Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mikhal Dekel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806243185
Скачать книгу
Mikhal. Mein männlicher Namenspatron.

      Das Polen, in das Michel Teitel der Erste im späten 18. Jahrhundert aus irgendeinem Winkel des österreichisch-ungarischen Reiches einwanderte, war ein Konglomerat weitgehend autonomer Regionen, über die ortsansässige Adlige und der Klerus herrschten. Dieser lose Zusammenschluss wuchs oder schrumpfte, wurde erobert und annektiert, und irgendwann hörte er dann ganz auf zu existieren – das unabhängige Königreich Polen war Geschichte. Doch über 150 Jahre hinweg, in Kriegen und Hungersnöten, unter antijüdischen Gesetzen und deren Aussetzung, während die Grenzen wanderten und die Machthaber wechselten, blieben die Teitels in Ostrów.

      Ihre Firma, Browar Braci Teitel („Brauerei Gebrüder Teitel“), war ein Familienunternehmen unter der Leitung von Hannans Großvater Michel Teitel. Später übernahmen sein Onkel Icok, der an der Münchner Brauerakademie seinen Abschluss gemacht hatte, und sein Vater Zindel als Icoks Stellvertreter, die Geschäfte. Andere Mitglieder des Teitel-Clans waren als Buchhalter oder Abteilungsleiter in der Brauerei beschäftigt; manche Familienmitglieder – wie auch die Familie meines Vaters – wohnten auf dem Gelände der Brauerei. Bei einem unserer Gespräche skizzierte mir meine Tante Regina, die ihr Arbeitsleben als technische Zeichnerin in einem Jerusalemer Architekturbüro verbracht hatte, einen Lageplan des Firmengeländes. In der Mitte war das Hauptgebäude der Brauerei, in dem sich auch die Büros und – im Kellergeschoss – die Mälzerei befanden. Darum gruppierten sich ein Trockenturm mit Blitzableiter sowie Lagerräume für die Gerste, die Flaschen und Korken. Zur Linken stand das eingeschossige Haus, in dem Zindel, Ruchela, Hannan und Regina lebten; zur Rechten ein roter Backsteinbau mit zwei Stockwerken – dort wohnten Hannans Onkel Icok mit seiner Frau und den vier Kindern sowie – im Obergeschoss – die Großeltern Fejge und Michel. Zur Straße hin gab es noch ein paar kleinere Gebäude für verschiedene Zwecke, dazu einen Park- und Ladeplatz für die Kutschen und Lastwagen, die das Bier holten oder Getreide, Holz und Eis brachten. Die Kinder, erzählte mir meine Tante, spielten auf dem Hof Verstecken, zwischen den Holzstapeln und großen Kisten, oder auch im Garten, auf dem rückwärtigen Teil des Areals. (Gut konnte sie sich noch an die rankenden Stangenbohnen und die Apfelbäume erinnern, die dort wuchsen.) Die Teitels waren keine richtigen Landwirte, aber sie besaßen doch ein paar Pferde, Schafe und Kühe, dazu noch weitläufige Gerstenfelder für die Brauerei. Sommergerste war es, die eine gemäßigte Witterung liebt und dann rasch und vollkommen sauber geerntet, gelagert, gemälzt, getrocknet, gemahlen und extrahiert werden musste.

      Es schien vollkommen undenkbar, sich Hannan außerhalb dieses Clans aus bestens ausgebildeten Vollzeitbrauern und Teilzeitbauern vorzustellen; nicht etwa, weil dort alles ideal oder ein Familienidyll ohne jeden Konflikt gewesen wäre – Regina hatte mir auch erzählt, dass die Familie 1939 noch nicht einmal zusammen Pessach gefeiert hatte –, sondern vielmehr, weil die Familie und der Familienbetrieb eine feste Grundlage für ihrer aller Zukunft bildete, und damit auch für Hannans Zukunft. Schon im zarten Alter von zwölf Jahren hatte er die Maische gerührt, beim Entladen der Gerstensäcke geholfen sowie, ab und an, die Fahrer auf ihren Runden begleitet. Wäre der Krieg nicht gewesen, so hätte mein Vater wahrscheinlich irgendwann in der Brauerei gearbeitet, Seite an Seite mit seinem Vetter Ze’ev (Wolf) Teitel, dem ältesten Sohn seines Onkels Icok. „Hannan liebte es einfach, in der Fabrik umherzustreifen und mit den Arbeitern und Fahrern zu plaudern. Und alle in der Brauerei liebten ihn; er war so ein fröhliches, freundliches Kind“, wusste Regina mir zu berichten. Sie selbst war wohl ein nicht ganz so freundliches Kind mit einem stürmischen Temperament („unser Kindermädchen Nanja Aslanowa hasste mich, aber deinen Vater hat sie geliebt“). Ihre Launen und Wutausbrüche sorgten dafür, dass sie als ein „kleines Monster“ gefürchtet war, nicht zuletzt vom Kindermädchen der Familie. Sie gab sich nur wenig mit den Brauereiarbeitern oder anderen Personen außerhalb der Familie ab. Sie verließ auch selten das Firmengelände und hatte Ostrów tatsächlich noch nie verlassen, als sie am 6. September 1939 mit einem Mal in die große weite Welt hinausgestoßen wurde.

      In den ersten Monaten der deutschen Besatzung verließen, polnischen Quellen zufolge, rund 1,2 Millionen polnische Staatsbürger ihr Land und überquerten die Grenze zur Sowjetunion: Juden waren darunter, andere Polen der Mittel- und Oberschicht, die polnische Intelligenz, Ukrainer, Weißrussen und Litauer, von denen einige während des Ersten Weltkriegs in genau entgegengesetzter Richtung aus Russland nach Polen geflüchtet waren. Die Entscheidung für die Sowjetunion, deren Politik in den dreißig Jahren zuvor mindestens genauso viel Leid über die Region gebracht hatte wie die Deutschen (wenn nicht sogar mehr), lag keineswegs auf der Hand. Bracha Mandel, ein einstiges „Kind von Teheran“ und jetzt eine gute Freundin meiner Tante Regina, versteckte sich mit ihren Eltern in einem Wald nahe ihrem Haus. Über einen Monat blieben sie dort und schlichen sich Abend für Abend im Schutz der Dunkelheit nach Hause, um dort Proviant zu holen. Sie wollten erst einmal abwarten und sehen, wie die Dinge sich entwickeln würden.

      Am 6. September 1939 – die Nazis waren noch nicht in Ostrów einmarschiert –, floh die Familie Teitel aus der Stadt. Sie luden, was sie greifen konnten, auf zwei Lastwagen der Marke Chevrolet und ließen zurück, was über acht Generationen aufgebaut worden war. Am 6. September 1939 endete die Kindheit von Hannan und Regina, endete ihre Existenz als Kinder. Stattdessen wurden sie zu kleinen Erwachsenen – zu den Personen, die ich schließlich als meinen Vater und meine Tante kennen sollte: ruhig, verantwortungsbewusst, intelligent, immer darauf bedacht, möglichst wenig Raum einzunehmen, als wenn sie noch immer in einen überladenen Lastwagen gezwängt wären.

      Vom Moment ihres überstürzten Abschieds an waren sie Migranten, Wandernde, winzige Tröpfchen in jener Flüchtlingsflut, die zu Fuß, in Kutschen und auf Karren, mit Autos und Lastwagen über die Landstraßen Polens strömte und immer weiter anschwoll. Der 6. September 1939 war der erste von 1277 Tagen, die Hannan und Regina als Flüchtlinge verleben sollten; für ihre Eltern wurden es schließlich fast 5000.

      Polen war eine Wunde für meinen Vater, meine Tante und auch für mich, eine ererbte Wunde. Dass „die Polen genauso schlimm wie die Deutschen“ waren, hatte ich verinnerlicht, ohne dass man es mir jemals hätte ausdrücklich sagen müssen. Aber nicht alle, mit denen ich darüber sprach, teilten meine Beklemmung, wenn sie an Polen dachten. Stanley Diamond etwa, ein kanadischer Rechtsanwalt und Gründer von „Ostrów Mazowiecka Research Family“, dem Verein, dem ich die Bevölkerungsstatistik von Ostrów und den Stammbaum meines Vaters verdanke, sagte mir, seine Erfahrungen bei der Recherche im Gemeindearchiv von Ostrów sei „wunderbar“ gewesen. Und Ilana Karniel, das einstige Flüchtlingsmädchen, die mir das Tagebuch ihres Bruders Emil überlassen hatte, meinte, dass für sie kein Tag vergehe, an dem sie nicht ihre polnische Kindheit vermisse. Miryam Sharon, ebenfalls ein früherer Flüchtling mit polnischen Wurzeln, sagte mir, dass sie bei einem kürzlichen Besuch in Polen „eine seltsame Vertrautheit“ empfunden habe: „Ich meinte, [die Polen] zu kennen, und fand, dass ich ihnen vergeben konnte, weil auch sie ja gelitten hatten, und dass ich die ganze Zeit dort geblieben war, dass ich die Straßen, in denen ich aufgewachsen war, eigentlich nie ganz hinter mir gelassen hatte, dass ich da einfach hingehörte. Ich fühlte mich überhaupt nicht fremd; vielmehr kam es mir vor, als wäre ich nach sechzig Jahren endlich nach Hause gekommen.“7

      Meine Tante, eine im Allgemeinen sanftmütige, vernünftige Person, ließ sich davon nicht beeindrucken. „Die polnischen Brauereiarbeiter haben gejubelt, als wir Ostrów verlassen haben“, sagte sie. „‚Jetzt gehört der browar uns!‘, haben sie gerufen.“ 1992, ein Jahr nachdem die sozialistische Volksrepublik Polen ihren Übergang zur demokratischen Dritten Republik vollzogen hatte, reisten sie und Hannan mit ihren jeweiligen Ehepartnern nach Polen. In Ostrów beschafften sie sich Kopien ihrer Geburtsurkunden, versuchten – allerdings ohne Erfolg – etwas über mögliche Entschädigungen für den verlorenen Familienbesitz herauszufinden und reisten schließlich deprimiert wieder ab. Im Jahr darauf starb mein Vater, der auf dem Sterbebett noch Polnisch gesprochen hatte.

      Im Jahr 2011 reiste ich zum ersten – und damals dachte ich noch: auch zum letzten – Mal in meinem Leben nach Polen. Ich hatte vor, nach Siemiatycze zu fahren, wo die Familie meines Vaters auf ihrer Flucht kurzzeitig Schutz gesucht hatte. Und auf dem Weg dorthin wollte ich auf einen Sprung in Ostrów Mazowiecka vorbeischauen. In meiner Vorstellung gehörte Polen zur Vorkriegsvergangenheit meines Vaters – und war damit, was mich betraf, größtenteils