Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons. Jurgis Kuncinas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968560
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Sie schon einmal in Philadelphia?«, fragte Petručijo beeindruckt.

      »Nöö«, sagte ich gedehnt. »Aber ich kann mir ungefähr vorstellen, wie man dort lebt. Auf jeden Fall gibt es eine Kanalisation.«

      »Ha!« Petručijo sprang auf. »In Rūda kommt das Wasser auch aus dem Hahn, aber hier ist das etwas Besonderes!«

      Als ob das jetzt so wichtig wäre! Vielmehr zerbrach ich mir den Kopf darüber, was ich mir jetzt an die Füße ziehen sollte, denn ich hatte keine Lust, barfuß zurückzukehren. Bul Bul legte sich mit dem glücklichen Petručijo auf das Sofa im selben Zimmer, und die beiden kicherten und streichelten sich, während Lelešius und ich langweilige Gespräche über vergangene Zeiten und Baltistan führten. Dann sahen wir den neuesten Verbrechensbericht im Fernsehen an und kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass unser Vaterland immer weiter verrohe, aber währenddessen schweiften meine Gedanken immer wieder in Richtung Schuhwerk ab, und so erinnerte ich schließlich Lelešius daran, dass er seinem Gelübde entronnen sei: »Sie haben doch versprochen, mir Schuhe zu leihen. Ich gebe sie im Dekanat zurück.«

      »Na!« Lelešius ärgerte sich über sich selbst. »Wie konnte ich das bloß vergessen? Aber das erledigen wir morgen, jetzt ist Schlafenszeit. Hau dich hin, neben Marija.«

      »Nein danke, Lelešius. Ich fahre.«

      Lelešius fand für mich doch noch ein Paar ganz erträglicher Stiefel und zwei fast saubere Fußlappen, hängte mir seinen Bauernrock um und begleitete mich durch den Garten. Dann füllte er seine Mütze ganz mit Pflaumen, gab sie mir und legte noch eine Halbliterflasche von dem in Suvalkija hoch geschätzten einheimischen Schnaps »Tėviškės dumas« hinein. »Folgen Sie immer der Landstraße, dann kommen Sie zur Fernstraße. Gute Reise!«

      Und dabei hätte ich jetzt in Fräulein Lelešiūtės Armen dahinschmelzen können, dachte ich, während ich durch den Staub schlurfte. Ich hätte in frühreife Äpfel beißen, das Leben genießen, malen, schreiben und hemmungslos faulenzen können, aber nein, stattdessen lief ich einsam und allein durch die Nacht, wenn auch nicht mehr barfuß. Aber ich schaffte es immer noch nicht, traurig zu werden, denn neben mir hielt ein italienischer oder schwedischer Superlastwagen. Die Fahrerkabine war hell und warm wie die Küche von Lelešius, und der Fahrer war jung und schön und hatte weiße Zähne. Neben ihm saß ein Mädchen, das nur Shorts anhatte, und sie erzählte mir, dass sie auf der Route Berlin – Kaliningrad – Minsk und noch weiter unterwegs seien. Es fiel mir schwer, die Augen von ihr abzuwenden: Ihre nackten Brüste waren fest wie Kohlköpfe, und auf dem Unterarm hatte sie eine Tätowierung, russisch, aber in gotischer Schrift: »Mama, hol mich zurück in deinen Bauch!«

      »Pass auf, dass dir nicht die Augen aus dem Kopf fallen«, sagte Gvido, der Fahrer, ruhig, »sonst reiße ich sie dir raus.« Dann lachte er schallend: »Das ist überhaupt nicht lustig, denn dann siehst du nicht, wohin du gehst, fällst von der Brücke und zertrümmerst dir den Schädel, was meinst du?«

      »Solche Dinger habe ich noch nie gesehen«, sagte ich und schlug die Augen nieder.

      »Zwanzig Dollar, und du kannst sie haben «, lachte Gvido.

      Ich stellte mich schlafend und fühlte mich blendend: Die Schuhe drückten nicht, der Rock war warm, und als wir eine Pinkelpause einlegten, gab ich eine Runde »Tėviškės dūmas« aus. Nataša nahm einen langen Zug direkt aus der Flasche, bis Gvido sie ihr wegnahm und ihr einen Schlag versetzte: »Du Nutte!«

      Gvido und Nataša waren ein schönes Paar, sie fuhren zwischen Syrakus und den Rentieren hin und her und verdienten gut. Gvido nahm noch einen Schluck, holte unter dem Sitz eine ganz kurze, fast spielzeugartige Automatik hervor und fragte: »Soll ich dich abknallen?« Und damit ich um Himmels willen nicht merkte, dass er sich einen Scherz erlaubte, feuerte er eine kurze Serie in die Sonnenblumen ab, die vor einem Gehöft schwankten. Peng, peng, peng! Die schweren Köpfe neigten sich und fielen zu Boden. »Ganz wie Menschen!«, rief Gvido begeistert.

      »Wie Menschen!«, stimmte die halbnackte Nataša fröhlich zu. Sie waren fast noch Kinder. Und sie lebten so grimmig. Jeden Tag Gefahren, der Weg und die Ungewissheit, was sie erwarten würde …

      Als wir uns Vilnius näherten, zog sich Nataša an, das hieß, sie warf sich irgendein Oberteil über, das nicht einmal bis zum Bauchnabel reichte, und Gvido wurde ernst. Er verzog seine dunklen Augenbrauen und befahl mir: »Nimm das Spielzeug da an dich, bis wir wieder zurückkommen. Bei unserer Rückkehr hole ich sie mir, dann bekommst du zwanzig Mäuse. Alles klar?«

      Zuerst weigerte ich mich. »Was soll ich damit? Ich habe keine Feinde. Das ist nicht nötig.«

      »Das ist sehr wohl nötig«, erklärte Gvido, »und zwar für mich.« Und er warf mir einen solchen Blick zu, dass ich sofort zustimmte.

      An der Pylimo gatvė stieß er mich aus der Fahrerkabine, gegenüber von der Pizzeria »Roma«. Eine ungemütliche Stelle, weiß Gott, aber unter dem Rock spürte ich die kühle Automatik. Sie war ruhig, doch fühlte ich mein Herz höchst unruhig unter dem Rock pochen.

      Damit mir der Weg durch die nächtliche Stadt nach Žvėrynas nicht zu lang wurde, beschäftigte ich mich mit sinnlosen Übungen aus der angewandten Linguistik. Ja, das war ein Bauernrock und kein Bratenrock. Und erst recht kein Faltenrock, Über- oder Unterrock. Und er hatte nichts mit einem Rock von Elvis oder einem Whiskey on the Rocks zu tun. Wer hatte noch etwas über den Rock gesagt? Ach ja, Aistis:

       Ausdauernd im Herzen, unter dem grauen Rock!

       So hast du einst Europa gegen die Mongolen

       verteidigt, mit nackter Brust!

      Vielleicht würde Nataša mit ihrem Busen Europa verteidigen? Eher unwahrscheinlich.

      Unweit von der Reformierten Kirche sah ich zwei ziemlich merkwürdige Männer, na, vielleicht waren sie selbst gar nicht so merkwürdig, aber ihre Tätigkeit war es. Der erste ging etwa zehn Schritte voraus und leimte über eine Strecke von rund zwanzig Metern Plakate und Porträts von Politikern der konservativen Partei an die Hauswände, und der andere riss die Früchte seiner Arbeit wieder herunter und klebte stattdessen Propagandawerke der Sozialisten hin. Beide arbeiteten schweigend, sahen sich nicht um und ließen sich durch nichts ablenken. Bei der Einmündung der Jogailos gatvė wandten sie sich zum Cvirkos skveras, setzten sich hin und begannen zu vespern. Es war vier Uhr morgens und noch dunkel.

      Ich gesellte mich zu ihnen, zündete mir eine Zigarette an, bewirtete die beiden vorgeblichen Gegner mit hausgebranntem Schnaps und meinte: »Ich finde ganz schön merkwürdig, was Sie da tun! Der eine klebt Plakate an, der andere reißt sie gleich wieder herunter. Geht das in einen gesunden Menschenverstand?«

      »Doch, doch«, antwortete der Jüngere von den beiden, der die Plakate von den Linken geklebt hatte. »Sehen Sie, mein Herr, morgen Nacht machen wir es genau andersherum: Dann gehe ich voran, und Juozas reißt die Plakate hinunter und klebt die von den Konservativen an. Wir werden anständig bezahlt, und danke für den Schnaps, er ist gut.«

      »Eine merkwürdige Arbeit«, stimmte der magere Ältere rauchend zu. »Aber der Wahlkampf muss am Laufen gehalten werden, und es ist keine gefährliche Tätigkeit. Ich habe wirklich noch nie so einen guten Tropfen getrunken«, lobte auch er das Geschenk von Lelešius. »Er brennt auf der Zunge!«

      »In die Politik mischen wir uns nicht ein«, versicherten mir die seltsamen Arbeiter zum Abschied einstimmig und verschwanden hinter dem Denkmal von Petras Cvirka.

      Aber die Nacht hielt noch mehr unerfreuliche Überraschungen für mich bereit: Direkt an der Vykinto skersgatvis versperrten mir fünf junge Rowdys den Weg. Sie hatten eine Kette quer über den ganzen Gehsteig gebildet, und auch sie hatten mit Politik herzlich wenig im Sinn, aber ihre Absichten lagen ganz offensichtlich auf einem völlig anderen Gebiet. Ich feuerte eine Salve über ihren Köpfen ab, die Kugeln durchlöcherten die leicht gelblichen Lindenblätter, und die Killer stoben auseinander wie junge Spatzen. Das stimmt wirklich, Nabė, frag irgendwann Kapitän Milošas. Nein, er ist weder mit Oskaras Milašus noch mit Česlovas Milošas verwandt, sondern er ist ein echter Litauer aus Vabalninkas oder vielleicht auch aus Kvėdarna, ich