1941 schließlich gab es im Iran eine neue, ultranationalistische Partei namens Hezb-e Pan Iranist („Paniranische Partei“), deren explizit antisemitisches Programm deutliche Anklänge an jenes der Nationalsozialisten aufwies. Zugleich gab es deutsche Ingenieure und andere Fachkräfte im Land, von denen manche NSDAP-Mitglieder waren und manche Juden. (Es gab aber auch Perser in Deutschland, die, wie Salars Onkel Yahya, nur darauf warteten, aus ihrer soliden deutschen Ausbildung endlich Kapital zu schlagen – als Manager einer iranischen I. G. Farben oder Ähnliches.) Es gab Agenten der Gestapo im Iran, die von einheimischen Polizeikräften bisweilen unterstützt wurden. Es gab eine Deutsche Schule, von deren Lehrern einige Nazis waren. Berliner Sender verbreiteten die entsprechende Propaganda in deutscher Sprache, und Nazi-Sympathisanten im Iran warteten, wie Salar mir aus Teheran schrieb, „nur darauf, dass die Wehrmacht die sowjetischen Truppen im Kaukasus schlagen und nach Persien vorstoßen würde“. Der schiitische Klerus hegte Sympathien für Hitler, ja es ging sogar das Gerücht um, der „Führer“ sei heimlich zum Islam konvertiert und werde sich nach dem Krieg als ein wahrer haidar zu erkennen geben, als ein Held und „Löwe des Islam“. Die im Iran ansässige jüdische Bevölkerung war groß und durchaus beunruhigt, blieb vorerst jedoch unbehelligt. „Die Juden hier haben Angst“, meldete ein Beobachter in einem Brief aus dem Iran, den ich in einem Buch über den Iran und die Juden zitiert fand. „Die Front rückt näher, und das macht den Leuten zu schaffen. Es hat schon erste Gewalttaten gegeben, und Gerüchte gehen um, das Eigentum der Juden solle verteilt werden, wenn der Feind erst einmal hier sei.“16 Jüdische Iraner wurden von den Regierungs-, Universitäts- und Militärposten entfernt, die man ihnen erst 35 Jahre zuvor geöffnet hatte. Es wäre also durchaus vorstellbar gewesen, dass der weitere Gang der Ereignisse eine andere, sehr viel dramatischere Wendung hätte nehmen können, sowohl für Flüchtlinge wie meinen Vater als auch für die einheimischen Juden des Iran. Aber er tat es nicht.
Am 25. August 1941, zwei Monate nachdem die Wehrmacht in der Sowjetunion eingefallen war und die Sowjets sich mit den westlichen Alliierten verbündet hatten, stießen britische und sowjetische Truppen in den Iran vor, setzten Reza Schah ab und schickten ihn ins Exil, sperrten Ahmad Matin-Daftari ein und setzten den Sohn des abgesetzten Herrschers, Reza Pahlavi, als dessen fügsameren Nachfolger ein. Eine Reihe von Faktoren hatte zu dieser Invasion geführt, nicht zuletzt die Angst, die iranischen Ölfelder, die sich seit 1909 in der Hand eines – inzwischen in Anglo-Iranian Oil Company umbenannten – mehrheitlich britischen Konsortiums befanden, könnten andernfalls den Deutschen in die Hände fallen. Deutsche Staatsbürger wurden nun aus dem Iran ausgewiesen: Frauen und Kinder schickte man zurück nach Deutschland, die Männer nach Britisch-Indien, wo sie interniert wurden. Die deutschen Juden jedoch, die von der iranischen Polizei anfangs zusammen mit allen anderen Deutschen zum Abtransport zusammengetrieben worden waren, wurden auf Betreiben der britischen Botschaft schnell wieder freigelassen. Ironischerweise – bedenkt man die von den Nazis gebrauchten „Judenstempel“ – war es nun ein von den britischen Behörden in ihre Reisepässe gestempelter Davidstern, der sie vor einer erneuten Deportation bewahrte. Nach erfolgter Invasion gingen die Briten und die Sowjets daran, den Iran in Einflussbereiche aufzuteilen: London erhielt den Süden, Moskau den Norden des Landes. Acht Monate später kam mein Vater ins Land. Zu diesem Zeitpunkt – und trotz wenig effektiver, aber kontinuierlicher Angriffe durch prodeutsch-persische Widerstandsgruppen – war der Iran bereits zu einem Anziehungs- und Sammelpunkt für britische, indische, russische und polnische Truppen geworden, von einem breiten Spektrum an Flüchtlingen aus diversen Ländern ganz abgesehen. Er war kosmopolitisch geworden, ein kleiner Nabel der großen Welt.
In Bandar Pahlavi, wo mein Vater und die anderen Flüchtlinge an Land gingen, bekam er „herrliches Essen“ von „gastfreundlichen Persern“, wie einige der Kinder, die damals dabei waren, auf den letzten Seiten von Henryk Grynbergs Buch Kinder Zions berichten.17 Und Emil Landau vermerkte in seinem Tagebuch, dass schon während der ersten Woche nach der Ankunft gleich wiederholt „ein elegant gekleideter Herr, der reich zu sein schien, … den gesamten Bestand einer Süßwaren- oder Krapfenbude aufkaufte“, um ihn unter den Flüchtlingskindern zu verteilen.
Sir Reader Bullard, der britische Botschafter im Iran, schrieb die anfängliche Herzlichkeit der Perser den Flüchtlingen gegenüber deren Image als „Opfer der Sowjetunion“ zu – und der standen die meisten Einheimischen wegen der sowjetischen Einmischungsversuche im Iran feindselig gegenüber. Die Islamwissenschaftlerin Mona Siddiqui macht das Konzept der Gastfreundlichkeit an dem koranischen Gebot fest, seinen Eltern, anderen Verwandten sowie Witwen, Waisen und anderen Bedürftigen „Gutes zu tun“, dem „nahen Nachbarn“ (dschāri dhī l-qurbā) wie auch dem „ferneren Nachbarn“ (l-dschāri l-dschunūbi) – und zu diesen letzten Kategorien zählen, zumindest nach Ansicht mancher Kommentatoren, auch Nichtmuslime.18 Mich überzeugte keine der beiden Erklärungen so richtig: weder Bullard mit seinem unverblümten Zynismus noch – obwohl mir natürlich bewusst war, dass religiöse Normen und Traditionen eine Rolle spielen – die direkte Verbindung, die manche zwischen heiligen Schriften und menschlichem Handeln ziehen wollen.19 Ich wusste nicht, ob die persischen Juden an der Aufnahme ihrer europäischen Glaubensbrüder und -schwestern beteiligt gewesen waren. Ich wusste, offen gesagt, überhaupt wenig von dieser uralten persisch-jüdischen Gemeinde und davon, wie sie sich in der mehrheitlich schiitischen Gesellschaft des Iran eingerichtet hatte. Alles, was ich wusste, war, dass mein Vater in den Iran gekommen war und – zu Beginn jedenfalls – freundlich, ja herzlich aufgenommen worden war. Und mehr brauchte ich am Anfang auch nicht zu wissen.
Aus den vier dicken Bänden der History of Contemporary Iranian Jews erfuhr ich dann, dass nach der schiitisch-imamitischen Richtung des Islam, die im Iran seit dem 17. Jahrhundert die vorherrschende ist, Juden und andere religiöse Minderheiten (dhimmi, „Schutzbefohlene“) als unrein (nadsches) gelten. Diese Auffassung wurde durch gewisse Aussagen über diese Gruppen im Koran und den Hadithen – gesammelten Aussprüchen des Propheten Mohammed – „rationalisiert und substanziiert“, wie der Historiker Daniel Tsadik es ausdrückt. Der Koran wirft bisweilen Juden und Christen in einen Topf – als ahl al-kitab („Leute des Buches“, „Buchbesitzer“). In anderen Passagen wiederum werden die Juden gesondert genannt – als banu isra’ll („Kinder Israels“) oder al-yahūd.
Wenn die Juden – oder überhaupt die „Buchbesitzer“ – im Koran oder seinen Kommentaren erwähnt werden, so geschieht dies manchmal mit feindseliger Ablehnung, manchmal aber auch mit einem Aufruf zur Toleranz. Grundlegend jedenfalls ist – zumindest in den Schriften der „imamitischen“ oder „Zwölfer“-Schiiten – die Überlegenheit der Schia und ihrer Gläubigen über alle anderen Religionen und deren Anhänger, nicht-imamitische Muslime eingeschlossen.20 Wer von den Nichtmuslimen sich mit seinem untergeordneten Status abfinden konnte, genoss unter dem Schutzschirm des Islam ein gewisses Maß an Rechtssicherheit. Im Gegenzug mussten diese Dhimmis aber auch Bedingungen erfüllen, Vorschriften einhalten und Gesetze akzeptieren, die ihre Unterwerfung deutlich zum Ausdruck brachten: „Juden dürfen kein frisches Obst kaufen“; „wenn ein Muslim einen Juden verflucht, soll der Jude schweigen und den Kopf neigen“; „wer aber einen Juden tötet, der soll gegen die Zahlung eines geringen Blutgeldes freikommen“; und so weiter.
Auch beim Handel mit Juden galten Beschränkungen, so etwa beim Kauf von Schuhen „und anderen ähnlichen Dingen“, die aus Leder gemacht waren. Insbesondere war es den Dhimmis streng verboten, einen Muslim zu verletzen; sich „Gräuel“ zuschulden kommen zu lassen (etwa, indem sie in der Öffentlichkeit Wein tranken); Bauwerke zu errichten, die jene der Muslime überragten; und so weiter.21 Die Vorschriften variierten und wurden in den verschiedenen Städten und Regionen des weitgehend dezentral gegliederten Iran unterschiedlich gehandhabt. Und sie galten, meistens zumindest, nicht nur für Juden, sondern für alle Dhimmis.
In dem Bericht über ihre Reisen durch den Iran in den 1880er-Jahren beschreibt die englische Entdeckerin und Naturkundlerin Isabella L. Bird, wie die „Juden von Hamadan [einer Stadt etwa 300 Kilometer nordwestlich von Teheran] tagein, tagaus getreten und geschlagen und auf der Straße angespien werden“, weil man sie „für noch unwerter als die Hunde hält“.22 Und der Historiker Bernard Lewis bemerkt anlässlich seiner Beschreibung der harschen Lebensumstände der Juden im Osmanischen Reich,