»Was meinst du, Claudine? Wie können wir sowohl deine Maman als auch deine Großmutter erfreuen?«, wand er sich heraus und blickte die Prinzessin erwartungsvoll an.
»Ich glaube, die Hühner haben nichts dagegen, wenn ich lateinische Psalmen mit ihnen singe. Würde dir das gefallen, grand-mère?«
»Machst du dich über mich lustig, Kind? Wie oft soll ich denn noch sagen, dass du dich dort nicht herumtreiben sollst, weder lateinisch noch französisch singend?«
Madame Veronique schlug kräftig mit der Faust auf den Tisch. Überrascht musterte Raphael sie.
»Madame. Ich habe Euch bereits gebeten, wesentliche Entscheidungen bezüglich unserer Tochter meiner Gemahlin und mir zu überlassen!« Seine Worte klangen gepresst und ungewöhnlich streng. Nach einer Schrecksekunde erhob sich Madame Veronique. Sie bemühte sich, besonders aufrecht zu gehen, wirkte aber gebeugt, als sie grußlos den Raum verließ.
»Raphael! Wie gut zu wissen, dass du es nie erlauben wirst, Claudine in ein Kloster zu sperren!«, sagte Agnès.
»Sprecht mich bitte nicht so vertraut an, wenn andere dabei sind, Madame«, war seine erste Reaktion. Er wirkte noch immer gereizt.
»Aber nur ich bin gerade da, Papa. Und ich bin auch vertraut«, mischte sich Claudine ein. Raphael blickte auf, als erwache er aus einem düsteren Traum. Er sah seine Tochter an und lächelte.
»Du! Mein kleiner Sonnenschein! Du bist meine tägliche Freude. Ich brauche dich und ich brauche es, deine Maman fröhlich zu sehen. Natürlich sollst du nur hier bei uns im Palast sein.«
Längst hatten sich alle zurückgezogen, die Glocken von Chartres läuteten mit zwölf dumpfen Schlägen Mitternacht. Agnès konnte keinen Schlaf finden, von Stunde zu Stunde wurde sie unruhiger und sie wusste nicht einmal, warum. Du, mein kleiner Sonnenschein hatte Raphael zu Claudine gesagt. Er liebte ihre Tochter von ganzem Herzen. Das rührte sie, versöhnte sie mit dem Schicksal, und es gab ihr Zuversicht, Claudine immer in königlichem Schutz zu wissen. Sie brauchte seine Bestätigung, Claudine nicht ins Kloster zu schicken, doch auch seine beruhigende Nähe brauchte sie in der Anspannung dieser schlaflosen Nacht. Es drängte Agnès, die Gemächer ihres Gemahls aufzusuchen. Doch das wäre unschicklich gewesen. Sie sehnte sich nach einer Umarmung, nach Zuwendung. Alle Welt erwartete den Erben von ihr, was lag also näher, den Gemahl des Nachts aufzusuchen, seine Gunst heraufzubeschwören, die Vereinigung mit ihm zu suchen?
In lodernden Nächten überschwemmst du mich mit dem
Regen deiner Gunst.
In eiskalter Einsamkeit glüht die Erinnerung an dich in
meinem Herzen, in meinem Leib.
In endlos leeren Tagen erfüllt mich allein dein Name mit
Wonne.
Sonne meiner Nacht,
Quelle meines Durstes,
Nahrung meines Hungers,
Komm!
Erlöse mich!
Leicht wie Sommerregen perlten die Worte des Dichters in ihren Gedanken. Wer war der Zauberer dieser Worte? Und wie konnte er so klar benennen, was sie empfand? Könnte sie doch Raphaels Liebe wecken, wie sie diese Verse rezitierte, sie würde alles dafür geben. So stark sich Agnès tagsüber auch fühlte, so souverän sie den Menschen auch begegnete und sich meist sogar gegen Madame Veronique durchsetzte, so verlassen fühlte sie sich als Weib. Die freundschaftliche Liebenswürdigkeit ihres Gemahls baute eine Mauer auf, die jegliche Leidenschaft verhinderte. Sie war bereit, Raphael mit seinem Freund Julien zu teilen, aber warum strafte der Gemahl sie mit Entbehrung jeglicher Zärtlichkeit? Er kannte das verbotene Büchlein so gut wie sie, kannte die Klagen darin, die Sehnsucht und die Leidenschaft. Blieb von all dem nichts für sie übrig?
Mein Leben ist Schande,
Heuchelei ist mein Leben.
Und dennoch bin ich reich,
bin umjubelt von allen Thronen und Mächten.
Sie erheben mich als ihren Stern,
sie jauchzen mit mir, weil ich der Weisheit Kleinod kenne,
dich.
Und was kannte Raphael von ihr, von der Mutter der geliebten Tochter? Seine Zuneigung äußerte sich durch beruhigendes Einlenken, sanfte Ermahnungen, Geduld ob ihrer ungewöhnlichen Manieren. Es stimmte, was der Dichter sagte, wer immer es auch war:
Nie wirst du mich ansehen mit meiner Liebe,
nie mit jeglicher Liebe.
Nie wirst du Freude nennen, dass ich mich nach dir
verzehre.
Ekel ist es für dich, was mich zu dir hinzieht.
Ein Wurm bin ich in deinem Leben,
ein Schädling.
Die Ewigkeit bist du in meinem Leben,
die Erlösung.
Während dieser Gedanken, dieser nächtlichen Unruhe, war Agnès wie traumwandelnd aufgestanden und über den kalten finsteren Gang zu Raphaels Gemach gegangen. Vor der schweren Tür stand sie und wagte nicht zu klopfen. Ihr war, als höre sie gedämpftes Kichern und Plaudern. Raphael unterhielt sich mit jemandem. War das Juliens Stimme? Oder täuschten sie Einflüsterungen der Nacht? Vielleicht war sie schlaftrunkener als vermutet. Als sie zu frösteln begann, schlich Agnès wieder zu ihren Gemächern zurück. Sie trug außerdem nur ein Nachtgewand und hatte sich ein Wolltuch übergeworfen. Raphael hätte womöglich die Augen gerollt, sie in diesem Aufzug zu mitternächtlicher Stunde vor seiner Tür zu treffen.
Marquis Daniel de Sanslieu machte sich inzwischen daran, ein Grundstück, noch besser aber ein bereits bestehendes, nicht allzu großes Anwesen für sich zu suchen. Der Gedanke dieses Neubeginns regte ihn an. Er dachte an eine Zucht edler Pferde, auch ein paar Jagdhunde wollte er sich als ständige Begleiter erziehen. Seit sein Bruder Alfons verstorben war und er nach Jahrzehnten wieder in die heimatliche Burg zog, erkannte er den Wert der Sesshaftigkeit. Das freie Leben als Raubritter, zu welchem er durch seine Verbannung gezwungen gewesen war, gehörte der Vergangenheit an. Es war bereichernd gewesen, aber auch gefährlich. Von Jahr zu Jahr baute zudem die Inquisition ihre Vernetzungen aus, in jeder zufälligen Begegnung konnte man auf einen ihrer Spitzel treffen. Auch seine üblichen Kontakte zu Zigeunertruppen musste Daniel aufgeben, weil diese als Erste Ziel kirchlicher Beobachtung wurden, denn wer nicht regelmäßig die heilige Messe besuchte und keinen Obolus abgab, konnte ja nur verdächtig sein und mit bösen Mächten im Bunde zu stehen. Die Heilige Schrift war voll von Aussagen über Liebe und Barmherzigkeit, wie aber passte die Inquisition dazu? Daniel schüttelte den Kopf. Nichts war ihm suspekter als die Kirche.
Bei näherer Betrachtung fand er allerdings ein ebenbürtiges Übel, die weltliche Macht. Dennoch schien ihm die Macht der Kirche umfassender, weil sie nicht nur über irdische Belange urteilte, sondern vor allem auch über die ewige Seele. Diese wollte kein Christ verwirken und war bereit, alles zu tun, um sie nach kirchlichen Vorstellungen zu bewahren. Wonach aber strebte er selbst? Verlangte ihn nach Gerechtigkeit, nach Anerkennung, nach Genuss? Bei diesem Gedanken fiel ihm die Prinzessin am Schloss de Valois ein, welche mit Kindern der Dienerschaft herumtollte. Dort schien eine erstaunliche Freiheit zu herrschen. Seit wann vermischte sich die Obrigkeit mit dem einfachen Volk? Seit wann wurden Hochwohlgeborene so frei erzogen, dass sie überhaupt Gelegenheit fanden, auf Wiesen herumzulaufen? Kamen in adeligen Familien nicht schon ganz junge Mädchen zu Nonnen ins Kloster? Und wurden nicht adelige Knaben von sechs Jahren gedrillt und frühmorgens mit kaltem Wasser geweckt, damit sie später