Aufgeregt lief das Kind hinab. Gehen oder gar schreiten war diesem kleinen Wirbelwind vollkommen fremd. Anouk, selbst jung und wendig, hatte Mühe zu folgen. Aus der Küche holten sie ein großes Stück Brot, etwas Käse und ein paar Kirschen, legten alles in einen Korb, in dem sie ein Tuch ausbreiteten, und stahlen sich zum Tor der Mauer hinaus, die den Park rund ums Schloss umgab. Madame Agnès mochte es, wenn Claudine ›die Welt kennenlernte‹, wie sie es nannte, aber Madame Veronique würde es niemals erlauben, das Kind außerhalb des Schlossgebietes mitzunehmen. Sie war ja schon außer sich, wenn es bei den Stallungen spielte, vom Kontakt zu den Kindern des Gesindes ganz zu schweigen. So kam es, dass Anouk mit ihrem Schützling jede Menge Geheimnisse teilte, die das Kind mit dem Herzen auf der Zunge auf keinen Fall vor Madame Veronique ausplaudern sollte.
Sie verließen den Schlosspark allerdings sehr selten und gerade deswegen erlebte die Prinzessin diese Ausflüge stets als Abenteuer. Ganz andere Menschen, verschiedene Tiere, die grunzten und meckerten, schreiende Esel und glucksende Truthähne, alles bunt gemischt, versetzten Claudine in taumelnde Begeisterung. Die Leute trugen mitunter Lumpen, hatten rot entzündete Füße, beachtlich schmutzige Hände und ungewaschenes Haar. Es gab aber auch solche, die bunt gekleidet und sauber waren, sie wirbelten im Kreis und spielten fröhliche Musik.
»Das sind Zigeuner«, hatte Anouk erklärt.
Welch ein aufregendes Wort! Eines jener Wörter, die grand-mère nicht hören dufte.
Nicht weit vom Tor entfernt hielten sich mehrere Leute auf. Es war der Tag, an dem Bauern verschiedene Feldfrüchte ins Schloss brachten, teilweise aber auch verkauften. Darum tummelte man sich um die Karren wie auf dem Markt. Die Gespensterfrau gehörte zu einer kleinen Gruppe von Personen, von denen ein Mann alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dennoch blickte er sich freundlich um und schien sich an die Gaffer gewöhnt zu haben. In einem unbemerkten Augenblick lief die Prinzessin zu ihm hin, um sein Gesicht von der Nähe betrachten zu können.
»Bist du ein Mensch?«, fragte sie ohne Scheu.
Simon verstand sie nicht, bemerkte aber ihren Blick und lächelte.
»Du bist ein lieber Einaug-Mensch«, stellte sie fest und ging zu Paquette.
»Bist du ein Gespenst?«
Diese quietschte erschrocken, wenn auch in leisem Ton auf.
»Meine kleine Agnès! Meine kleine Agnès!«, flüsterte sie und streichelte Claudine übers Haar.
»Mademoiselle!«, rief Anouk panisch, weil sie nicht wollte, dass die Prinzessin von jemandem berührt wurde, zudem hatte sie bereits einige Augenblicke nach ihr gesucht. Hastig drückte sie Paquette den Korb in die Hand, fasste Claudine am Handgelenk und eilte zurück in den geschützten Schlossbereich, vorbei an den Wachen. Sie lief so lange, bis Claudine jammerte, dass sie nicht mehr mitkäme. Ihr Handgelenk war gerötet, weil Anouk sie so fest mit sich gezerrt hatte.
»Erzählt bitte niemandem, dass Ihr unter diesen Leuten verweiltet!«
Angesteckt von Anouks Panik nickte das Kind weinerlich.
Sophie hatte alles beobachtet. Zunächst rührte sie die Kleine, doch dann begann ihr Herz heftig zu schlagen, der Atem setzte beinah aus, als das fein gekleidete Mädchen so unbefangen mit Simon sprach. Die junge Frau, vielleicht eine Dienerin, konnte doch unmöglich eine Prinzessin mit sich auf gewöhnliche Wege genommen haben. Dennoch wurde Sophie das Gefühl nicht los, ihr sei gerade eine kleine Esmeralda begegnet. Die Sehnsucht nach der Tochter schmerzte regelrecht. Am liebsten wäre sie an den Wachen vorbei durch das Tor gelaufen, um zu sehen, wer dieses Mädchen war.
Wie so oft kam Claudine am Abend in das angrenzende Gemach ihrer Mutter gelaufen, sobald sich diese schlafen legte. Ganz in Gedanken an die Familie Jardinverde, die allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit bangen musste, sich an welchem Ort auch immer ansiedeln zu dürfen, erinnerte sie sich an die Zeit, in welcher sie mit den Zigeunern von Stadt zu Stadt gezogen war, bis sie schließlich mit ihrer Madre in Paris so etwas wie eine Heimat gefunden hatte, wenn auch im ›Hof der Wunder‹. Damals war ihr nicht aufgefallen, wie feindlich ihre Sippe von ehrbaren Bürgern betrachtet wurde, denn als gefeierte Esmeralda fühlte sie sich von allen geliebt. Tatsächlich aber musste José, der damalige Anführer ihrer Truppe, oft mühselig feilschen, um außerhalb des Dorfes irgendwo an kalten Stellen ein Nachtlager aufschlagen zu können. Wenn sie sich nicht gerade den Darbietungen hingaben, wurden Zigeuner gemieden, als verbreiteten sie Krankheiten. Agnès wunderte sich darüber, das jetzt erst zu bemerken. Offenbar waren die Liebe ihrer Madre und der Spaß, den sie mit den anderen Zigeunerkindern gehabt hatte, so berauschend gewesen, dass sie die Misstöne ihres Daseins als Kind gar nicht mitbekam. Im Einschlafen sah sie ein großes Haus vor sich, in dessen Hof die Gauklertruppe aufrat. Man hatte ihnen dort mehrere Tage Quartier geboten. Monsieur Jardinverde kam ihr in den Sinn, Valencia, der Strand. Waren es Erinnerungen oder bereits ein Traum?
»Ich habe heute ein Gespenst gesehen, das war aufregend!«, raunte ihr Claudine schlaftrunken ins Ohr.
»Schön, dass dein Tag mit Anouk so aufregend gewesen ist. Bestimmt werde ich auch bald wieder mehr Zeit mit dir verbringen können. Ich freue mich schon darauf!«
Jetzt war sie wieder wach, wenn die Worte auch mehr gelallt als gesprochen klangen. Sie überlegte, ob sie ihrem kleinen Wildfang ein paar Kunststücke beibringen sollte, vielleicht das Radschlagen. Andererseits wäre das doch sehr auffällig. Welche Duchesse schlägt schon Räder oder jongliert mit Äpfeln?
»Ich habe auch einen Einaug-Menschen gesehen, der war lieb.«
Auch Claudine lallte fast, sie war nur noch teilweise wach. Agnès drückte sie sanft an sich, bereit weiterzuschlafen. Kurz bevor sie aber gänzlich in den Schlaf hinüberglitt, schreckte sie wieder hoch. Was hatte ihre Tochter gesehen? Ein Gespenst und einen Einaug-Menschen? Ihr Herz raste. Konnte es sein? Nein, wie käme denn der Glöckner Quasimodo nach Chartres? Und das Gespenst? Mit sehnsuchtsvollen Gedanken an ihre Madre schlief sie schließlich ein. Sie saß mit Sophie, mit Quasimodo, Jean und Enzo auf einer Wiese und aß saftige Früchte, die sie aus Spanien kannte, Stücke riesiger Melonen. Rund um sie flatterten Tauben, die alle kleine Botschaften ans Bein gebunden hatten. Sie wollte sie lesen, doch die Tauben entwischten ihr immer wieder.
Das Kind plauderte im Nebenraum mit Anouk, als Agnès am Morgen aus einem angenehmen Traum erwachte.
»Guten Morgen, ihr zwei!«, rief sie in den Nebenraum hinüber, während sie sich gähnend streckte. Anouk brachte den Becher mit frischem Aufguss, den Agnès stets beim Aufstehen trank. Claudine plauderte unentwegt und weigerte sich, ihre Schuhe anzuziehen.
»In diesen Schuhen kann ich das Gras gar nicht spüren!«, protestierte sie.
»Wir werden der Linde zu dritt unseren Morgengruß entbieten und dort die Schuhe ausziehen, was hältst du davon, Claudine?«, schlug Agnès vor. Das Kind ließ sich damit beruhigen.
»Danach kommst du aber zum gemeinsamen Frühmahl mit Papa und Madame Veronique. Sie legt großen Wert auf diese Rituale.«
Agnès bemühte sich um einen strengen Ton, obwohl Claudine wusste, dass die Mutter während dieser gemeinsamen Mahlzeiten ebenso gähnte wie sie selbst, wenn nicht sogar noch mehr.
»Nun gut, Maman«, sagte sie, »aber nur für eine Weile, ich muss nämlich danach noch mit den Hühnern wichtige Gespräche führen und auch den Tauben-Martin muss ich sprechen!«
Da lachte Anouk laut auf. Sie fand es drollig, wenn die Prinzessin Ausdrücke Erwachsener in ihre Spiele einbaute.
»Gibt denn Schwester Maria Pilar heute keinen Unterricht?«
»Die kommt nicht mehr. Sie mag meinen Gott nicht und ist sowieso langweilig!«, sagte die Prinzessin mit betont gleichgültigem Tonfall.
»Was heißt, sie kommt nicht? Ist etwas vorgefallen?«
Agnès schaute Anouk irritiert an. Diese erzählte vom gemeinsamen Besuch bei der Linde und