Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mikhal Dekel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806243185
Скачать книгу
mein Vater im Iran ankam, umfasste dessen jüdische Bevölkerung bereits weitere Gruppen: polnisch-jüdische Flüchtlinge, die mit früheren Transporten aus Zentralasien gekommen waren; deutsche und österreichische „Hitlerflüchtlinge“ (wie ein Interviewter sie bezeichnete); eine „große Zahl“ von Juden aus dem usbekischen Buchara, die nach der Russischen Revolution vor den Sowjets geflohen waren; „Juden aus dem Kaukasus, die ihr persisches Bürgerrecht geltend machten, um aus der Sowjetunion auszureisen und sich in Teheran niederzulassen“; „eine Gemeinde von ‚Aschkenasim‘ aus Russland, die nach der Revolution [in den Iran] gezogen waren“; Flüchtlinge aus dem Irak, darunter auch „wohlhabende irakische Kaufleute, die aus Geschäftsgründen in Teheran ansässig waren“;27 und Juden aus Palästina: 450 gelernte und ungelernte Arbeiter, Ingenieure, Werkmeister, Bauarbeiter, Graveure, Feinmechaniker, Installateure, Buchhalter und Angestellte, die als Mitglieder des jüdischen Arbeitskommandos Solel Boneh („Straßen- und Hochbau“) auf Lastwagen von Palästina in den Iran gekommen waren.

      Anfang 1942 eroberten Soldaten des japanischen Kaiserreichs die britische Kolonie Burma, das heutige Myanmar. Damit war der Iran unter den sehr wenigen Ölfördergebieten, die sich noch in alliierter Hand befanden, eines der wichtigsten. Die Anglo-Iranian Oil Company sah sich gezwungen, in ihrer Raffinerie in Abadan am Persischen Golf die Produktion rapide zu steigern, wozu jedoch die Arbeitskräfte – und vor allem die entsprechend ausgebildeten Fachkräfte – fehlten. Also erklärte der britische Premierminister Winston Churchill, den man von der misslichen Lage in Kenntnis gesetzt hatte: „das werden die Juden aus Palästina erledigen“.28 Solel Boneh, gegründet 1924 als jüdisches Bauunternehmen, hatte zu diesem Zeitpunkt schon seit beinahe zwei Jahrzehnten Infrastrukturprojekte für die britische Mandatsmacht in Palästina umgesetzt. Jetzt wurden die Arbeitskräfte des Unternehmens als Teil der alliierten Kriegsanstrengungen an den verschiedensten Orten im Nahen Osten eingesetzt. Einige Mitarbeiter von Solel Boneh, die man in den Iran geschickt hatte, waren erst wenige Monate vor meinem Vater dort angekommen; einige hatten in Palästina die britische Staatsbürgerschaft erworben; manche fanden im Iran zum Zionismus; andere lehnten zionistische Aktivitäten strikt ab, ja versuchten, sie sogar zu unterbinden; mehrere waren absolute Hochstapler, die unter dem Vorwand in den Iran eingereist waren, für Solel Boneh tätig zu sein, in Wahrheit jedoch für die Organisation Mossad Le’alija Bet arbeiteten, eine Abteilung der zionistischen Untergrundorganisation Hagana, deren geheime Mission während des Krieges es war, jüdische Flüchtlinge nach Palästina zu schleusen.29

      Der Iran des Jahres 1942 stand, soweit ich es überblicken konnte, an einem „Ereignisnullpunkt“, einem noch unbestimmten Augenblick in der Geschichte, an dem die Ereignisse sich in viele, ganz unterschiedliche Richtungen hätten entwickeln können – aber auch an einem Punkt der Neugeburt, an dem viele Menschen ihre alte Identität ablegten und jemand ganz anderes wurden.

      Im Jahr 1942 begann auch die persisch-jüdische Gemeinde, sich zu organisieren, und das Teheraner Komitee für jüdische Flüchtlinge wurde gegründet, dem Repräsentanten der unterschiedlichen jüdischen Fraktionen angehörten, die in der Stadt vertreten waren: ein persisch-jüdischer Kaufmann, der auch Mitglied der früheren Teheraner Zionistengruppe gewesen war; ein Arzt; ein Apotheker; zwei Flüchtlinge aus dem Irak; und ein deutsch-jüdischer Flüchtling aus Berlin.30

      Jüdische beziehungsweise zionistische Hilfsorganisationen aus Amerika kamen 1942 ebenfalls in den Iran, um meinem Vater und den anderen jüdischen Flüchtlingen dort beizustehen. Sie nahmen mit Dr. Sapir und anderen Kontakt auf, um die Details der Flüchtlingsversorgung mit ihnen abzustimmen. Noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten sie das Mahalleh-Hospital und andere Einrichtungen unterstützen.

      Auch war 1942 das Jahr, in dem die ersten Vertreter von Solel Boneh und später auch der Jewish Agency for Palestine, der Vertretung der jüdischen Bevölkerung im britischen Mandatsgebiet, in den Iran kamen und dort nicht nur mit den polnisch-jüdischen Flüchtlingen, sondern auch mit der ansässigen persisch-jüdischen Gemeinde Kontakt knüpften. Auch an den Schah von Persien wandten sie sich erstmals und brachten so die Saat einer umfänglichen Zusammenarbeit zwischen dem Iran und dem neugegründeten Staat Israel aus, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzen und bis zur Islamischen Revolution im Jahr 1979 Bestand haben sollte.

      Und obwohl ich es noch nicht wusste, war 1942 das Jahr, war der Iran des Jahres 1942 der Ort gewesen, wo und als mein Vater aufhörte, ein „polnischer Jude“ zu sein, und stattdessen begann, eine neue, jüdisch-israelische Identität anzunehmen – die einzige, die ich kennengelernt hatte. Auf einem Foto aus Teheran, auf dem er zu sehen ist, sieht er klein und mager aus, wie er da aus der dritten Reihe einer Gruppe von allesamt unterernährt wirkenden Flüchtlingsjungen in die Kamera schaut – aber seine Augen lächeln.

      Abbildung 2: Ein Gruppenfoto aus Teheran: Hannan steht – als Fünfter von links – in der hintersten Reihe.

      2

       Eine liberale Familie

      Ostrów Mazowiecka (Polen), 1939

      Vier Fotos habe ich gefunden, auf denen mein Vater vor dem Krieg zu sehen ist. Auf meinem Lieblingsbild spaziert er mit seinen Eltern und seiner Schwester die Brokowska ulica entlang, eine Straße ihrer Heimatstadt, die ein Stück vom Brauereibetrieb und Haus der Familie entfernt verläuft. Hannan geht aufrecht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Er trägt die Schuluniform von Tarbut, einem Verbund hebräischsprachiger, aber säkularer Schulen, die in der Zwischenkriegszeit in Osteuropa aktiv waren: eine grauschwarze Jacke mit abgestimmter, knielanger Hose und der dazugehörigen Mütze. Zu seiner Linken geht seine Schwester Regina, die ein langärmliges, ebenfalls knielanges Kleid anhat, dazu eine Kappe auf dem Kopf. Gleich hinter den beiden gehen die Eltern: Ruchela trägt einen eng anliegenden Rock, Handschuhe und Hut; Zindel trägt Anzug mit Krawatte und dazu ebenfalls einen Hut, hat eine Brille auf der Nase und (wie auf jedem Foto, das ich von ihm besitze) eine Zigarette zwischen den Fingern. Ein groß gewachsener, kräftiger Mann ohne Hut folgt dicht hinter ihnen, fast wie ein Leibwächter. Ihn kenne ich nicht und habe auch nicht herausfinden können, wer er ist. Ein weiterer Mann ist hinter meinem Vater zu erkennen, aber er hat sich von der Kamera weggedreht, als wollte er nachsehen, wo der Rest der Gruppe bleibt. Das Foto ist nicht datiert, aber dem Alter der Kinder nach zu urteilen kann es kaum früher als 1937 aufgenommen sein. Zufrieden sehen sie aus, gut angezogen und ungezwungen, ihre Augen lächeln. Natürlich können Fotos täuschen, aber in gewissen Hinsichten geben sie doch verlässliches Zeugnis. Das hier ist keine gestellte Aufnahme aus dem Fotoatelier; es ist ein Schnappschuss aus dem Leben einer Familie – meiner Familie. Breit und sauber liegt der Gehweg vor ihnen; ihre Kleidung sieht aus wie frisch gebügelt. Mein Vater wirkt als Zehn- oder Elfjähriger größer als auf dem Foto, das Jahre später im Iran von ihm gemacht wurde. Er erscheint fast so groß wie sein Vater, und das täuscht nicht: Auf allen anderen Gruppenfotos der Familie liegt Zindels Arm auf seiner Schulter auf.

      Abbildung 3: Hannan, Regina, Ruchela und Zindel Teitel in Ostrów Mazowiecka.

      Ich kenne ihn nicht, den stolzen, vollkommen unbeschwerten Jungen auf dem Foto, und ich erkenne in ihm auch nicht den Mann, der später mein Vater wurde.

      Der Junge auf dem Foto ist mein Vater vor dem Holocaust, bevor das Wort „Holocaust“ überhaupt geläufig war. Er spricht Polnisch und Jiddisch, dieser Junge, Sprachen, die ich nicht beherrsche. Ihm scheint das Land seiner Geburt kein bisschen von dem Grauen einzuflößen, das man mir später irgendwie vermittelt hatte, ohne dass ich über dieses Land etwas gewusst hätte. Aber damit war ich nicht allein: Alle heutigen Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte der polnischen Juden befassen, müssen die jüdische Vorkriegszeit in Polen gewissermaßen über die Hürde des Holocaust hinweg lesen, vorbei an den Klippen, die Jahrzehnte der historischen Amnesie und des Revisionismus in Kommunismus und Postkommunismus hinterlassen haben. Alles, was ich auf dem Foto sah – den Stoff, aus dem das alltägliche Leben des jungen Hannan gemacht war –, hatten die Nazis ausgelöscht, und die