Leipzig. Hartmut Zwahr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hartmut Zwahr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295680
Скачать книгу
stocherte im Mund, das Streichholz brach ab. Gulasch, sagte er. Vor den Fensterscheiben eine kalte Sonne.

      Harry stellte im Unterricht unerwartete Fragen, las viel, von Thomas Mann alles, was er kriegen konnte.

      Schwebt in ziemlicher Höhe, meinte Irina.

      Inzwischen trieb Harry im Strom eines über die Ufer tretenden Monologs dahin. Es ist keine Schande, sondern eine Ehre, Arbeiter zu sein, bewusster Arbeiter. Wir müssen diesem Namen Ehre gebühren. Wie könnten wir es besser tun als durch den Beweis, hier zu lernen, was bisher nur bürgerliche oder begüterte Schichten konnten. Wir können es und noch besser.

      Walter Döring sah auf die Uhr.

      Die Zeit gebt ihr mir noch für das, was ich vorbereitet habe.

      Margot Roebke, das dünnfingrige blasse Mädchen, sagte, ja, aber … Evelyne nickte.

      Doch wie sieht es in unserer Klasse aus? Bla, bla, würde Irina sagen. Da drehte sich Harry, wie von einem Strudel erfasst, schon im Kreise. Und wir? Katastrophal.

      Mit einem Mal erfasste Johannes, wie ernst es Harry Matter mit dem Bibliothekarsberuf war, mit Bildung. Was für andere bloß Hingehn, Ableisten, Schule war, ihm reichte das nicht.

      Eine letzte Schubkarre Schlamm aus dem Teich herauszukratzen zum Düngen, um zu überleben, daran musste Johannes denken, wer sich geschunden hatte, bis das Herz kaputt war, wusste er.

      Wir verschleudern doch nur Geld unseres Staates, der Arbeiter, wenn wir uns weiter so verhalten wie bisher. Die Schule, ihre Einrichtungen sind Volkseigentum. Handelt man so mit Dingen, die allen gehören? Warum zerstören, wenn bei etwas Vernunft auch ohne Schäden gelernt werden kann? Viele benehmen sich, als wären sie gezwungen, diese Schule zu besuchen. Wer so denkt, braucht nicht länger unser Mitschüler zu sein. Die Arbeiter bezahlen solche Menschen nicht. Wer den Unterricht nur erträgt, kann künftig diese Schule meiden. Wer denkt, vorläufig gut untergekommen zu sein und das Vertrauen von Millionen Werktätigen missbraucht, muss unsere Schule verlassen. Gerade von uns hat man anderes erwartet als Ignorieren des Unterrichtsstoffes, Nichtvorbereitetsein, keine Fragen haben, Privatgespräche führen, den Russischunterricht schwänzen.

      Was war mit Harry passiert? Mit uns? Wann mag ihm zu Bewusstsein gekommen sein, was es bedeutete, sich Liederlichkeit anzupassen und ihr zu unterwerfen?

      Wenn von irgendwo Maßnahmen getroffen werden, übergeht man die, wir wundern uns, dass härtere folgen. Freunde, so geht das nicht, so etwas darf man nicht übergehen. Dass es geschieht, zeigt, dass etwas faul bei uns ist, was ausgerottet werden muss.

      Was Harry beunruhigte, lag tiefer. Er hatte einen Defekt entdeckt, den andere nicht bemerkten, als läge da eine Bombe, die jeden Moment in die Luft gehen konnte.

      Die Ursachen liegen bei uns. Er wendete wieder ein Blatt um. Es gibt Freunde, die alles ignorieren, die jede geäußerte bessere Einsicht verspotten, missachten, dagegen handeln. Sind wir so weit gekommen, dass nicht einmal die persönliche Meinung geachtet wird? Das Bessere muss gewählt werden. Wer dagegen handelt, stellt sich außerhalb der Gruppe und muss bestraft werden oder soll seiner eigenen Wege gehen.

      Im Klubraum, am Flügel, wo Friedhelm nach Schulschluss am liebsten saß, griff der diesen Punkt auf: Harry meint Pockrandt. Pockrandt fühlt sich sicher, weil die Mehrheit nicht sagt, was sie denkt, weil sie sich fürchtet. Das hat Gründe. Harry hat das erkannt. Gehen wir mal davon aus, dass ers erkannt hat, er könnte den Defekt erkannt haben, die Gründe will ich gar nicht untersuchen, wenn er sagt: Die große Meinung herrscht, dass gesellschaftliche Betätigung etwas Zusätzliches ist, eine Bürde, die man abwerfen muss. Das ängstigt Harry.

      Evelyne Fehrmann putzt keine Ziegel, war für Wandzeitung verantwortlich, aber Wandzeitungsartikel wollte niemand schreiben. Sie legte fest, dass geschrieben wird, wer schreibt, Hannes über den Waffenstillstand in Korea, und wann. Das Politbüro zum Beispiel bemängelte die ungenügende Propagierung der fortschrittlichen Literatur beim Kampf des deutschen Volkes für Frieden, Demokratie und Sozialismus. Dazu trieb sie einen Artikel ein. Über die Propagierung des neuen Buches wollte niemand schreiben, deshalb, liebe Freunde, bitte ich nochmals, die Richtlinien für unsere spätere Arbeit als Kulturfunktionäre und Bibliothekare durchzustudieren (rot unterstrichen) und für die Wandzeitung zu schreiben.

      Die Initiative fehlt. Harry hatte das erkannt. Er sah den Aufwand, den Verdruss, die Verluste an Kraft und Zeit. Ohne endloses Überzeugen und Drängen bewegte sich nichts. Was als Mittel übrig bleibt, ist Zwang, ganzer Zwang, halber. Wenn es nicht gelingt, das zu ändern, wird Harry gedacht haben, sind wir verloren. Harry war hellhörig geworden gegenüber den üblichen Entschuldigungen, diesen schlangengleichen Wendungen und dazwischengewebten Lügen, bestimmt auch den eigenen.

      Mit grüner Tinte hatte Friedhelm Eichler die Oktoberrevolution gewürdigt, die den Werktätigen den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft öffnete, und Evelyne den Artikel ans blaue Brett geheftet.

      Wissenschaft und Gesellschaft sind gleichwertige Bestandteile des Unterrichts. Als Harry das sagte, lachte Gertraude laut.

      Wer das nicht anerkennt, muss die Konsequenz ziehen. Wieder drehte sich Harry im Kreis.

      Vielleicht sollte ich nicht weiter reden, sagte er plötzlich, das beschriebne Papier vor sich. Ich hab mir zuviel vorgenommen. Ein großer Teil von euch will mein Tun nicht anerkennen. Ich wende mich nicht aus Sucht nach Vorherrschaft an oder gewissermaßen gegen euch, ich habe das nie getan, nicht in der Vergangenheit und nicht heute. Er zögerte und sagte dann mit fast tonloser Stimme: In einigen Tagen verlasse ich diese Schule.

      Jemand atmete tief. Das sagst du uns jetzt?!

      Genossen wissen nicht alles, verriet Gertraudes Blick.

      Schafft das Kollektiv! – forderst du und verlässt uns, sagte Rudi Gernitz, die Schule verlassen, geht zu weit.

      Friedhelm erinnerte sich, dass Rudi mal sagte: Unsre Aufgabe ist, den Fortschritt durchzusetzen, da stand er im Mantel vor Harry. Musst die Machtfrage stellen, und Rudi Gernitz hatte mit zwei Fingern den Mantelknopf von Matter angefasst.

      Die Abiturklassen spielen Theater, reden über Inszenierungen, schwelgen in Gedichten. Bei uns gibt’s aber auch Schüler, denen genügt die Zusammenfassung. Die wollen die Maggiwürze, wie Friedhelm es nannte.

      Mir nicht, hatte Gertraude gesagt. Johannes imponierte das.

      Weil Harry nicht aufstand, blieben alle sitzen. Er sagte nicht, ich verzichte auf eure Gemeinschaft, hatte nur ruhig gesagt, ich verlasse die Schule.

      Vielleicht greifen wieder einige die Person an, ich habe auch Fehler gemacht, große oder kleine, das sagte er noch, aber noch nie haben mein ehrlicher Wille, meine Disziplin und Einsatzbereitschaft gefehlt. Bei vielen unter uns vermisse ich das, was kein persönlicher Angriff sein soll, bloß die Feststellung einer Tatsache. Wir müssen nicht diskutieren, das wäre Unfug. Handelt so, dass diese Worte der Enttäuschung in Zukunft verfallen. Redet nicht vom Kollektiv, schafft es, fügt euch der besseren Einsicht. Nicht der Mensch handelt frei, der immer anderer Meinung ist, sondern derjenige, der sich der Notwendigkeit fügt.

      Da die Gruppe weiter sitzen blieb, blieb er auch sitzen, eher erleichtert, dass er, die Brille in der Hand, die Gruppe nicht deutlich sah.

      Mir war es unmöglich, weiter zuzusehn. Ich muss nun keine Bemerkungen mehr fürchten. Es wird sich zeigen, wer ehrlich ist mit sich selbst. Der neu zu wählenden Leitung, der ich nicht mehr angehören werde, gebe ich den Rat, energisch gegen Störenfriede vorzugehen, Störungen im Keim zu ersticken. Die neue Leitung wird es nicht leicht haben, sondern schwerer. Vor ihr steht der Erfolg, den wir nicht hatten. Ihr werdet Erfolg haben, wenn ihr konsequent seid. Ich spreche hiermit jeden Freund von uns an. Jeder aufrechte FDJler und besonders die Genossen unserer Partei müssen sich für die Durchführung des Kampfes einsetzen; das muss man von ihnen verlangen.

      Beweist eure Bereitschaft in den Tagen, die bis Weihnachten noch bleiben, dann wird das Weihnachtsfest doppelt so schön ausfallen. Ich war offen und ehrlich, seid ihr es auch. Noch ist es nicht zu spät.

      Das war am 9.