Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons. Jurgis Kuncinas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968560
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Munchs »Pubertät« und Vorbild für einen Abituraufsatz zu dem Thema »Die pubertierende Poetin auf dem Vier-Verhüterli-See«. Sie zerquetschte eine Mücke, die sich bereits voller Blut gesogen hatte, und auf ihren Fingern blieb ein kleines Bluttröpfchen zurück. In diesem Augenblick sprossen ihr pechschwarze Schamhaare, und sie pubertierte direkt vor meinen Augen und in Gegenwart meiner gesamten Nachbarschaft. Der Wasserwerkswächter, seine Frau, stoisch wie die heilige Katharina von Siena, der beinlose Schuster Stanislovas, die jungen Geschäftsleute Ruslan und Natalija, der Traumatologe Elegijus und die Schneiderin Pirštinė mit ihren schwarzen Knopfaugen, all die alteingesessenen Bewohner von Žvėrynas hielten ihre Fahrräder an und starrten sie mit großen Augen an.

      Nabė veränderte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Plötzlich quoll poetisch-silbisches Blut aus ihrem Mund, sie furzte holperige »Vers libres«, kicherte zufrieden und ähnelte immer mehr einer unglücklichen, aber würdigen Poetin. Sie schwoll im Takt mit der vergänglichen Welt an, schlug schleimige Triebe aus, und ihr Körper frohlockte und kümmerte sich weder um den tränenreichen Maironis, noch um die Österreicherin Ingeborg oder um Heinrich Heines »Lyrisches Intermezzo«. Nabė reifte weiter, ja, sie behauptete sogar, bereits herangereift zu sein, aber um was für einen Preis! Es schien, als würde sie gleich vor Stolz platzen, und die Vorahnung von Ruhm dröhnte und toste wie Magma durch ihre Eingeweide.

      In ihrer Kindheit, hatte sie mir einmal zaghaft erzählt, habe sie mit einer Freundin gespielt, sie seien am Strand. Sie waren allein, zogen sich aus, legten sich der Länge nach auf eine Matte, zogen Strohhüte und Sonnenbrillen an und bräunten sich unter der Lampe, während sie in zerfledderten Modezeitschriften herumblätterten.

      »Wie alt wart ihr?«, hatte ich gefragt.

      »Ich war zwölf, das Nachbarsmädchen dreizehn, und ihr Bruder kapierte noch gar nichts.«

      »Was für ein Bruder?«

      »Na, sie hatte ihren Bruder dabei, aber der war noch ein Baby.«

      »Was hat er nicht kapiert?«

      »Na … Wir haben miteinander gefummelt, aber nicht mehr, glaub das bloß nicht! Und wehe, du erzählst es weiter!«

      »Warum sollte ich? Lass gut sein, ihr habt die Erwachsenen nachgeäfft, ihr habt euch nach ihrem verdammten Leben gesehnt.«

      Ich wollte Nabė wieder in den Sack stopfen, aber es half nichts, sie passte schon nicht mehr hinein. Da kam mir ein guter Gedanke: Ich suchte nach ihrem Pfropfen, zog ihn hinaus, und die Luft entwich unter lautem Zischen aus Nabės Körper, und so hängte ich sie auf und schloss den Sack mit zwei Wäscheklammern. Ihre Überheblichkeit war leider geblieben, und bedauerlicherweise hatte sie bereits einen Punkt erreicht, an dem Ruhm und Niedertracht Hand in Hand gingen. Maironis weinte auf dem blauen Segelboot am Horizont, Ingeborg deklamierte laut »Undine geht«, und Nabė, die Quasibakkalaureatin, hing an der Metallstange wie ein Teppich, den ein nachlässiger Besitzer hatte hängen lassen.

      »Man sollte die Polizei benachrichtigen«, sagte die Pania versöhnlich und ging weg, um in ihrem Garten Unkraut zu jäten. Ich rief die Wache an und schilderte die Lage. Milošas war persönlich am Apparat, hörte mir ruhig zu und trompetete dann fröhlich: »Ach, du bist es! Ich habe deine Stimme erkannt! Das geschieht dir recht! Ist sie vorbestraft? Aha, aha. Ich kann dir nicht helfen, wir essen gerade zu Abend, und danach liest der Boss aus seinem ›Neuen Sonettkranz‹ vor, da herrscht Anwesenheitspflicht, und ich kann unmöglich fehlen … Hör zu, vergiss diese Automatik. Gut, ich halte dicht. Wir treffen uns irgendwann im ›Ambasada‹, tschüss!«

      In der Zwischenzeit hatte Nabė mit ihren scharfen Nägeln den mürben Stoff des Sacks aufgerissen, schob ihren dünnen Arm bis zum Ellbogen heraus und bald darauf auch den zweiten; sie hatte immer noch zwei. Sie klatschte mit ihren pergamentenen, perlmutternen Händen und begann zu schaukeln, ruhig und würdig, freiwillig und vorsätzlich. Jetzt begehrte ich sie.

      Die Nachbarn hatten genug von diesem Spektakel, obwohl es kostenlos war, und zerstreuten sich. Dafür torkelte der betrunkene Maurer der fünften Kategorie Zepas Išganytojas auf dem Weg zu unserem Plumpsklo an uns vorbei, machte kurz Halt und knöpfte hastig seine Arbeitshosen auf. Seine Knie zitterten bereits vor Ungeduld, aber trotzdem überhäufte er mich mit Vorwürfen: »Warum machst du das? Warum quälst du unschuldige Tiere?« Er hielt Nabė für eine Katze. »Sind sie keine Geschöpfe wie wir? Kitzle sie, und sie lachen. Erschrecke sie, und sie weinen!« Zepas Išganytojas stampfte mit dem Fuß auf, aber da ertönte es auch schon wie fernes Donnergrollen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, flüchtete wie von der Tarantel gestochen in das Klohäuschen, schloss sich rasch ein, und während er bereits über der offenen Kloake hockte, rief er: »Lass sofort die Katze frei, hörst du!« Er stampfte noch einmal auf eines der fauligen Bodenbretter, und wieder rollte der Donner, aber diesmal schon etwas matter.

      Was sollte ich tun? Ich musste an Rudyard Kiplings Werk »Der Schmetterling, der stampfte« denken, so viel Kunst und Literatur heute Abend, und mit dem gesamten Hof und dem Himmel als Publikum! Die Situation war unerfreulich, daran war nicht zu rütteln.

      »Bleiben Sie sitzen, wo Sie sind!«, rief ich auf die kalkverschmierte Tür zu, die von der Besatzungszeit her immer noch den russischen Buchstaben »Ž« für »Frauen« trug. Zepas Išganytojas – allein der Geheimdienst MGB kannte seinen echten Vor- und Nachnamen – furzte nur noch schwach und rief nicht mehr den Effekt von Kiplings Schmetterling hervor, bevor er tatsächlich vorübergehend verstummte.

      Eigentlich hatte ich durchaus vorgehabt, Nabė herunterzuholen, mochte sie in den glitschigen Hanf- und Wegerichpflanzen herumliegen! Aber dieser Teufelsbraten fühlte sich in dem Sack inzwischen ganz in seinem Element und hatte mitnichten vor herauszukriechen, schließlich hatte sie es dort warm und gemütlich. Also reckte und streckte sie sich, schlief ein und schnarchte sogar ein bisschen, eine Zikade des Nordens in einem Hof in Žvėrynas!

      Zepas Išganytojas hockte immer noch hinter der Tür mit dem russischen »Ž«, offenbar dachte er ernsthaft über etwas nach.

      Der letzte Zuschauer war meine Frau Terezija, die ihren üblichen Gogel-Mogel mixen und sich noch einmal die Haare waschen wollte. Sie wusch sich mindestens zweimal am Tag die Haare, das hatte ihr Krishna im Traum geraten, außerdem wurden angeblich auch die Gedanken durch das Shampoo aufgeschäumt und erhellt. Wenn Terezija die anständige Vertreterin der mitteleuropäischen Mentalität und Lebensart war, dann hätte man Nabė mit einem Menschen vergleichen können, der als Säugling von Wölfen aus einem mittelasiatischen Dorf geraubt und in einer Bärenhöhle gesäugt worden war und dem die Menschen erst später Sprechen und Essen mit dem Löffel beigebracht hatten. Jetzt schnarchte diese Wölfin wie eine Zikade, und ich blieb allein mit dem schlafenden Raubtier zurück. Die Yacht von Maironis näherte sich unendlich langsam, vielleicht hatte der Wind gedreht?

      Aus dem Klohäuschen ertönten noch ein paar heftige Fürze von Zepas Išganytojas, als wolle er daran erinnern, dass er noch am Leben sei, aber da zog schon ein kräftiger Mann meine Aufmerksamkeit auf sich, der auf den Hof getorkelt kam. Er trug einen dichten Bart und eine ärmellose Zeltstoffweste, und auf einer der vielen Taschen war ein Abzeichen mit der Aufschrift »Human right« aufgenäht, auf dem zwei kräftige Hände Ketten zerrissen. Der Menschenrechtsbeauftragte für ganz Žvėrynas und Užupis also, ein bekannter Künstler, Chirurg und Wohltäter. Er war ganz offensichtlich angetrunken und bestimmt nicht nur mit zornigen Worten gegen die Unterdrücker gewappnet, sondern auch mit einer anständigen Mauserpistole. Zum Glück schnarchte Nabė immer noch und schaukelte weiter in ihrem Sack, und der Human-Right-Aktivist interessierte sich kaum für sie. Er war versöhnlich aufgelegt, zog eine angebrochene Flasche Wein hervor und deklamierte ein wenig aus seinem neuesten Opus, bevor er sich aufs Gras warf und ebenfalls einschlief.

      Ich sehnte mich danach, allein zu sein, die Ereignisse und die Lage in Žvėrynas in Gedanken an mir vorbeiziehen zu lassen und vielleicht auch unter irgendeinem Vorwand Grand Trix aufzusuchen, die auf der anderen Straßenseite lebte, und mich nach den Seufzern von Leonardo Cohen zu erkundigen, aber Pustekuchen! Der Menschenrechtsaktivist schnarchte so laut, dass selbst noch in der Treniotos gatvė die Elstern aus ihren Nestern emporflatterten und Nabė im Schlaf zu sprechen begann.

      »Schatz«,