Stundenklingeln. Heise gab Chemie. Engländer hatten sein Flugzeug abgeschossen. Beim Gehen knarrten die Prothesen. Deswegen blieb er am Pult stehn, groß war er, kräftig. Auf dem umgedrehten Stuhl, den sie ihm hinstellten, auf der Lehne, legte er das Gesäß ab.
Je weiter sie sich als Kollektiv, das sie nicht waren, von jenem Juni entfernten, sie kamen davon nicht los. Der Tag ging mit. Der Gruppenname erinnerte daran, die Hausordnung, der Ausweis, der trockne Knall am Schießstand, das Türschild, auf dem Zeugnis der Name, der Briefkopf, das Türschild, seit sich die Schule nach Erich Weinert benannt hatte. Den Namen Loest hatten sie abgelegt.
An Brigittas Stelle war Harry getreten. Im Kopf hatten die Panzer gestanden, in jedem Kopf, und jetzt war Hannes der Sekretär, den sie wählten.
Harry hatte an das Gute appelliert. Es hatte sich ihm nicht gezeigt. Wenigstens nicht ausreichend, vielleicht gar nicht. Die schweren Panzer hatten an der Elsterbrücke gestanden. Pockrandt zermürbte Harry Matter, als er die Klasse in feindliche Gruppierungen zerlegte. Eine Gemeinschaft von Arbeiterkindern, die zum Bewusstsein ihrer selbst gelangten, hatte Harry nicht gefunden. In der Arbeitszeit durfte nicht mehr Tischtennis gespielt werden. Das hatte die Verwaltungsleitung durchgesetzt. Ekelhaft diese Schmetterbälle.
Wolfgang Böckler hüpfte zur Wandzeitung und las, was Johannes mitzuteilen hatte: »Muß man immer schwatzen? Die Leitung möchte hiermit nochmals den Jugendfreund Klaus Pockrandt auffordern, mittwochs den Russisch-Unterricht für Anfänger zu besuchen. Dieser Russisch-Unterricht ist regulärer Unterricht und nicht etwa außerhalb unserer Schulzeit. Es geht nicht, daß man direkt Unterrichtsstunden schwänzt, nur weil demjenigen der Dozent oder etwas anderes nicht behagt. Wenn Klaus zum nächsten Unterrichtstag wieder nicht erscheint (Januar 54) dann werden wir die Schulleitung davon in Kenntnis setzen. Johannes, Sekretär, 17. 12. 1953.«
Kannst in Russisch nicht einfach zu Hause bleiben. So geit dat nöch. Johannes kam dazu, Rudi wechselte das Thema. Die Genossen waren zerstritten. »Gleiches trifft auf den obligatorischen Sportunterricht zu, zu dem Klaus z. B. gestern wieder nicht erschien. Ich erwarte eine Stellungnahme. Hans Joachim.«
Klaus erkrankte. Im Januar räumte er den Fehler ein. »Fehlen, ob unentschuldigt oder ›entschuldigt‹, ist auf jeden Fall falsch. In dieser Frage bin ich einer Meinung mit der Gruppenleitung. Doch da wir uns einmal dieser Frage zugewandt haben, sollte man auch die fadenscheinigen konstruierten Entschuldigungen einiger Freunde, die dem Russischunterricht auch fernbleiben, vonseiten der Leitung überprüfen. Der Satz, daß ich selbstkritisch meinen Fehler einsehe, würde hier wohl etwas abgeschmackt wirken. Klaus P.«
Sie bezogen die Schulbaracke, saßen nicht mehr zwischen schiefen Wänden. Alle waren erwählt, den neuen Menschen hervorzubringen, nicht bloß die Arbeiterkinder.
Sie redeten über Fasching. Du gehst als Korsar, schlug Friedhelm vor, das steht dir. Sie möchte die Jugend mal beim Fasching sehn, schrieb Mutter und berichtete, dass der Schneepflug nicht kam und von Jürgens weitem Schulweg. Als Sitzenbleiber muss er neue Freunde finden. An den Straßenrändern Schneemauern. »Du hättest mit uns, lieber Junge, heute Mittagessen sollen, Leber, Kartoffelmus, Pflaumen. Will zum Wochenende waschen, und Du schickst bitte sofort schmutzige Wäsche ab, alles, zehn Pfund ungefähr.« Immer drehte es sich ums Waschen. »Mit Postkarte, bitte, damit ich nachfragen kann, denn Wäsche ist kostbar.«
Auf der Faschingseinladung eine lodernde Flamme.
Monatsplan und Wettbewerb. Termine und Verantwortlichkeiten: 4. Februar Funktionärssitzung. 7. Februar Heimfahrtstag. 20. Fasching. 26. Aufbaueinsatz. 28. Jugendgesetz. Fünfter März Stalinfeier. Friedhelm verzog den Mund. Irina mit hochgezogenen Augenbrauen. Stalin. Bloß keine Diskussion anfangen, aber Gertraude meldete sich, die nahm zum Glück den Arm gleich wieder runter.
Für den Theaterbesuch erwarte ich drei Vorschläge von der Kultur. Ich denke, dass alle mitgehn.
Irina drehte sich um. Warum alle, Brigitta? Immer hundert Prozent. Dann eben nicht.
Über den Termin der Gruppenversammlung konnten sie sich nicht einigen. Gabs bei mir nie, maulte Pockrandt. Als Jochen sagte, war mal, warf er den Kopf in den Nacken.
Zum Tagesordnungspunkt 2, Wettbewerb. Bei Friedhelm die Andeutung eines Grinsens. Den Wettbewerb führte Walter. Döring hatte in der Wettbewerbsführung nichts zustandegebracht. Wills nochmal versuchen. Denkst du, das funktioniert, Walter? Ich kann das Punktesystem nicht verbessern. Lass den Wettbewerb laufen, wie er läuft, meinte Friedhelm. Klappt er nicht, beschließen wir, dass wir ihn verbessern, oder die Sache hat ein andrer am Halse, oder wir sind weg von der Schule.
Verstehe, sagte Walter, bloß hängts jetzt an mir.
Gibt Schlimmres. Du lässt dir melden, zählst die Punkte zusammen, vielleicht stirbt er von selber der Wettbewerb. Erst mal stirbt er über mir, Friedhelm. Walter steckte sich ein Stück Würfelzucker in den Mund. Gibt Kraft. Lasst mich bloß nicht sitzen mit dem Wettbewerb.
Es gab Pluspunkte für Agit-Einsätze, Leseabende, Buchbesprechungen. Regina, die an ihrem Halskettchen spielte, war Sportfunktionär. Agit-Einsätze sind an Friedhelm zu melden. Zettel genügt. Der Wettbewerbssieger fährt kostenlos zum Deutschlandtreffen. Irina: Wenn der nicht will, auch?
Die Versammlung wäre zu Ende gewesen, als Friedhelm einwarf, er sei nicht einverstanden, dass Agit, die Hausagitation war gemeint, bei der sie zu Dritt anmarschierten, bloß einen Punkt bringen würde. Er nannte das seine Tournee. Ich mache Ernst, Jugendfreunde, rief er, er verteilte die sechs Häuser der Georg-Schwarz-Straße. Einsatzbericht geht ans Aufklärungslokal der Nationalen Front, Karl-Liebknecht-Platz.
Waltraud hing die Punkteübersicht an die Wandzeitung. Die quatschen einem nach dem Munde oder sagen nichts, nörgelte Inka. Rudi las, die Zigarettenschachtel in der Hand, dass das Leistungsabzeichen Sport Gold fünfzehn Punkte brachte. Hast du dich beim Aufbaueinsatz geschunden, dir Kleidung besorgt, dich umgezogen, geschippt, geschwitzt, gefroren, die Stube halb kalt und stehst vor der Waschschüssel, geben sie dir einen Punkt. Den gabs auch für die Lesestunde. Trabst hin zum Lesen, denken die sich, liest was vor, fertig. Die spinnen, wenn das bleibt, wars meine letzte, sagte Renate Großmann. Die Pionierleitertätigkeit bringt fünf Punkte.
Orden bringen das meiste, meinte Friedhelm. Die Partei wird das ändern, versprach Rudi Gernitz.
Alles Unfug! Nichts geschah.
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Und du, Hannes? Du möchtest studieren. Den Pockrandt wirst du nicht los, das weißt du
Kein Drängen in der Erde, Schnee, und auch noch Fasching. Dieses Gedrängel am Einlass der Apothekenschule, an der Ruth Jansen Schülerin war. Du gehst mit, Hannes, entschied Friedhelm. Diese Blicke, das Aufeinanderlosgehn, als die Musik anfing. Friedhelm genoss es. Die Weiber wollen das. Man fand sich, knutschte, klebte aneinander, anfangs in dunklen Ecken, später bei Licht. Unter einer von den Maskeraden steckt Ruth, war vielleicht das Nasengesicht, das ihn anlachte. Mädchen, die sich nicht zierten. Die Lust regierte.
Er vermutete sie hinter jeder Maske, in jeder Pose, bis ihn diese maskierte Offenheit ankotzte und er weglief. Erst in der Straßenbahn riss er sich die schwarze Pappbrille ab, die Korsarenmütze.
Friedhelm war geblieben, entschuldigte sich für früh. Ich kann dir gar nicht sagen, wie geil die war mit den wasserblauen Augen, die Blonde. Übermüdet unter den Augen, Haut knittrig, und vielleicht hing ihm noch Puder im Gesicht. Die Mütze war plötzlich weg, ich dachte, das Schiff, das du geentert hast, liegt im Hafen.
In der Großen Pause spazierten sie durch den Park. Sie erinnerten sich an den Klassenraum, der die schiefen Wände hatte, zwischen denen Harry die Welt geraderücken wollte. Matter hatte Züge von einem Missionar; der dir eine Welt zusammenbaut und glaubt, er hat dazu den Schlüssel, sagte Friedhelm.
Endlich Tauwetter. Vom Barackendach tropfte es, die Tropfenabstände werden kürzer.
Der Frühling.
Wir haben überwintert