Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons. Jurgis Kuncinas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968560
Скачать книгу
jungen Ahornbaum fielen goldene Maikäfer auf Nabė und auf den schlafenden Kämpfer für Menschenrechte herab, und Zepas Išganytojas kam endlich aus dem Klohäuschen heraus und verkündete lautstark im Vorbeimarsch: »Die Tschetschenen haben gerade Gudermes eingenommen!«

      »Geh kacken!«, wollte ich ihm entgegnen, doch da fiel mir ein, dass er das schon getan hatte.

      Nabė schlug ihre Augen auf, drehte sich im Sack um und begann, mit ihren mandelförmigen Augen den Himmel zu betrachten, der rötlich gefärbt war wie eine halbreife Pflaume. Eine Fregatte nahm die Yacht von Maironis unter Beschuss, und die in der Ferne hallenden Schüsse weckten Ksaveras, das war dieser Menschenfreund und Kämpfer, und er begann, mit herzzerreißender, hoch erhobener Stimme von der Lage in den Gefängnissen der Republik zu erzählen: »Wie Ratten pfercht man die Häftlinge dort zusammen und wirft ihnen Abfall vor!« Dann murmelte er ganz unvermittelt, dass er morgen gar vorhabe, Tibet vom verbrecherischen chinesischen Joch zu befreien, und bat mich, ihm sieben Litas und eine Automatik zu borgen. Ich zuckte zusammen, als ich dieses Wort vernahm, aber er winkte ab und erzählte bereits irgendetwas über die Gesundheit eines Poeten, den er soeben besucht habe und der auf Schmerz spezialisiert sei, und über seinen Familienstand. Ich solle ihm helfen, am besten mit Tee und Tabak, was ich davon hielte? Ksaveras war wirklich ein universell begabter Mensch, und so legte er mir seine Ansichten über die Anhänger von Smetonas, von Landsbergis und von Erlickas dar, erläuterte seine unerschütterliche Auffassung über Leberzirrhose und die Rolle der »Sergeanten« im Krieg der Literatur, beklagte sich über die skandalöse Ignoranz der Akademie der Wissenschaften gegenüber seinen Werken, und am Ende rief er so laut »ich will Bier«, dass sogar Nabė zusammenzuckte.

      »Was ist denn das da?«, fragte Ksaveras erstaunt, als er den zappelnden und strampelnden Sack bemerkte.

      »Ach, nichts«, antwortete ich. »Ich habe mir da so ein merkwürdiges kleines Tierchen gezähmt. Und falls du es schon so genau wissen willst: Hier ist der Abend in Žvėrynas auf dem Vierwaldstätter See.«

      »Gut«, erwiderte Ksaveras. »Darum kümmere ich mich später.« Und er verlangte so heftig nach Bier, dass ich Pirštinė in den 24-Stunden-Laden schickte. Er kippte zwei Flaschen in einem Zug hinunter und schlief wieder ein, während sich Nabė aus dem Sack herauswand, unverschämte Forderungen erhob und Flüche gegen Türken, Berliner, Philosophen und überhaupt gegen all jene vom Stapel ließ, die sie jemals kennen gelernt hatte. Ich überlegte, ob ich sie zur Polizeiwache bringen und mitsamt dem Sack durchs Fenster werfen sollte, mitten in das Sonettkränzlein hinein, aber das Polizeikollektiv würde über einen solchen Streich wohl kaum in Begeisterungsstürme ausbrechen. Da bekam ich eine gute Idee: Ich würde sie als Paket verschicken! Und so versah ich den Sack notdürftig mit Aufklebern »Par Avion«, »Mit Luftpost«, »By Air Mail« und »Express«, um ihn tags darauf aufzugeben. Das Postamt war nicht weit, und ein bekannter Flieger würde schon am nächsten Morgen zum Vierwaldstätter See fliegen, hin zur ewigen Poesie. Ein Wasserflugzeug konnte auch auf den Wellen landen, wenn es welche gab, weich, wie eine Glucke auf ihren Eiern, und es würde auf dem Rückflug den weinenden Maironis mitbringen und vielleicht auch irgendeinen litauischen Kulturattaché in der Schweiz, der bewegte dort ohnehin nichts …

      Nabė, die das Gehör einer Wölfin hatte, musste meine Gedanken vernommen haben, denn sie begann zu winseln und versprach, gehorsam zu sein, jetzt, überall und immerdar, aber von solchen Versprechen hatte ich mir schon mehr als genug anhören müssen, und so ließ ich mit voller Lautstärke »Radio Free Europe« laufen.

      Saulius Tomas machte leicht näselnd und übertrieben gleichgültig irgendwelche Ausführungen über die Lage der Männerklos in den Flughäfen der Welt und erzählte, wie man auf den Fliesen der Pissoirs die Bilder von Fliegen in Lebensgröße habe aufdrucken lassen. Daraufhin sei allmählich der an solchen Orten übliche Uringeruch verschwunden, denn die Mehrzahl der Reisenden habe nicht mehr auf den Boden gepinkelt, sondern unbewusst versucht, den Urinstrahl auf das fette Insekt aus der Klasse der Zweiflügler zu richten. Wie man das in unserem Bretterhäuschen hätte bewerkstelligen sollen, überstieg meine Phantasie, aber da wurde Saulius Tomas von Mikas Drundzilas abgelöst, der in schrillem Falsett dasselbe vortrug wie bereits zuvor der Maurer Zepas Išganytojas: Die Tschetschenen hatten tatsächlich Gudermes eingenommen!

      Was soll’s, dachte ich, morgen müssen sie es ja doch wieder zurückgeben. Und Mikas sang kein Wort über »Human right«, dessen Vertreter zu meinen Füßen schnarchte, jetzt im Tenor, wie Noreika in jungen Tagen. Und Nabė gaffte in den Himmel und schwieg.

      Da kam aus den Lüften eine gewöhnliche Stadttaube mit einem Zettel im Schnabel herangeflogen. Eine Nachricht von Grand Trix, wie immer rätselhaft, sanft und doch deutlich. Und wie es meistens der Fall war, zitierte sie, diesmal meinen verehrten Gottfried Benn:

       Aber wisse:

       Ich lebe Tiertage. Ich bin eine Wasserstunde.

       Des Abends schläfert mein Lid wie Wald und Himmel.

       Meine Liebe weiß nur wenig Worte:

       Es ist so schön an deinem Blut.

      Welch wunderbare Worte, besonders dieses »es ist so schön an deinem Blut«! Triksė geizte sonst nämlich mit Komplimenten, und meistens sagte sie zu mir nur: »O. k., du liebst mich.« In diesem Zeitalter war sie nicht vulgär, aber wenn Sie wüssten, wie sie im Mittelalter war … Und was hatten wir da? Aha, ein Post scriptum: »Was ist denn da auf deinem Hof los? Das ist ja richtig unheimlich! Mein Vater hat sich beklagt, dass du irgendein Tier quälst?! Grand.« Zepas Išganytojas war der echte Vater von Grand Trix; direkt nach den Ereignissen in der Tschechoslowakei hatte er diesen zarten Schößling gepflanzt, ohne selbst zu wissen, dass sie in Wirklichkeit schon lange unter dem Dach der Welt lebte.

      Ksaveras versuchte, Caruso nachzuäffen und kurze Zeit später Luciano Pavarotti, aber sehr dilettantisch und lächerlich. Nabė schnaubte nur und hielt sich ihren breiten Mund mit der knochigen Faust zu, aber ihre Augen funkelten immer noch vor Zweifel und vor Hass auf mich. Maironis war im Laufe der Zeit von einem Prälat zu einem Filibuster geworden, begann zurückzuschießen, und die Fregatte entkam feige; Nabė wiederum pulte die »Express«- und die anderen Aufkleber von dem Postsack herunter und kreischte, dass es alle hätten hören können, aber nur die zu Botendiensten verdonnerte Taube lauschte erstaunt. Ich schob ihr einen Litas mit dem Bild der Kapelle von Palūšė in den Schnabel, klatschte mit den Worten »Flieg, du Gesprenkelte, kauf ein Milky Way!« in die Hände, und der Vogel erhob sich schwerfällig und flatterte in die Richtung vom Kiosk »Marlen«.

      Nabė kreischte immer noch. »Du Schuft! Ich fliege nirgendwohin, ich will nicht, so leicht wirst du mich nicht los, was hast du mir früher versprochen? Wie kannst du es wagen? Was für ein Recht hast du?« Und so ging es in einem fort weiter.

      Panta rhei, dachte ich, alles fließt. Bis zu dem verhängnisvollen Ausspruch »du Schuft« an jenem Dreikönigstag hatte mich Nabė immer nur mit »Herr Dozent« und »Sie« angesprochen, zumindest am Anfang, als ich sie in Ethik, Ästhetik und Etikette unterrichtete. Sie war eine aufmerksame, höfliche Zuhörerin, die sich alles rasch einprägte, was sie aufschrieb, aber sie war vor allem praktisch in dem Sinne veranlagt, dass ihr praktische Arbeiten besonders gut gelangen. Ich erklärte ihr die Widerstandsfähigkeit der Materie, gab ihr eine Einführung in die Gnoseologie und veranstaltete Seminare über Anatomie und Sexualtechniken. Sie kam regelmäßig, zumindest während des ersten Semesters, eine eifrige, pflichtbewusste Studentin, die stets ihre Hausaufgaben erledigte, selbstständig arbeitete und freiwillig weiterführende Literatur las. Auch in Bezug auf ihre Lebensweise war sie anspruchslos: Sie aß wenig, ging in abgetragenen Kleidungsstücken und schminkte sich zugegebenermaßen ungekonnt und geschmacklos, hielt sich aber an die Körperhygiene. Peinlich wurde es vor allem dann, wenn sie mehr als zwei Gläser trank, denn dann wurde sie unberechenbar und verfiel in Hoffnungslosigkeit und kindische Hysterie. Warum hatte ich bloß nicht schon früher daran gedacht, dass ich so einen wunderbaren Sack hatte?

      Einen Salon brauchte sie damals noch nicht, sie lebte bei einer Feldscherin, die gerade aus dem Schlachtfeld in den Reservedienst übergewechselt war, eine gottesfürchtige alte Frau, die sich schon längst nicht mehr