Blast nun zum Rückzug. Simon Raven. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Raven
Издательство: Bookwire
Серия: Almosen fürs Vergessen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961600465
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Kirmeswelt zu bleiben. Barry erschauderte, wirbelte herum und stürzte davon.

      »Kluger Junge«, sagte der Motorradfahrer zu Alister. »War­um tust du nicht dasselbe?«

      Doch Alister wich nicht von der Stelle. »Hier sind fünfzehn Rupien«, sagte er.

      Der Fahrer nahm das Geld, rührte sich aber nicht.

      »Durch den Eingang hinein«, sagte er zu Alister, »die erste Tür links und dann hoch auf die Galerie.«

      »Und dann?«

      »Such dir eine aus. Da oben findest du alles, was du brauchst.«

      »Besonders privat ist das dort aber nicht.«

      »Was erwartest du für fünfzehn Chips?«

      Alister atmete tief ein und stapfte durch die Eingangstür.

      Als Barry sich wieder in der Unterkunft der Offiziersanwärter im Durchgangslager eingefunden hatte, befand sich alles in Aufruhr. Ein eiliger Verlegungsbefehl war eingetroffen (niemand wusste genau, woher, doch war das Wort »Delhi« in aller Munde), und so sollten die dreihundert Offiziersanwärter um Mitternacht den Zug besteigen. Da die meisten kaum persönliches Gepäck mitführten, stellte das Zusammenpacken sie nicht vor Probleme, aber es waren ungeheuer viele Formalitäten einzuhalten. Ärgerlich stiefelten die zuständigen Hauptfeldwebel mit ihren dicken, in dreifacher Ausführung vorhandenen Listen hin und her, während woanders leise miteinander redend Offiziere gruppenweise beieinanderstanden, die man zuvor noch nie gesehen hatte und die sich jetzt ungeduldig mit ihren Stöckchen an die Waden schlugen.

      »… Morrison, P.«

      »Hier, Herr Hauptfeldwebel!«

      »Mortleman, A.«

      »Der ist kurz spazierengegangen. Ist gleich zurück.«

      »Das will ich aber auch hoffen, Junge!«

      »Er konnte ja nicht wissen, was jetzt passiert.«

      »Er konnte es nicht wissen, Junge? Ich konnte das auch nicht wissen, und trotzdem bin ich hier und schreie mir die Seele aus dem Leib, oder etwa nicht? Stehe auf dem Exerzierplatz, wenn man mich braucht, und es ist mir gleich, ob es Heiligabend ist oder der Jüngste Tag. Murphy, J. … Muscateer, Earl von … Zacccharias, W. Raus mit Ihnen – und angetreten!«

      »O bitte, Herr Hauptfeldwebel: Ich hab solchen Durchfall!«

      »Folgen Sie der Kolonne in Ihrem Tempo bis zur Kleiderkammer und kneifen Sie die Arschbacken zusammen. Was die­­ser Haufen hier braucht, wäre ein Kindermädchen!«

      »Verzeihen Sie, Herr Hauptfeldwebel, dürfte ich …?«

      »Ja, Eure Lordschaft? Haben Sie Ihr Krönchen verloren, Eure Lordschaft? Nein? … Bloß Ihr Soldbuch? Sonst haben Sie nichts verloren? Nun, dann sehen Sie besser zu, dass Sie es wiederfinden, Mr. Lord Muscateer, Sir, aber wirklich, denn wenn Sie jemand danach fragt und Sie haben es nicht, dann sind Sie namenlos – oder etwa nicht, my Lord ? – und das würde bedeuten, dass Sie ruckzuck in einem Verlies verschwinden und man nie wieder von Ihnen hört. Raus !«

      »… Morrison, P.«

      »Herr Hauptfeldwebel.«

      »Tropenfeldblusen: drei, von OA während der Verbringung zum Standort zu tragen, Hosen drei, Shorts drei. Hier unterschreiben. Geht noch mit dem Zusammenkneifen, hoffe ich?«

      »Grade so, Herr Hauptfeldwebel.«

      »Mortleman, A. Das ist der, der grade Gassi geht. Einer von Ihnen, meine Herren, schafft ihn mir besser gleich her, das kann ich Ihnen sagen, denn wenn er heute Nacht nicht in dem Zug sitzt, dann kriegen sie ihn wegen Desertierens dran – hat sich während stetiger Marschbereitschaft von der Truppe entfernt. Was hat er für eine Größe? … So ’n Riesenkerl, der Lumpenhund, was? Also, Sie nehmen diese Zuteilung hier für ihn mit, Mr. Morrison, P., und jetzt nichts wie raus hier mit Ihnen, bevor Ihr Gekröse am Ende noch in meiner schön sauberen Kleiderkammer landet. Murphy, J. – Tropenfeldblusen, Hosen, Shorts – und hier haben wir ja wieder Seine Lordschaft, für Sie habe ich eine ganz besondere Montur, my Lord, aus Seide …«

      Gott!, dachte Peter, als er auf der Schüssel saß, seine eigene und Alisters Tropenuniform neben seinen Knöcheln aufgestapelt, wie brühwarmes Wasser, und es rauscht nur so durch. Soll ich mich krankmelden? Mich krankmelden und nicht mitfahren? Es kann Wochen dauern, bis ich dann hier wegkomme; kann sein, dass sie mich einer später angekommenen Gruppe zuteilen, kann sein, dass sie sagen, ich hätte meine Chance verpasst – und sie schicken mich einfach zurück nach Hause. Kalyanische Kackerei – aaaaaautsch – aber es wird ja wohl eine Toilette im Zug geben, man soll in fremden Ländern nicht von der Seite seiner Freunde weichen, man darf wegen einer Lappalie wie der Kalyanischen Kackerei nicht aus der Reihe treten. Pfffffchiiiijuuuuh – damit sollte nun aber für die nächsten zwanzig Minuten erst mal Ruhe herrschen.

      Jemand betrat eine Kabine in der Nähe und musste sich fürchterlich übergeben. Da es keine Türen gab, sah Peter kurz hin, als er vorüberging: Alister, würgend und schwankend über den Toilettensitz gebeugt.

      »Alister.«

      »Peterchen. Ich bin so was von besoffen. Jetzt geht’s mir schon besser, aber wie müde ich bin! So müde. Hilf mir ins Bett, Peterchen.«

      »Nix da Bett, Alister! Du musst in diese Tropenuniform hier steigen und deine Ausrüstung herrichten und um 23 Uhr auf dem Exerzierplatz stehen, damit der Transporter uns mitnimmt, so dass wir um Mitternacht den Zug besteigen können.«

      »Gott, mir geht’s dreckig. Und du siehst auch schrecklich aus. Los, ins Bett!«

      »Nix da Bett! Geh los und pack dein Zeug. Obwohl, ich glaube … ich muss erst noch mal kacken gehen …«

      Also ging Peter noch mal kacken, und Alister übergab sich aus Kameradschaft ein weiteres Mal – und danach taumelten sie zu ihrem Basha (Zelt) und legten sich trotz Peters Mahnung, dies nicht zu tun, auf ihre Charpais (Liegen), während Barry um sie herumfuhrwerkte, um ihre Koppeltragegestelle zu bestücken und Alister dabei lüsterne Fragen zu stellen.

      »Die hat mir dieses Zeug gegeben«, sagte Alister. »War kein Alkohol, glaube ich. Irgendwas, mit dem ich es besser hinkriegen würde, meinte sie. Richtig teuer, dreißig Chips extra, aber es hat wirklich gewirkt und …«

      »… und hat dich jetzt übel erwischt«, sagte Barry trocken. »Heb mal deinen Hintern, bitte, Alister, sonst krieg ich die Hosen nicht hoch. Gut so. Ich schau bloß mal schnell, wie Peter zurechtkommt, und dann bin ich gleich wieder bei dir und helfe dir mit deinem Tornister und der restlichen Ausrüstung …«

      »… Morrison, P.«

      »Herr Hauptfeldwebel!«

      »Mortleman, A. … Schön, dass Sie inzwischen auch eingetroffen sind, Mr. Mortleman. Sie haben hoffentlich einen angenehmen Spaziergang hinter sich, Sir, auch wenn Sie jetzt davon ganz grün im Gesicht sind. Murphy, J. … Eure Lordschaft … Zaccharias, W. Und jetzt ab mit Ihnen allen aufs Transportfahrzeug. Wenn Sie erlauben, Mr. Mortleman. (Herrgott, Bürschchen, was haben Sie denn getrunken? Sie stinken ja wie ein Turm der Parsen. Hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie nie etwas trinken sollen, was diese Mädchen Ihnen anbieten?) Und hoch den Hintern – danke schön, Mr. Strange! Meine Empfehlung, die Herren, und eine angenehme Reise nach Bangalore. Es wird Ihnen dort schon gefallen, aber ich gebe Ihnen einen letzten Rat: Rühren Sie bloß niemals die Orangenbaisertorte in Ley Wongs chinesischem Restaurant an!«

      Als die Weihnachtssonne über ihnen aufging, fuhren sie gerade durch Poona, ihr Weihnachtsessen verspeisten sie auf einem Ausweichgleis in Solapur.

      Aufgrund von Peters Kalyanischer Kackerei und Alisters wie­der­holtem Erbrechen war die Nacht unruhig gewesen. Da es pro Waggon nur ein WC gab und jeder Waggon zwei Züge mit Fahnenjunkern transportierte, bei denen überdies in der hellen Aufregung selbst die nicht an der Kalyanischen Kackerei Leidenden den starken Drang verspürten, sich zu erleichtern, waren beträchtliche hygienische und logistische Schwierigkeiten aufgetreten. Barry tat jedoch, was er konnte, um das Unwohlsein