Nach der Pause hatte sie ihren Auftritt.
Was du gesagt hast, Rudi, klingt vernünftig, dass wir als künftige Bibliothekare auch kaum Genossen sein werden, so doch wenigstens – ich suche das Wort, das du verwendet hast – Gesinnungsfreunde, danke, hört sich gut an, zum Beispiel Jugendfreunde innerhalb eines Kollektivs – (Pockrandt notierte das) – Kollektivfreunde, Busenfreunde, nein, Busenfreunde ziehe ich zurück, das geht zu weit.
Rudi sprang auf. Die Auseinandersetzung zum Wandzeitungsartikel unserer zukünftigen Gesinnungsfreundinnen sehe ich durchaus positiv, weil jemand »gewagt« hat, einen Gegenartikel zu schreiben, mir kommt der Artikel aber auch vor wie der Aufschrei des getroffenen Wildes. Solange Artikel ohne offene Stellungnahme erscheinen und ohne die Namen der beteiligten Gesinnungsgenossen, sind sie keine Kritik, sondern eine Verteidigung.
Verteidigung der von ihnen selbst erkannten Schwächen, warf Pockrandt dazwischen.
Irina blieb sitzen, als sie sagte: Getroffnes Wild finde ich schlecht, Rudi. Willst du damit sagen, dass wir gejagt werden? Der Knall, ich gebs zu, hat uns erschreckt. Trotzdem. Ihr habt daneben geschossen.
Das ließ Rudi nicht auf sich sitzen. Ich bin überzeugt, dass alle, die nicht zum Kollektiv finden oder aus dem Kollektiv ausbrechen, von der Kraft des Kollektivs auf den richtigen Weg gebracht werden. Wer Zweifel an meinen Worten hegt, dem empfehle ich Makarenko: Der Weg ins Leben.
Gertraude, jetzt du.
Was antagonistisch heißt, weiß ich nicht, aber ich ahne, bestimmt nichts Gutes. Harry half aus. Unversöhnlich.
Also feindlich. Sie redete schnell. Das »Feindlich« für meine Person weise ich zurück. Ich denke sogar, dass ich für alle spreche, die Klaus Pockrandt kollektivfeindlich einsortiert hat: Die Falschen ins Kröpfchen. Der Artikel sät Unfrieden. Was du sagst, Klaus, bleibt unbewiesen, du kannst mir damit gestohlen bleiben und solltest dir eine Entschuldigung ausdenken.
Sie hatte ihn abgefertigt.
Pockrandt reagierte mit Selbstkritik. Festgestellt sei zuerst, dass mein Artikel die Diskussion eröffnet hat, wenn er auch nicht in allem sachlich und richtig war. Er danke den Jungendfreundinnen Neumann und Halmich für ihre Kritik, weil sie erstmals und offen ihre Meinung zum Ausdruck brachten, die nicht in allem richtig sei, und sah Harry, als er das sagte, herausfordernd an. Es sei selbstverständlich nicht jedem gegegeben, ein brillanter Rhetoriker zu sein. Er fasste zusammen: Es gibt eben drei Lager in unserer Klasse, und wenn Regina Halmich in ihr »Gesinnungsgenossen« erkannt hat, bekenne er sich dazu. Fest steht, dass diese Gruppe die politisch fortschrittlichste und aktivste ist. Als kollektivfeindlich habe ich die Gruppierung Halmich bezeichnet, weil sie sich von den politisch fortschrittlichsten Freunden abkapselt und gegen die Beschlüsse der Gruppenleitung insgeheim opponierte.
Das beweise mir mal, rief sie.
Harry sah auf die Uhr.
Es gibt Jugendfreunde, die noch nie durch besondere politische Aktivität ihre politische Überzeugung demonstriert haben.
Das bringst du in Russisch zum Ausdruck! rief Irina.
Klaus brachte kein Wort heraus, was Harry genoss, bis Pockrandt die Sprache wiederfand. Er sei überzeugt, dass die »Gesinnungsgenossen« und der andere Teil der Gruppe nach harter politischer Diskussion ein gutes Kollektiv werden. Trotz allem. Danke.
Jetzt weiß ich, was du mit uns vor hast, sagte Irina, ich bedanke mich auch.
Da kniff er die Augen zusammen. Weil niemand was sagte, knöpfte Harry die Federmappe zu. Walter meldete sich. Musste auch was sagen. Weil der Wettbewerb alle angeht, er las vor: »Die Mithilfe am freiwilligen Aufbau unserer vom Krieg zerstörten Heimat und die Mithilfe am Aufbau des Sozialismus ist für jeden FDJler nicht nur Ehrensache, sondern heilige Verpflichtung.«
Eins von Walters großen Worten. Dem fleißigsten und besten Freund winke bei der Weihnachtsfeier eine Buchprämie.
Nach der Versammlung wurde gefragt, ob Verpflichtung nicht genüge. Ist mir rausgerutscht.
Du wirst an das Dritte Gebot gedacht haben, unbewusst, grinste jemand.
Das Thema wechselte.
Die Tage wären zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen, hätte Pockrandt nicht wieder für Aufregung gesorgt und neue Tinte an die Wandzeitung gespritzt. »Ist es nicht denkbar, daß einige Freunde davon wußten, daß die Schülerinnen Otto und Knetsch bereits seit drei Wochen unbezahltes Essen bezogen? Nun, diese Möglichkeit sei außer acht gelassen, obgleich es sehr aufschlußreich und interessant sein würde, diese Linie weiter zu verfolgen.«
Inka unter Tränen: Was Klaus behauptet, stimmt nicht, ich habe Nachschlag geholt ohne alles.
Mit dir diskutiere ich nicht, fertigte Pockrandt sie ab.
Du weißt, dass du die gewählte Leitung ignorierst, Klaus, hielt Harry ihm vor.
Ich musste handeln, weil du nicht handelst. Da schoss Harry das Blut ins Gesicht. Verstehe.
Ich bitte, dass nach dem Unterricht alle dableiben.
An der Wandzeitung eine Berichtigung: »Ich habe in 4 Wochen 8 mal den Nachschlag geholt, ohne Kompott, Semmeln, ohne Fleisch. Inka Knetsch.«
Ich kann nicht mehr hingucken ans Brett, wenn ich zum Unterricht komme, beklagte sich Gertraude. Viel Hunger könne ein Grund sein, meinte einer von den Jungs.
Pockrandt schrieb gleich im Stehen. »Es ist eine Frechheit von Seiten der Schülerin Knetsch, sich mit irgendeiner Summe von gestohlenem Essen zu ›entschuldigen‹. Klaus.«
»Nachsatz: In meinem Verständnis jedenfalls ist es unmöglich, daß überhaupt einer der Freunde versuchen kann, diesen Betrug und Diebstahl am Kollektiv irgendwie ›menschlich‹ zu motivieren.«
Die dünne Inka, dem Weinen nahe, wollte reden, kam nicht dazu.
Klaus Pockrandt schlug vor, heute noch den Beschluss zu fassen, beiden Schülerinnen eine Verwarnung auszusprechen, ihnen für die Dauer eines halben Jahres das Recht abzusprechen, irgendeine Funktion auszuüben, und sie zu veranlassen, dass sie das bezogene Essen nachträglich bezahlen. Die Tat selbst und das arrogante und freche Verhalten dieser Schülerinnen zu ihrem unkameradschaftlichen Verhalten fordern diese Bestrafung.
Wenn die Frauen in der Essenausgabe einen Nachschlag geben, ist das ihre Entscheidung, und dir, Klaus, wenn du darum bittest, werden sie auch einen Nachschlag geben oder dich abweisen, weil du wohlgenährt bist, schrie Irina, schickt den mal weg, werden sie sagen.
Hans Joachim sagte dazu nur: Der ist krank – und vielleicht traf es das auch.
Ausgedehnte Diskussionen, erklärte Gisela Otto, die auch Nachschlag genommen hatte, sind bei dieser »Verfehlung« nicht erforderlich, ich habe weder betrogen noch gestohlen, ich gehe. Gertraude schloss sich an. Dann gehen wir auch, sagte die Mehrheit. Die Versammlung löste sich auf. Harry verließ den Raum.
Du hättest dich mit den Genossen beraten sollen, nuschelte Böckler, meinte er Pockrandt?
Friedhelm wartete. Es gibt zwei Verlierer, Hannes. Siehst du das auch so? Pockrandt ist angeschlagen.
Harry auch.
Einige Tage verstrichen, und Harry setzte eine außerordentliche Gruppenversammlung an. Dazu erschien er im Anzug, in diesem dunklen Anzug, den er fürs Theater hatte. Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: Wir haben es soweit gebracht, dass unsere Klasse, die sich aus Kindern von Werktätigen zusammensetzt, als abschreckendes Beispiel dient. Man nennt im Dozentenzimmer keine Namen. Sind eben Arbeiterkinder, was erwartet ihr von denen?
Es gibt Lehrer, die gern kommen.
Weiß ich, Regina.
Wir vergessen die Tradition unserer Väter, die weiterzuführen wir da sind. Aber so wie jetzt können wir sie nicht weiterführen und