Die Kinder von Teheran. Mikhal Dekel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mikhal Dekel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806243185
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      Wie sich herausstellte, war das neoklassizistische Schulgebäude des Liceum Ogólnokształące („Allgemeine Oberschule“) die einzige – wenn auch indirekte – Spur, die von der Familie Teitel in Ostrów geblieben war.8 „Neben den zahlreichen negativen Aspekten, die sich aus dem Nebeneinander der beiden Bevölkerungsteile ergaben, gab es auch einige positive“, schreibt Andrzej Pęziński, ein älterer Bürger von Ostrów in einem unveröffentlichten Manuskript zur Geschichte seiner Heimatstadt – eine Einschätzung, die er mir im persönlichen Gespräch bestätigt hat. „Einige der wohlhabenden Juden – Teitel und andere – unterstützten den Bau des Gymnasiums in Ostrów, wo ihre Kinder zur Schule gingen, finanziell.“

      Abbildung 4: Icok und Zindel mit Hannan und Regina vor der Brauerei Teitel.

      Also gingen Salar, Krzysztof und ich hinüber zu dem neoklassizistischen Bau, der heute größtenteils intakt erhalten ist. An der Fassade zur Straße hin findet sich die Inschrift „Erbaut im Jahre 1928“, und im Eingangsbereich erinnert ein Gedenkstein aus Granit an „all jene Lehrer, die während des Zweiten Weltkriegs heimlich Unterricht abhielten“.

      Am Abend desselben Tages besuchten wir noch einen weiteren betagten Einwohner von Ostrów, den 87-jährigen Riczard Ejchelkraut, in seiner Wohnung in einem schon leicht verfallenen Plattenbau aus der kommunistischen Epoche Polens. Aus einem Stauraum in der Zwischendecke holte der alte Herr stapelweise Jahrbücher des Gymnasiums hervor, in deren Namenslisten sich gleich mehrere Teitels fanden: Sura Teitel, Berek Teitel und Wolf Teitel, dazu noch andere Namen, die mir nicht bekannt vorkamen. Unter der durchhängenden Decke, zwischen den abblätternden Wänden seines Wohnzimmers saß der spitzbübische Riczard, ein Charmeur alter Schule, und blätterte mit mir die alten Jahrbücher durch, während Salar uns dabei filmte, wie wir durch Gesten und Gebärden miteinander zu kommunizieren versuchten. An einer Wand im Flur hing ein großformatiger Stadtplan des Ostrów von einst, und in den Regalen standen ganze Bände einer lokalen Zeitschrift, die Riczard einmal herausgegeben hatte. „Es ist schon unheimlich“, sagte ich zu Salar, als wir in die beinahe totenstille Ostrówer Nacht davongingen, „wie riesige Backsteinpaläste zu Staub zerfallen, während bloßes Papier – Geburtsurkunden, Abschlusszeugnisse, Jahrbücher – manchmal unvergänglich scheint.“

      *

      Die Teitels gingen auch in den 1920ern nicht aus Ostrów weg, obwohl der polnische Nationalismus sich in jenen Jahren von seiner hässlichsten Seite zeigte und es sporadisch auch zu Angriffen auf jüdisches Eigentum kam (pogromchiks hatte Tante Regina das genannt, „Pogrömchen“). Selbst eine staatliche Auswanderungspolitik, die starke Anreize für die Emigration der polnischen Juden und anderer Minderheiten setzte, konnte die Familie nicht dazu bewegen, ihre Heimatstadt zu verlassen. Zahlreiche andere jüdische Bewohner von Ostrów, darunter auch einige Mitglieder der weiteren Teitel-Verwandtschaft, waren jedoch bereits emigriert, was auf eine potente Mischung aus antijüdischen Gewalttaten und der Emigrationspolitik des polnischen Staates zurückzuführen war. Dazu kam noch eine neuartige und ausgefeilte „Visums-Industrie“, die alle Auswanderungswilligen auf ihrem Weg in die Vereinigten Staaten oder nach Australien unterstützte. Zum ersten Mal seit fast einem ganzen Jahrhundert verschob sich das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Ostrów erheblich, bis die Katholiken schließlich die Mehrheit in der Stadt stellten.

      Spätestens Anfang der 1930er-Jahre hatte Roman Dmowski, der Mitbegründer und Chefideologe der nationalkonservativen, offen antisemitischen Bewegung „Nationale Demokratie“ (Endecja) sowie hauptsächlicher Rivale des liberalen Józef Piłsudski, seine Unterstützer auch in Ostrów, wo sie begannen, gelegentliche Boykotte jüdischer Geschäfte zu organisieren und ganz allgemein die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu verschärfen. Währenddessen waren die Geschäfte der Brauerei und des Sägewerks Teitel erfolgreich weitergelaufen, ja bis zur Mitte der 1930er-Jahre hatten sie sogar größere und ambitioniertere Geschäftsfelder erschlossen als jemals zuvor. Nach dem Ende der Prohibition in den Vereinigten Staaten im Dezember 1933 schmiedeten Icok und Zindel den Plan, ihr Bier künftig auch nach Übersee zu exportieren, wo ihnen inzwischen ein großer Kreis von Verwandten und ehemaligen Mitbürgern behilflich sein konnte. Sollten sie tatsächlich schon um diese Zeit mit dem Gedanken gespielt oder sogar versucht haben, Polen zu verlassen, dann habe ich niemals davon erfahren.

      Als wir am Abend bei Schnitzel und Bier in unserem Hotel saßen, um uns herum Fernfahrer und umherziehende Landarbeiter, fragten Krzysztof und ich Salar nach seinem Vater, Ali Abdoh, der nach dem Ausbruch der Islamischen Revolution aus dem Iran hatte fliehen müssen und seinen ganzen, beträchtlichen Besitz dabei zurückließ. Anderen Angehörigen des Abdoh-Clans, die insgesamt weniger Erfolg gehabt hatten als er, war es gelungen, ihr Vermögen schon lange vor dem Januar 1979 außer Landes zu schaffen, und so konnten sie in Amerika reüssieren, während Ali, zornig und verbittert, nur sechs Monate nach seiner Flucht aus dem Iran in Los Angeles an einem Herzinfarkt starb. „Er hielt sich für unbesiegbar“, sagte Salar. „Er war überzeugt davon, dass er mit der Regierung schon irgendwie würde verhandeln können.“ Zwar zweifelte ich daran, dass die Teitels sich ebenfalls für unbesiegbar gehalten hatten – aber zweifellos hatten sie selbst gegen Ende der 1930er-Jahre nicht mit dem Schlimmsten gerechnet.

      Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler durch Paul von Hindenburg, den Reichspräsidenten der Weimarer Republik, einer parlamentarischen Demokratie, zum deutschen Reichskanzler ernannt.

      Im Dezember 1933, Hannan besuchte seit drei Monaten die erste Klasse der Tarbut-Schule, wurde die Prohibition in den Vereinigten Staaten aufgehoben, und die Brauerei Teitel bereitete sich darauf vor, ihre Produktion für den Export um ein Vielfaches zu steigern.

      Mitte 1934 wurde in Polen die rechtsextreme Partei Obóz Narodowo-Radykalny (ONR, „Nationalradikales Lager“) gegründet, und im Oktober desselben Jahres zerstörten Anhänger der neuen Partei die Laubhütten, die von den jüdischen Einwohnern von Ostrów für das Erntedankfest Sukkot errichtet worden waren.

      Am 12. Mai 1935 starb Józef Piłsudski, und mit ihm fiel das letzte Bollwerk eines pragmatischen, liberalen Polen. Die Trauer in den jüdischen Gemeinden überall im Land war groß. Inzwischen besaß das ONR auch in Ostrów eine eigene Ortsgruppe, die von einem Mann namens Radwansky angeführt wurde. Er war es, der die „Übernahme“ der bislang vollkommen in jüdischer Hand befindlichen Textilindustrie in der Stadt plante und leitete. „Mit der Unterstützung des ONR begannen drei polnische Bürger von Ostrów, Stoffe von einem jüdischen Einzelhändler in Warschau einzukaufen, um sie in ihrem eigenen Laden anzubieten“, schrieb Wolf Teitel in seinen Erinnerungen, „aber sie machten schon bald Bankerott und sahen sich gezwungen, ihre Tuchwaren wieder bei den jüdischen Händlern [von Ostrów] zu erwerben, wo selbst Radwansky einkaufte, der sich am Sonntag durch die Hintertür in den Laden schlich.“

      Nachdem 1936 Wolfs Bewerbung am Warschauer Polytechnikum abgelehnt worden war, obwohl seine Noten eigentlich gut genug waren, beschloss die Familie, dass er seine Hochschulbildung in Belgien fortsetzen sollte. Aber Wolf weigerte sich und bestand darauf, dass, wenn er schon von zu Hause fortgehen sollte, er mit dem Schiff zu den Juden in Palästina fahren werde, um am Technikum in Haifa Bauingenieurwesen zu studieren. Am Tag seiner Abreise versammelten sich die Teitels auf dem Hof der Brauerei zu einem Gruppenfoto: Wolf, schlank und hochgewachsen, schon im beigen Reiseanzug, steht eingezwängt zwischen seinen Eltern Icok und Leja, die zwar angespannt, aber keineswegs verzweifelt aussehen. Zindel, Ruchela, Regina sowie der pausbäckige, neun Jahre alte Hannan sind ebenfalls mit dabei. Es ist das einzige Gruppenfoto der ganzen Familie, das ich besitze.

      3

       Über die Grenze

      Von Hitler zu Stalin

      Der August 1939 war der brisanteste Monat. Den ganzen Sommer hindurch hatten Hannans Eltern, Zindel und Ruchela Teitel, seine Großmutter Fejge, sein Onkel Icok und alle Teitel-Verwandten, ja die ganze übrige Einwohnerschaft der Stadt gebannt vor ihren Radiogeräten gesessen, hatten die Gazeta Polska verschlungen und die jiddischsprachige Tageszeitung Haynt („Heute“), die jeden Morgen aus Warschau nach Ostrów Mazowiecka geliefert