Viadukts in der 20. Street, der nur ein paar Yards entfernt lag. Am bedrückendsten aber war vielleicht der Gedanke, dass die Hitze hier bis in den Sommer immer mehr zunehmen würde, bis ihre Schwere so übermächtig wäre, dass es kein Entkommen mehr gab.‹2

      In den nächsten Jahren seines Lebens wandert Neal zwischen Vater- und Mutterwelt hin und her. Auch das Snowden ist alles andere als ein ordentliches Haus. Im Metropolitan hausen Vagabunden, im Snowden kleine Gauner. Typen, die mal gesessen haben, Perverse, Prostituierte, Süchtige. Und im Keller haben Ralph und Jack ihr Lager, Freizeit-Mafiosi, die sich der Horde Kinder im Haus für Diebstähle bedienen und die Leute aus der Nachbarschaft nach ihrer Pfeife tanzen lassen.

      Noch schlimmere Erfahrungen macht Neal jr. mit Jim. Der Bruder stachelt den Kleinen an, sich zu prügeln, wobei Neal meist den kürzeren zieht. Jim tötet einen Wurf junger Katzen, indem er sie in der Kloschüssel hinunterspült. Oder er heißt Neal auf ein unbebautes Grundstuck mitkommen. Unterwegs fangen sie Katzen ein, die dort der Kleine am Schwanz packen und in die Luft werfen muss, als Zielscheibe für Jims Schüsse.

      Und dann ist da das Geheimnis des Wandbettes. Ein Bett, das aus einem Holzgestell besteht, das man im Mittelteil eines Schrankes verschwinden lassen kann. Jim empfindet eine teuflische Freude daran, den Kleinen darauf festzubinden und ihn gegen die Wand zu kippen. Dreißig Zentimeter Zwischenraum bleiben. Ein Grab. Der Geruch von Kalk; verschwitztem Bettzeug. Die Dunkelheit. Bis zu einer Stunde lässt Jim ihn in diesem Gefängnis, und wehe, Neal würde versuchen, sich zu befreien oder mit einem Klagelaut die Mutter auf sich aufmerksam zu machen. Das würde ihm hinterher nur eine Tracht Prügel von Jim eintragen. Also sitzt er seine Zeit in dem Wandgefängnis eingeschüchtert und geduldig ab. Manchmal wird ihm schwindlig, alles dreht sich, bis er einem schönen Nichts entgegentreibt. Er lernt, diesen Zustand bewusst herbeizuführen, indem er über längere Zeit den Atem anhält. Einen Augenblick zu lange, und er wäre hinüber. Aber das ist gerade der Spaß dabei. Hilflos zu sein und dabei doch Macht zu haben über Leben und Tod. Da ist Neal sieben, acht Jahre alt. Die Eltern haben sich darauf verständigt: Während der Schulzeit soll der Junge bei der Mutter bleiben und nur die neunzig Tage im Sommer beim Vater sein.

      In den Sommerferien nimmt ihn Neal sr. zu einer seiner Tausend-Meilen-Sausen durch den Westen mit, nach Nebraska, bis nach Kalifornien. Immer wieder erlebt der Junge Augenblicke panischer Angst. So, als Vater und Sohn wieder einmal auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit auf dem Gleisfeld- eines Rangierbahnhofes herumlaufen. Eine Lokomotive taucht vor ihnen auf, und der Alte hat den einen Fuß in einer Weiche eingeklemmt; Um nicht überrollt zu werden, bleibt ihm schließlich nichts anderes übrig, als den Schuh zu opfern, und an einem Fuß nur noch den Strumpf, davonzuhumpeln.

      Der Vater will sich in San Jose, Kalifornien, als Gelegenheitsarbeiter für die Pflaumen- und Aprikosenemte anwerben lassen. Er wird abgewiesen, weil er ein Kind bei sich hat.

      ›Ein hässlicher Italiener um die fünfzig, in schmierigen Hosen, schmutzigem Unterhemd und abgetretenen, fettbespritzten Schuhen (in der Hitze war das alles, was er trug, denn er besorgte das Braten in seiner Grillbar selbst), tippte Vater leicht an und teilte ihm mit, dass er von unserer Notlage gehört habe. Er erbot sich, so lange für mich zu sorgen, wie Papa brauchte, um ein Sümmchen zusammenzubringen. Vater war von einer solchen günstigen Lösung sehr entzückt und ganz dafür, aber ich sträubte mich auf das heftigste, trotz wortreicher Bitten und Beruhigungen mit begleitendem Klaps auf Kopf und Schultern, während der verzweifelte Vater stärker zu einer Entscheidung drängte, weil er sah, dass die Arbeitsabteilung schon zum Abmarsch bereit war - der angehende Samariter meinte, er würde uns zu seiner Taverne auf der anderen Straßenseite begleiten, und dort begann ich, als ich unter den Blicken fremder Leute zu einer Brauselimonade genötigt wurde, zu schwanken. Danach war es für sie leicht, also aßen Papa und ich ein paar eilige Bissen einer tränenverschwommenen Mahlzeit miteinander, gratis, wobei der Gastgeber, mein neuer Papa, mit Lächeln und Segenssprüchen um uns herumschwebte, dann bestieg Papa den Lastwagen mit der Männerfracht, und mit einem schwachen Winken seiner Hand hatte ich ihn für einen Monat verloren.‹3

      Zwar hat der Junge Sehnsucht nach seinem Vater, aber Sehnsucht und Freude über das Leben wie auf einem Schloss aus einem Film schließen einander nicht aus. Der Adoptivvater fährt zudem einen funkelnagelneuen Cadillac V-16, und als Neal zum ersten Mal neben ihm Platz nehmen darf, entzündet sich seine lebenslange Begeisterung für Automobile.

      Im Haus des Italieners gibt es eine den Jungen verhätschelnde Haushälterin, die schmackhafte, Neal nach dem Hobo-Leben geradezu üppig erscheinende Mahlzeiten auf den Tisch bringt.

      Sein Bett kommt ihm enorm groß und ›zu weich und sauber, um wahr zu sein‹, vor.

      Er wird einer bettlägrigen Frau mittleren Alters vorgeführt.

      Offenbar hat ihn der Grillbarbesitzer tatsächlich aus keinem anderen Grund als dem mitgenommen, dass er kinderlieb ist. Aber Neal jr. verlässt nie die Angst, der Wohltäter plane seinen Tod. Als der Vater endlich wieder auftaucht, eröffnet der Italiener ihnen, er wolle Neal jr. adoptieren, ihn aufs College schicken und ihn zu seinem Erben einsetzen.

      Als erwachsener Mann wird sich Neal nicht mehr daran erinnern können, was seinen Vater veranlasste, dieses Angebot auszuschlagen: Vielleicht wollte er einfach der Gesellschaft seines Sohnes nicht verlustig gehen. Der Italiener schenkt dem Jungen zum Abschied einen echten Degen mit juwelenbesetztem Griff. ›Der wunderliche Gegenstand wird ihm im folgenden Jahr von einem Vagabunden gestohlen, der ihn versetzt, um sich Alkohol zu kaufen.

      Auf die Wochen bei dem wohlhabenden Italiener folgt eine Zeit mit einer verwitweten Wanderarbeiterin aus Oklahoma, die der Vater beim Obstpflücken kennengelernt und in die er sich verliebt hat; Das Paar nimmt eine Mietwohnung in Los Angeles. Die Frau hat einen Sohn in Neals Alter. In Erinnerung bleibt Neal, wie er mit dem gleichaltrigen Jungen auf einem Hügel sitzt, von dem aus sie auf die kilometerlangen Lichterreihen der Stadt unter sich hinschauen. Sie unterhalten sich über die ›jeweiligen tödlichen Vorzüge meines schönen neuen Messers und seines rostigen, aber echten 32er Revolvers (einziges Andenken, das ihm von einem unbekannten Vater hinterlassen worden war), und wie hitzig unsere Streitigkeiten auch wurden; als jeder von uns die springenden Punkte unserer Waffen anführte - meine Stärke war die Lautlosigkeit des Messers...‹4

      Der Aufenthalt 1933 in Kalifornien dehnt sich dann noch bis kurz vor Weihnachten hin aus. Neal sr. hat sich entschlossen, diesmal nicht als Hobo zu reisen. Er gibt eine Armutserklärung ab und beantragt Reisehilfe. Neal geht unterdessen in Los Angeles auch zur Schule, in eine Schule, in der jeder Tag mit einem Treueid auf die Fahne beginnt und sich im Flirt mit einer bewunderten Mitschülerin herausstellt, dass er farbenblind ist.

      Seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelt Neal, als er neun oder zehn Jahre alt ist. Doktorspiele mit einem um ein paar Jahre älteren Mädchen im Snowden. Von der Feuerleiter aus beobachtet er, wie eine Amateurprostituierte ihren Kunden empfängt und ihn abfertigt. Dann ist er wieder beim Vater. Eines Abends nimmt Neal sr. den Jungen zu einem seiner Saufkumpane mit, einem schwachsinnigen Deutschen, der mit einem Stall voller Kinder in einer Scheune auf dem Land haust. Spät in der Nacht entwickelt sich ein munteres Treiben. Während der Familienvater sich bewusstlos betrunken hat und wie tot daliegt, klettert Neal sr. mit der Hausfrau ins Heu. Die älteren Jungen fallen über ihre kleinen Schwestern her. Zuerst fürchtet Neal jr., sie würden die Mädchen umbringen, aber dann kommt es ihm so vor, als ob die sogar Spaß an dem hätten, was sich bei diesem Ringkampf nackter Leiber unter Gekicher und Gestöhn abspielt. Gegen Morgen wird es dann ernst. Der Ehemann ist wieder bei Sinnen und überrascht Neal sr. mit seiner Frau beim Beischlaf. Die beiden Männer prügeln sich. Vater und Sohn machen sich hastig davon. ›Spielverderber, murmelt Neal sr.‹

      Sein erstes Auto stiehlt Neal jr. - da ist er vierzehn. Im Lauf der nächsten vier Jahre wird er an die fünfhundert Wagen entwenden, mit ihnen eine Spritztour machen und Mädchen oder Jungen, die er mitgenommen hat, auf dem Rücksitz vögeln. Manche Wagen fährt er zu Schrott und lässt sie am Straßenrand stehen, andere bringt er wieder dorthin zurück, wo er sie gestohlen hat. Immer wieder wird er von der Polizei geschnappt und vorübergehend ins Arbeitslager oder Jugendgefängnis eingewiesen. Das kann ihn nicht zähmen. Sex ist für ihn