Erleichternd kam hinzu, dass der Spätnachmittag dort, wo sie sich nun befanden, mild und wohltuend war und es Unterhaltung in Form einer indischen Barackensiedlung gab, die sich unmittelbar unter ihnen an die Aufschüttung für das Ausweichgleis anschloss. Auf dem Bahnsteig stehend, konnten sie das bunte und malerische Treiben von bestimmt tausend Einheimischen beobachten, deren gesamter Lebensraum, wie es schien, nur etwas größer war als ein ordentlich bemessener Krocket-Rasenplatz.
»Das Quartier der Unberührbaren, oder was meint ihr?«
»Was für ein Kakerlakennest«, sagte Alister. »Gott sei Dank leben wir in einem Land, das niemals so überfüllt sein könnte.«
»Wieso denn nicht?«, sagte Lord Muscateer.
»Kannst du dir vorstellen, dass irgendwer in England jemals so leben würde? Schau mal, das verwahrloste kleine Mädchen dort – das kackt grade auf ihre eigene Türschwelle.«
»Nach letzter Nacht«, sagte Peter, »kann man daran schwerlich etwas Verwerfliches finden. Wo«, fragte er Muscateer, »hattest du denn eigentlich diesen Öltrichter her? So etwas trägt man doch nicht einfach so mit sich herum.«
»Mein alter Herr hat mir geraten, einen mitzunehmen. ›Wann immer ein Mann weiter als Calais gen Osten reist‹, hat er zu mir gesagt, ›sollte er einen großen Öltrichter mitnehmen. Du hast keine Vorstellung, wie praktisch der sein kann!‹ Und wie es aussieht, hatte mein alter Herr damit recht.«
»Ich bin ihm sehr dankbar – und dir. Der ist aber sicher sperrig im Gepäck.«
»Zumindest verliert man ihn nicht so leicht. Nicht wie ein Soldbuch. Ich konnte meins immer noch nicht finden«, sagte Muscateer zerknirscht. »Meinst du, die können deswegen wirklich Stunk machen?«
»Na ja. Ein bisschen Aufhebens werden sie schon darum machen. Ist praktisch dasselbe wie ein Personalausweis. Ich würde es denen einfach beichten.«
»Was meinte denn eigentlich dieser Hauptfeldwebel?«
»Von wegen dass sie dich in ein Verlies sperren werden? Das ist natürlich Humbug.«
»Nein, das doch nicht. Dass wir die Orangenbaisertorte in Ley Wongs chinesischem Restaurant nicht essen sollen. Warum in aller Welt sagt er uns denn so was?«
»Das hab ich gar nicht mitbekommen«, sagte Peter. »Was denkt ihr, wie viele Inder teilen sich wohl eine solche Hütte als Unterkunft?«
»Ich habe vorhin gezählt, dass zehn in eine hineingegangen sind«, sagte Barry, »und keiner ist wieder rausgekommen.«
Doch wurde weiteren Mutmaßungen, in welchem Verhältnis Mensch und Umwelt hier zueinander standen, dadurch Einhalt geboten, dass sie zu ihren Holzbänken zurückbeordert wurden. Der Zug rollte vom Nebengleis und ratterte mit ihnen über das staubige Hochland von Dekkan nach Gulbarga davon. Für einige Zeit ließen sie ihre Blicke über die gelbe, steinige Ebene schweifen, bis die Sonne hinter den Westghats versank und alles im Dunkeln lag. Daraufhin wickelten sie sich von den Beinen bis über den Bauch in Decken, dösten und fröstelten, nickten immer wieder kurz ein, schnarchten und sabberten und wimmerten, alldieweil die qualvolle Nacht dahinkroch und sich schließlich vor der guten alten Sonne davonschlich.
Um zwölf Uhr mittags waren sie die allerdings leid, als der Zug in Kodur hielt, wo sie ein Mittagessen bekamen – dicke Scheiben zadderigen Fleisches in einer glibberigen Soße, garniert mit nur halb garen Kartoffeln. Inzwischen war die Sonne ihr Feind, ein Feind, der mit jeder Minute des sich langsam dahinziehenden Nachmittags an Grausamkeit zunahm, während sie durch die Ebene auf die Berge zu krochen. Diese erreichten sie am frühen Abend und empfanden die kühle Luft als einen Segen, bis, als die Sonne sank und der Zug sich immer höher in die Berge emporschraubte, die Kühle zunehmend frischer wurde und sich schließlich in bittere Kälte verwandelte, deretwegen sie sich kläglich unter ihren einfachen kurzen Decken zusammenkrümmten wie Kinder im Armenhaus, die wissen, dass ihnen gleich Hiebe drohen.
Im Morgengrauen: die Küstenebene. Am späten Vormittag: Madras. In Madras ein Frühstück mit bitter gewordenem Tee und kleinen blassgelben Spiegeleiern (für jeden eins), und dann ein Zugwechsel.
»Letzte Etappe«, sagte Peter zu Muscateer.
Von nun an würden sie nach Westen in den Staat Mysore und nach Bangalore fahren, zunächst zurück über die Küstenebene und dann langsam ansteigend auf das Plateau hinauf, das gerade hoch genug lag, um die Sonne abzumildern, ohne dass es kalt wurde; und somit in ein verheißungsvolles Land voller blauer Tage und wispernder Palmbäume, ein herrschaftliches Land, in dem man von Reichtümern und heiterer Geruhsamkeit umgeben war, ein legendäres Land mit Polo-Chukkas und doppelten Whiskys und Tigerjagden, ein annehmliches Land, in dem ein Heer von Dienern sich vor Fahnenjunkern verbeugte und sich um alles kümmerte und Offiziersbriefe ausgegeben wurden wie bunte Bouquets auf einem Ball. Mit einem Ruck und einem Schlingern wand sich der Zug aus Madras heraus: Heute Abend Bangalore – dieser Ruf schallte durch die Waggons; Abendessen in Bangalore – SAGT ES ALLEN WEITER!
Sie erreichten Bangalore um 2.30 Uhr in der Nacht.
Als sie nun endlich angekommen waren, sollte sich zeigen, dass man sie sehnlichst erwartet hatte. Ein mütterlicher Stabsfeldwebel teilte sie, unter der Aufsicht eines plattnasigen Gurkha-Hauptmanns, der ihn jedoch nicht behelligte, in Züge auf und wies sie in eine ganze Flotte von Pritschenwagen mit offenem Verdeck ein, die sie durch enge Basarstraßen und dann durch Vororte mit schemenhaft erkennbaren, großzügigen Wohngebäuden transportierten und auf einem flachen Sandplatz anhielten, scheinbar mitten im Nirgendwo, tatsächlich aber mitten auf dem Gelände der Offiziersschule. Denn auf beiden Seiten des Sandplatzes tauchten aus dem Dunkel der Nacht lange, graue Gebäude mit niedrigen Verandas auf, von denen jedes, wie man ihnen mitteilte, eine Messe war, und in einer davon wurden sie alle unverzüglich und reichlich verköstigt.
Währenddessen hatten sich indische Träger in großer Zahl eingefunden und wurden von dem mütterlich wirkenden Stabsfeldwebel und zwei friedfertigen Helfern so aufgeteilt, dass je ein Träger für vier Fahnenjunker zur Verfügung stand. Jeder der Träger klaubte nun umgehend die Gurte mit der Feldausrüstung seiner vier jungen Sahibs auf und führte sie dann, sich höflich entschuldigend, dass er die Koffer erst später holen könne, im Trab trippelnd (nicht schneller als die Engländer gingen) zu den Quartieren der Fahnenjunker, die aus Reihen von parallel angelegten, einstöckigen Basha-Zelten bestanden, von denen jedes fünfzehn Abteilungen enthielt und folglich einen Zug von dreißig Fahnenjunkern, immer zwei Kameraden zusammen, beherbergte. Die Betten waren mit sauberem Leinen bezogen und mit Moskitonetzen ausgestattet; in den angrenzenden Duschen gab es heißes Wasser; neben jedem Kissen standen ein Trinkglas und eine Karaffe; doch was auch neben jedem Kissen lag, und weniger als Annehmlichkeit gedacht, war eine höfliche Notiz, dass man Mr. … (je nachdem) in der OS willkommen heiße und um 6.15 Uhr am folgenden Morgen zum Appell auf dem Sandplatz zwischen den beiden Messegebäuden erwarte. Es war bereits 4.45 Uhr.
Also traten sie um 6.15 Uhr an (nachdem sie von ihren Trägern mit Tee und grünen Bananen um 5.45 Uhr geweckt worden waren), und nun wurde alles ganz klar organisiert: Sie würden drei Kompanien bilden, zwei mit drei Zügen und eine mit vier; Kp A und B würden eine der beiden Messen benutzen (»Clive«), während Kp C mit ihren vier Zügen die andere und etwas kleinere Messe (»Wellesley«) benutzen würde. Jeder Zug würde von einem Hauptmann der Indischen Armee kommandiert und zu weiten Teilen auch ausgebildet werden, disziplinarisch unterstützt von einem Junior-Unteroffizier aus den Reihen der Offiziersanwärter; jede Kompanie würde von einem Major der Indischen Armee kommandiert werden, unterstützt von einem (britischen) Stabsfeldwebel und einem Senior-Unteroffizier aus den Reihen der Offiziersanwärter. Derzeit