»Aber vom Gespenst werde ich nichts erzählen, versprochen«, versuchte Claudine einen eventuellen Fehler wiedergutzumachen. Sie wusste nie so recht, was in den Augen der Erwachsenen ein Fehler war und was nicht. Das Einzige, was sie mittlerweile feststellen hatte können, war, dass manche etwas lustig fanden, was andere als schlecht erachteten. Und was eine Sünde sein sollte, verbarg sich ihrem kindlichen Verständnis ganz und gar. Wieder schaute Agnès ihre Zofe fragend an.
»Madame, wie soll ich es erklären, wir beobachteten von den Zinnen eine Frau, die wirklich wie ein Gespenst aussah; unglaublich dünn und totenblass. Als wir ihr Brot bringen wollten, sprach sie sogar mit ganz unheimlicher Stimme zur Prinzessin«, versuchte Anouk sich zu rechtfertigen.
Trotz der Vertrautheit zwischen ihr und Madame Agnès fühlte sich die Zofe bei diesem Bekenntnis denkbar unwohl. Sie hatte entgegen der Anweisungen das Schlossgelände verlassen.
»Und den Einaug-Menschen habe ich auch getroffen. Er lächelte und ich konnte sehen, dass er ein lieber Mensch ist, auch wenn er wie ein Riese aus den Erzählungen aussieht«, ergänzte Claudine.
Agnès lehnte sich gegen die Linde.
»War noch jemand bei diesen beiden Personen?«, fragte sie mit klopfendem Herzen.
»Madame! Ist Euch nicht gut?« Anouk bemerkte die aufgewühlte Reaktion ihrer Herrin.
»Nein, sie denkt nur nach«, beschwichtigte Claudine und beobachtete ihre Mutter. Nach einer Weile aber fragte auch sie bang,
»Hast du schon fertig gedacht, Maman?«
Mit beiden Händen bedeckte Agnès das Gesicht und setzte sich aufs feuchte Gras. Das Kind setzte sich zu ihr, Anouk mahnte aber, dass man vielleicht schon mit dem Frühmahl wartete.
»Wer war noch bei den beiden, Anouk?«, insistierte Agnès.
Die Zofe dachte nach. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, mit dem Kind unter die Leute gegangen zu sein.
»Da war noch eine edle Frau, allerdings in einfachem Gewand und ein junger Bursche, auch sehr einfach gekleidet, aber sauber. Alle wirkten sauber. Ich habe sie beobachtet, weil, weil …«
Anouk begann zu weinen.
»Es tut mir leid, Madame! Ich habe die Prinzessin nur für wenige Augenblicke aus den Augen verloren, nur ganz kurz. Und die verrückte dünne Frau hat ihr nur zweimal übers Haar gestreichelt, sonst ist nichts passiert.«
»Beruhige dich, Anouk, es ist ja zum Glück wirklich nichts passiert. Hat die Frau etwas gesagt?«
»Die dünne Frau? Sie sagte etwas wie ›meine Agnès‹. Seltsam, nicht wahr?«
Agnès de Valois ließ sich die vier Personen so gut wie möglich beschreiben. Nachdenklich ging sie anschließend mit Claudine hinauf zum Frühmahl, das längst serviert war.
»Meine Liebe, es wird langsam Zeit, der Prinzessin eine adäquate Ausbildung angedeihen zu lassen«, begann Madame Veronique ohne Umschweife in verärgertem Tonfall. Auf Pünktlichkeit legte sie großen Wert. Nun musste sie auch noch bemerken, dass sowohl die junge Duchesse als auch die Prinzessin mit taunassen Schuhen und feuchtem Gewand zum gemeinsamen Morgenmahl erschienen.
»Was ist eine adquaquate Ausbildung? Kommt dann Schwester Maria Pilar wieder für den Unterricht zu uns?«, wollte Claudine resigniert wissen.
»Die arme Nonne ist außer sich und weiß nicht, ob sie mit der Unterweisung für die Prinzessin fortfahren kann!«, schimpfte Madame Veronique.
»Weil Gott in der Linde wohnt und sie das nicht versteht?«
»Was sind das für ungehörige Aussagen? Kind! Du hast die Schwester zutiefst erschüttert!«
Madame Veronique tupfte sich mit einem kleinen Tuch den Mund ab, trank einen Schluck Kräutersud und wandte sich dann so freundlich wie möglich an ihre Schwiegertochter.
»Das Kloster der Dominikanerinnen ist nur einen halben Vormittag Kutschenfahrt von hier entfernt. Die meisten hochwohlgeborenen Familien geben ihre Töchter dorthin, um sie zu künftigen Müttern gottesfürchtiger Herrscher zu erziehen. Claudine ist mit so vielen Geistesgaben gesegnet, sie kann in ihrem zarten Alter bereits lesen und schreiben, singt mehrere Psalmen beim Gottesdienst mit, auf Latein! Diese Fähigkeiten gehören in gottgefällige Bahnen gelenkt, schließlich ist die Prinzessin kein Kleinkind mehr. Wenn sie weiterhin wie ein Fohlen über die Wiesen rennt und sich zu Hühnern hockt oder einen Baum für Gott hält, verliert sie womöglich den Verstand. Ich meine es ja nur gut mit ihr, meine Liebe.«
Madame Veronique, die seit den erfreulichen Verhandlungen bezüglich der Familie Jardinverde in bester Laune war, hatte tatsächlich nichts Böses im Sinn, das wusste Agnès de Valois, aber bei der Vorstellung, Claudine an ein Kloster zu verlieren und ihre Lebendigkeit in den Zwang von Gebeten, gesenktem Blick und ruhigen leisen Schritten einzusperren, wurde ihr übel. Überhaupt wollte sie nicht einen Tag ohne ihre Tochter verbringen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Bild vor Augen, wie sie mit Claudine aus dem Schloss floh, dabei auf ihre Madre traf und wie ehemals als Zigeunerin durch die Lande zog. Das wäre ein Leben, welches Claudine wesentlich mehr entspräche als klösterliche Strenge. Als sei es kaum einige Jahre her, entstanden Bilder aus ihrer Kindheit vor Agnès’ Augen. Wie sie mit den Ziegen hinter den Karren herlief, die Eier aus den Käfigen holte, in welchen die Hühner übernachteten. Der kleine Djali kam ihr in den Sinn, seine Sprünge während sie tanzte und Kunststücke vorführte. Immer wieder wurde ihr die Zeit in Spanien vor Augen gerufen. Lag es nur daran, dass sie mit Ruben Jardinverde ein paar Worte auf Spanisch gewechselt hatte, oder stimmte ihre Vermutung, sie sei ihm in Valencia bereits begegnet? Ihre Sehnsucht, mit Claudine ein Leben zu führen wie damals mit Sophie, wuchs bei diesen Gedanken. Plötzlich erinnerte sie sich an ein prächtiges Gebäude in Valencia. In dessen Hof hatte die Truppe tagelang Darbietungen geboten, Leute aus der ganzen Stadt kamen herbei, sie waren die Attraktion für das mehrtägige Hochzeitsfest der Gastgeber gewesen. Man hatte ihnen Quartier bei den Stallungen gewährt, sie mit reichlich Speisen verwöhnt, das jung vermählte Paar war oft bei ihnen gesessen und hatte sie nach ihren Reisen durch ganz Spanien und Frankreich befragt. Reich und vornehm waren die beiden gewesen, aber ohne Dünkel. Plötzlich zuckte Agnès zusammen. Sie kannte diesen Mann von damals. War es nicht Ruben Jardinverde? Der Schreck durchglühte sie. Hatte er sie erkannt? Doch nichts wies darauf hin, sie war damals höchstens neun Jahre alt gewesen. Was für eine Fügung, ihm hier wieder zu begegnen. Eine Welle der Zuneigung für die Familie Jardinverde durchströmte sie.
»Madame Agnès! Soll ich Gespräche für solch eine gediegene Ausbildung veranlassen?«, riss sie die Schwiegermutter aus ihren Träumereien.
»Mon Seigneur, mein lieber Gemahl, glaubt auch Ihr, unsere Tochter sei für eine klösterliche Erziehung geeignet?«, suchte Agnès Hilfe. Raphael de Valois allerdings war selbst in Gedanken und hatte dem Gespräch nicht gelauscht.
»Kloster? Erziehung? Für unsere Prinzessin ist das Beste gerade gut genug!«, lächelte er.
»Und das Beste ist es, wenn ich meine wichtigen Gespräche mit den Hühnern führen kann und wenn mir der Tauben-Martin das Fliegen beibringt, so wie den Tauben«, rief Claudine.
»Da hört Ihr es! Das Kind hat vollkommen verdrehte Gedanken, es ist eine Sünde, die Prinzessin weiterhin wie eine Wilde aufwachsen zu lassen. Sie gehört umgehend in klösterlich solide Hände.«
Raphael horchte auf. Der strenge mütterliche Tonfall ließ ihn zusammenfahren, aufmerksam musterte er sie. Worum ging es eigentlich? Hatte sein kleiner Wildfang wieder etwas angestellt? Als er aber auch Agnès’ angespannte Miene sah, suchte er in den Augen seiner Tochter Rat. Diese verfolgte genau, was über sie gesprochen wurde. ›Kloster, Sünde, Wilde‹ hatte sie aufgeschnappt. Das klang nicht gut.
»Mon Seigneur, glaubt auch Ihr, unsere fünfjährige Tochter müsse in klösterlicher Strenge erzogen werden?«, insistierte Agnès in schneidendem Ton.
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