On the Road. Hans-Christian Kirsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Christian Kirsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783862870592
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und handelt sich dafür jeden Tag zwei warme Mahlzeiten ein.

      Neal ist ein Gauner, aber seine Gaunereien zeugen von kreativer Phantasie, sind so ungewöhnlich in einem Land, in dem auch noch die Halb- und Unterwelt eisern bemüht ist, gewissen Normen zu entsprechen, dass er immer wieder Erfolg damit haben wird, weil die Menschen von ihm beeindruckt sind.

      Mit fünfzehn betritt er in Baumwollhosen, Turnschuhen ohne Strümpfe und in einem khakifarbenen Armeehemd einen Billardsalon im Stadtzentrum von Denver, um den ersten einer langen Reihe eindrucksvoller Bauernfängertricks zu landen.

      Über mehr als zwei Wochen hat er in den Salon immer wieder hereingeschaut. Er hat sich dort umgesehen und den besten Spieler seines Alters ausgespäht. Der junge Bursche heißt Jim Holmes. In einer Ansprache, die einem Flibustier im Senat in Washington zur Ehre gereichen würde, macht er dem Billard-Virtuosen einen Vorschlag: Holmes soll ihn all seine Tricks lehren, er wird ihn dafür in Literatur und Philosophie unterrichten. ›Ich kann dir die Handlung aller Shakespeare-Komödien erzählen... oder möchtest du die Sonette hören... Nietzsche? Ich könnte dir erklären, was der verrückte Deutsche gedacht hat. Soll ich? Jetzt sag nur nicht: Das interessiert mich nicht. Es ist scharf, Mann. Irre scharf.‹ Am nächsten Tag spielt tausend Meilen von Denver entfernt ein berühmtes Football-Team. Neal verspricht, als Dreingabe Holmes und seine Freunde die gesamte Strecke hin und zurück zu chauffieren, wenn Holmes für das Benzin aufkommt.

      Heller Wahnsinn. Lodernde Lebendigkeit. Die schöne Gewalttätigkeit und Intensität eines Wildfeuers. Später wird Holmes sagen: ›Es ist schwierig, jemandem eine Vorstellung von Neal zu vermitteln! Man trifft nicht häufig solche Leute. Wann begegnet man schon jemandem, der sich so völlig aussetzt.‹ Jim Holmes erzählt später auch:

      ›Er steckte voller Energie, ein gutaussehender Mann mit einem starken Körper, ehe er ihn zerstörte. Er konnte nächtelang ohne Schlaf auskommen... was ihm gefiel, war, ständig etwas zu tun, in Bewegung zu sein. Er lebte immer voll und ganz in der Gegenwart, in diesem bestimmten Augenblick.‹5

      Holmes kommt ihm hinter seine Tricks: ›Gleichgültig, was der Betreffende tat, oder wer er war, Neal ging jeden auf die gleiche Art an. Zum Beispiel, wenn du ein junges Mädchen warst, das aufs College wollte, sagte er sofort: Nun, das ist ja großartig. Das ist das Beste, was dir passieren kann. Es war eine Technik. Er war nicht eigentlich ein Betrüger. Er respektierte das Individuum. Und es begann immer mit ganz trivialen Dingen. Wenn du einen Plattenspieler daheim hattest, sagte er: Würde es dir was ausmachen, mich mit zu dir heim zu nehmen. Ich besitze keinen Plattenspieler. Ich hatte mal einen vor einem Jahr. Ich würde so gern mal wieder Coleman Hawkins hören: Neal hatte eine Art zu reden, mit der er Menschen einfach um den Finger wickeln konnte. Es besaß eine natürliche Begabung, andere auf sich zu fixieren. Ziemlich einzigartig.‹6

      Auch Jim Holmes erliegt dieser Faszination. Er nimmt Neal mit heim, gibt ihm etwas zu essen, schenkt ihm einen braunen Tweedanzug und bringt ihm bei, wie man beim Kartenspiel betrügt. Außerdem findet Neal bei Holmes für die nächsten Jahre eine Bleibe.

      Aber es gibt nun schon mindestens zwei Neals, den selbstsicheren, dreisten, wild-lebendigen und den verstörten, von Alpträumen heimgesuchten.

      Zwischen seinen Auszeiten im Loch wieder einmal auf freiem Fuß, hat Neal einen fürchterlichen Traum. Er sieht sich darin nicht länger jung, sondern als ein Mann um die vierzig, in einem zerrissenen T-Shirt und Bierbauch, spärlichem Haar, aufgedunsenem Gesicht. Es fehlen ihm schon ein paar Zähne. Er betritt ein Pfandhaus, um dort eine Matratze für Schnapsgeld zu versetzen. Plötzlich wird er von seinem Vater verfolgt. Der trägt die übliche alte schwarze Baseballmütze und hat, ganz untypisch, eine eindrucksvolle Erektion. Neal sr. verlangt seinen Anteil aus dem Matratzengeschäft und verfolgt seinen Sohn, bis dieser mit Magenschmerzen aus seinem Traum erwacht.

      Neal nimmt sich vor, sein Leben zu ändern. Das Reformprogramm, das er aufstellt, sieht vor: Morgens um sieben aufstehen. Danach Putzmann im Zaza-Friseursalon. Ausfegen. Den verstopften Abfluss von Haaren reinigen. Um acht eine Tour Zeitung austragen. Um neun irgendwo ein Frühstück schnorren. ›Süße, dein Honig ist immer noch der beste weit und breit.‹ Mit einer Zuckerschnute: ›Welchen Honig meinst du, den auf dem Tisch oder den aus meinem Spalt?‹ Er leckt genüsslich die beiden Finger ab, mit denen er eben noch in ihr herum gegraben hat.

      ›Klar doch, der aus deinem Spalt... der beste Honig östlich der Rockies.‹

      Um zehn in der Public Library Schopenhauer lesen. Um elf Wagen waschen in der Rocky-Mountain-Garage. Zu Mittag mit dem Fahrrad zum Lunch zu Freunden. Dafür muss er den Abwasch erledigen. Dann wieder in die Bücherei. Ab vier in den Billardsalon (zwecks Entspannung), um elf noch einen Zeitungsstand nach ein paar Münzen filzen und an einem Straßenstand zwei Tacos mit Chilisauce erstehen. Geschlafen wird bei der mitleidigen Schwachsinnigen.

      Am Morgen klingelt es, draußen hat sich ein Mann aufgebaut ... in einem Anzug, wie ihn Manager aus den höheren Etagen tragen. Neal steht da - nackt. Er fragte mürrisch-skeptisch: ›Was wollen Sie denn hier?‹ Der Mann hebt einen Schlüsselbund: ›Tut mir leid. Die Wohnung gehört leider mir.‹

      Auch eine Art, sich kennenzulernen. Der Mann in dem dunklen Anzug ist ein Hochschullehrer, zur Aufbesserung seiner Bezüge auch als Wohnungsmakler tätig.

      Für diesen Justin B. Mannerly ist Neal Cassady ein exotischer Schmetterling, den er sich gern mal unter dem Vergrößerungsglas betrachten möchte, denn diese Spezies steht in keinem Bestimmungsbuch. Was ihn neugierig werden lässt ist eine merkwürdige Eigenart dieser Spezies: der Junge hat einen Bildungseifer, wie ihn Mannerly sich für manchen seiner Studenten wünschen würde. Und Neal merkt sich den Namen eines ehemaligen Schülers Mannerlys, der in New York an der Columbia University studiert. Der Name lautet Hal Chase. Bald ist der seltene Schmetterling wieder davon geflattert. In eine Reformschule, auf eine Straffarm. Das übliche Delikt: Autodiebstahl. Anfang 1945 kommt Neal wieder auf freien Fuß. Er betritt mit dem Mädchen, das ihn zu dieser Zeit aushält, Walgreen’s Drugstore in Denver. Er sieht eine süße, etwas töricht dreinblickende Blondine. Das Honigtopflächeln. Er sagt zu seiner Begleiterin: ›Dieses Mädchen werde ich heiraten.‹ Das Mädchen heißt LuAnne und ist fünfzehn, er ist jetzt neunzehn. Fünf Monate später sind sie tatsächlich verheiratet. LuAnne entzieht sich durch die Eheschließung den Nachstellungen ihres Stiefvaters. LuAnne und Neal laufen aus Denver davon. Sie trampen nach Nebraska, wo LuAnne eine Anstellung als Dienstmädchen bei einem blinden Rechtsanwalt findet und Neal einen Job als Tellerwäscher annimmt. Sie leben in einem winzigen Zimmer, für das sie im Monat zwölf Dollar Miete zahlen. In der Nacht findet Neal häufig keinen Schlaf. Dann zitiert er Shakespeare oder liest seiner jungen Frau Proust vor.

      ›Und nun, Schatz, möchte ich, dass du mir so genau wie möglich die Wirkung dieser Sätze auf deinen Gefühlszustand beschreibst...!‹

      Schließlich siedelt das Paar nach Sidney in Nebraska über, wo LuAnne für eine Tante arbeitet, aber sich bald von der alten Frau ausgenützt fühlt.

      Mitte 1946 beschließt Neal, er habe nun vom Mittelwesten entschieden genug gesehen. LuAnne stiehlt ihrer Tante hundert Dollar. Neal schließt den Wagen des Onkels kurz.

      Sie nehmen sich vor, auf der Ranch eines Freundes in Sterling, Colorado, Station zu machen. Aber dann erfasst Neal der Reiserausch. Sie fahren durch ein Unwetter. Er bindet sich ein Taschentuch über die Augen, um sich so gegen die sichtbehindernden Hagelschauer zu schützen, lehnt sich aus dem Seitenfenster. Nach einer Weile wendet er sich kurz um und schreit LuAnne zu: ›Ich seh jetzt klar. Wir fahren durch bis nach New York, Schatz! Hab die Adressen von Hal Chase und Ed White. Und, verstehst du: Sie werden uns mit so herrlich poetischen Menschen wie diesem Allen Ginsberg und Jack Kerouac bekannt machen. Yiiippee!‹

      2

      Die langen Schatten des Wahnsinns

      (1926-1944) Allen Ginsberg

      ... City of horrors,

      New York much like hell.

      Allen Ginsberg1

      ... geboren am 3. Juni 1926 im Beth Israel Hospital in Newark im Staate New Jersey. Der Vater, Louis Ginsberg, ist Sohn jüdischer Einwanderer