Die Nonne starrte auf den Baum. Sie konnte keinen Finger rühren, kein Wort mehr sprechen, denn nun war sie davon überzeugt, dass der Teufel aus dem Kind spräche und sich über die Kirche und auch über sie persönlich lustig mache. Wortlos wandte sie sich um und verließ die Wiese. Da sie sich aber nicht ohne Erlaubnis der Äbtissin von der Stätte ihres Wirkens entfernen durfte, eilte sie in die Schlosskapelle und betete ohne Unterlass den Rosenkranz, den der Ordensgründer Dominikus von der Jungfrau Maria persönlich ins Herz gelegt bekommen hatte. Sobald die Schwester gegangen war, eilte Anouk zu Claudine.
»Kind, was fällt Euch ein? Ihr wisst doch, dass Schwester Maria Pilar solche Reden nicht verträgt. Hoffentlich schimpft Madame Veronique nachher nicht wieder mit Eurer Mutter, weil Ihr so ungezogen wart!«
»Ich bin nicht ungezogen, sondern ehrlich. Alle sagen immer, ich darf niemals lügen. Und wenn ich ehrlich bin, will die Schwester es nicht hören. Da kann man ja nur die grand-mère ärgern! Es geht gar nicht anders!«
Es war der zweite Verhandlungstag rund um das Anwesen de Sanslieu. Diesmal ging es um das Ausmaß der Parkanlagen, um das Gesinde und seine Entlohnung. Das Hauptanliegen dieses Tages aber war grundsätzlich, ob man eine Burg aus altem Adelsgeschlecht an eine jüdische Familie verkaufen könne. Schon beim Erwerb einfacher Gebäude an Juden durfte das Herzogtum mit jährlichen Abgaben für das Recht der Ansiedlung rechnen. Eine Burg aber war zu bedeutend, um es bei schlichten Abgaben bewenden zu lassen. Allerdings war sie der einzige Bau gewünschter Größe, der in Chartres zum Verkauf stand. Es verhandelten der Duc, die Mesdames Veronique und Agnès, Marquis de Sanslieu, Stadtvogt de Claireleau und Monsieur Ruben Jardinverde. Als Berater stand dem Duc der Baron de Bonarbre zur Seite, Schreiber war Jean de Bouget. Daniel de Sanslieu interessierte sich nicht wirklich für den Preis, er fand die jährliche Summe, welche der jüdischen Familie auferlegt wurde, nur um durch ihren Handel dem Herzogtum mehr Reichtum zu bescheren, ungerecht. Um seinen Unmut etwas zu kaschieren, schaute er aus dem geöffneten Fenster und beobachtete ein erstaunliches Vorkommnis. Die kleine Prinzessin führte eine ältliche Nonne zur Linde hinter dem Schloss. In einiger Entfernung folgte die junge Zofe. Dann breitete das Kind wie zum Gebet die Arme aus, blickte in die Baumkrone und ließ sich nach einiger Zeit ins Gras fallen. Die stocksteife Nonne daneben eilte schließlich davon. Was für ein erstaunliches Kind, dachte er und schmunzelte.
»Marquis, eine Königstruhe écus d’or für Euer Anwesen und jährlich 3000 écus d’or für das Herzogtum, was sagt ihr zu diesem Vorschlag?«, holte Duc Raphael ihn aus seinen Gedanken.
Die Königstruhe wog gefüllt zehn Quintal. Eine unvorstellbare hohe Summe, denn der Marquis sollte ja dennoch alle Lehen behalten.
»Dies ist wirklich ein großzügiges Angebot. Doch verzeiht mir, denn ich muss es ablehnen. Schließlich bin ich ein Ehrenmann«, sagte er mit ernster Miene und blickte alle Anwesenden der Reihe nach an. Der Marquis hatte von befreundeten Zigeunern erfahren, dass Juden in Spanien verfolgt würden.
Monsieur Jardinverde erblasste. Sofort wollte er den Preis erhöhen, doch Daniel de Sanslieu brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. Er fühlte sich in diesem Augenblick in seine wilde Zeit als Raubritter zurückversetzt und lächelte grimmig. Die ganze Schuld seines Bruders lastete auf seinem Namen, es musste einen Weg geben, diesen zumindest ein wenig wieder zu bereinigen.
»Was lehrt uns der Schöpfer im Alten Testament? Unter vielen ähnlichen Stellen will ich das Buch Amos zitieren, Kapitel 5, Vers 24, ›Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach‹. Was ist das für eine Gerechtigkeit, die einer ehrbaren Familie jährlich mehr abverlangt, als ein Duc an die königliche Garde in Form von barer Münze und ritterlicher Dienste bezahlt? Wenn sich in Chartres erfahrene Händler ansiedeln, bedeutet dieser Umstand Reichtum für das ganze Herzogtum und das weiß der Bischof, das weiß die Kirche und das weiß unser sehr verehrter Duc de Valois.«
Er verneigte sich tief vor Raphael und den Mesdames Veronique und Agnès.
»Als Erbe des Anwesens de Sanslieu bestehe ich auf den Preis von einer halben Königstruhe, da mir ja sämtliche Lehen bleiben, was urkundlich bestätigt wird. Und die jährliche Apanage soll sich, mit Verlaub, auf 2000 écus d’or belaufen. Außerdem soll der Familie Jardinverde das Recht eingeräumt werden, so viele Freunde und Verwandte auf dem Anwesen zu beherbergen, wie sie möchte, sogar Christen, wenn es denn sein muss.«
Daniel schmunzelte. Dieser Bibelvers und höchstens drei weitere waren alles, was er aus dem Buch der Bücher zitieren konnte, aber es verfehlte nie seine Wirkung. Die Leute zu frappieren machte ihm Spaß, aber den Machthabern ein Schnippchen zu schlagen gleich noch viel mehr. Von draußen hörte man Vogelgezwitscher und etwas entfernt die Rufe der Knechte. Drinnen herrschte Stille; ein Riss in der Zeit. Es war Daniel de Sanslieu bewusst, dass er bezüglich der Apanage keinerlei Rechte hatte. Aber seiner Großzügigkeit würde das Haus de Valois bestimmt nicht nachstehen wollen. Madame Veronique, die eng mit der jüdischen Familie befreundet war, jedoch möglichst rigide verhandelt hatte, um den Bischof milde zu stimmen, presste die Hand vor den Mund. Duc Raphael fand den Vorschlag auch gerechter als die bisherigen Ergebnisse, wusste aber nicht gleich, wie er sich äußern sollte, denn der Seitenhieb gegen das Angebot des Herzogtums war deutlich. Ruben Jardinverde glaubte zu träumen. Er saß da wie ein Bild von Stein. Man hörte nur das Kratzen der Feder auf Papier. Jean de Bouget würde das Vertragsdokument später auf Pergament übertragen. Die kostbare Robe der Madame Veronique rauschte, als sie sich erhob und auf den Marquis zuschritt. Mit dem Daumen beschrieb sie ein Kreuz auf seiner Stirn, ebenso über seinem Mund und auf seiner Brust und sprach mit zittriger Stimme: »Es segne Euch der barmherzige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.«
Sie, die für gewöhnlich so viel Dominanz ausstrahlte, reichte ihm nur knapp bis zur Brust.
»Kredenzt den besten Wein, dieses Übereinkommen sollten wir gebührend feiern. Und Ihr, Jean, bereitet sofort die Pergamente vor, ich möchte sie heute Abend noch unterzeichnet wissen«, ordnete der Duc erleichtert an. Jean verneigte sich und verschwand in seine Schreibstube. Diener brachten Wein, kleine Brote, Käse, Schinken und Nüsse.
Daniel setzte sich zu Monsieur Jardinverde, der sich noch immer nicht von diesem glücklichen Schock erholt hatte. Er klopfte ihm kurz auf die Schulter.
»Herzlich willkommen in Chartres.«
Da liefen Tränen über die Wangen des Spaniers.
Wenn Claudine nicht zu ihrer Linde lief und nicht zu den Hühnern, dann eilte sie sämtliche Treppen hinauf, um von den Zinnen weit über die Stadt und das angrenzende Land schauen zu können.
»Ich will ein Vogel sein und fliegen können!«, rief sie ein ums andere Mal, rannte zwischen den Zinnen herum, neigte sich weit hinaus und jauchzte. Trotz aller Freiheiten, die Agnès ihr gewährte, litt sie dabei besonders und verbot ihrem Töchterchen, sich ohne Aufsicht dort oben aufzuhalten. Zwar liebte sie diesen Platz selbst, erinnerte sich an die Zeit auf den Türmen der Notre-Dame zu Paris mit Quasimodo, mit ihrer Madre und mit … Doch an Dom Frollo wollte sie nicht denken und nicht an ihre Verurteilung als Hexe. Dass allein die Erinnerung daran, was auf dem Turm geschehen war, sie nach wie vor lähmte, ihr jegliche Freude zu rauben drohte, wollte Agnès nicht wahrhaben. Sie wollte diesem Dämonpriester nicht erlauben, ihr noch immer Ekel und Schrecken einzujagen. So viel Schönes gab es in ihrem Leben, da wäre es doch gelacht, das wenige Böse nicht endlich vergessen zu können. Wieder einmal quengelte Claudine so lange, bis Agnès ihr erlaubte, mit Anouk hinaufzugehen. Gern wäre sie mitgekommen, doch sie sollte Raphael und Madame Veronique gemeinsam mit Monsieur Jardinverde zur Residenz des Bischofs begleiten. Auch der Vogt de Claireleau war geladen. Es galt, die Unterschriften der beiden einzuholen, was sich angesichts der veränderten Vertragsbedingungen vonseiten des Bischofs schwierig gestalten würde.
»Schau, Anouk! Da unten vor dem Tor steht ein Gespenst. Ui! Ich habe noch nie ein Gespenst gesehen!«, rief Claudine. Sie klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Gehen wir hinunter und laden es ein! Maman hat bestimmt auch noch nie ein Gespenst gesehen.«
»Wir dürfen keine fremden Leute einladen, Mademoiselle. Aber Ihr habt recht,