Der Tod der blauen Wale. Joachim H. Peters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim H. Peters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752294
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nickte nur, steckte sein Notizbuch ein und marschierte in Richtung Rolltor.

      Kapitel 7

      Ungefähr zur gleichen Zeit hielt ein anderes Fahrzeug der Paderborner Kriminalpolizei vor dem Haus der Familie Herber. »Da wären wir!« Kriminalhauptkommissar Wilfried Marx zog den Schlüssel ab und deutete damit auf das moderne Einfamilienhaus, das etwa in der Mitte der Schorlemer Straße stand. Natalie war seinem Blick gefolgt und sah zu der Einfahrt hinüber, die mit einem modernen Tor versehen war, auf dem die Buchstaben M und H prangten. Es war aus Edelstahl, ebenso wie die Tür daneben, die auf das Grundstück führte, der ins Mauerwerk eingelassene Briefkasten und die Hausnummer.

      Marx öffnete die Fahrertür und machte Anstalten auszusteigen, dann hielt er jedoch kurz inne. »Wieder mal eine dieser Aufgaben, die man nicht wirklich gerne macht.«

      »Wem sagst du das?« Natalie seufzte tief, dann öffnete auch sie ihre Tür. Gestern hatte sie Kleekamp noch glücklich erzählen können, dass ihr das Überbringen der Todesnachricht bei dem tödlichen Lkw-Unfall erspart geblieben war. Heute hatte das Schicksal sie bereits mit Riesensprüngen eingeholt.

      Die beiden Polizisten stiegen aus. »Hast du eigentlich Kinder?«, fragte Marx.

      »Ich bin ja noch nicht mal verheiratet«, entgegnete Natalie.

      »Na, das hat doch heute gar nichts zu sagen. Ich habe welche, deshalb schlage ich vor, dass ich die Aufgabe übernehme, das Gespräch zu führen.«

      »Ich dränge mich garantiert nicht auf, es zu tun.« Natalie nickte dankbar und atmete erleichtert auf.

      Als sie vor der Tür standen, bemerkten sie, dass über der Klingelanlage, auf der lediglich der Name Herber stand, eine Kamera montiert war. Ganz schöner Kasten für nur eine Familie, dachte Natalie.

      Sekunden nachdem Marx den Klingelknopf gedrückt hatte, leuchteten rund um das Kameraobjektiv kleine LEDs auf. Ohne dass sie angesprochen worden waren, sprang die Tür auf und gewährte ihnen so Zugang zum Grundstück. Wortlos folgte Natalie ihrem Kollegen, der langsam und mit hängenden Schultern über schneeweiße Gehwegplatten auf das Haus zusteuerte. Eigentlich liebte Marx seinen Beruf als Ermittler, aber es gab Tage, da hasste er ihn auch. Immer dann, wenn solche Aufgaben wie jetzt anstanden. Todesnachrichten zu überbringen war nie einfach, aber Eltern über den Tod eines Kindes zu informieren, war wohl die mieseste aller Aufgaben. Einen geliebten Menschen zu verlieren war schon schwer genug, aber das eigene Kind? Der Kriminalbeamte wollte gar nicht daran denken, wie es ihm in dem Fall ergehen würde.

      Er erreichte das Podest vor der Haustür und atmete noch einmal tief durch, bevor er sich traute, auf den dortigen Klingelknopf zu drücken. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann hörten sie Schritte und wären in diesem Moment liebend gerne irgendwo anders auf der Welt gewesen als hier.

      Hinter der Scheibe neben der Tür erschien ein verweintes Frauengesicht. Marx hielt seine Kriminaldienstmarke hoch und deutete dabei mit dem Kopf zur Tür. Sekunden später wurde sie geöffnet.

      »Guten Tag, wir sind von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Marx, das hier ist meine Kollegin Börns.«

      »Was ist mit ihm?« Die Frau presste sich mit beiden Händen ein zerknülltes Taschentuch vor den Mund. »Ihre Kollegen wollten mir keine Auskunft geben, ich habe schon ein paar Mal angerufen und ihnen von dem Video erzählt.« Sie schluchzte auf und schaute die beiden Polizeibeamten mit einem Blick an, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.

      Natürlich hatte man ihr telefonisch keine Auskunft gegeben, niemand wollte riskieren, dass sie allein war und zusammenklappte, wenn man ihr diese schreckliche Nachricht überbrachte: Ihr Sohn hat sich das Leben genommen. So etwas machte man grundsätzlich nur persönlich, am besten in Begleitung eines Notfallseelsorgers. Aber ausgerechnet heute war keiner zu erreichen gewesen.

      »Können wir ins Haus gehen?«, fragte Marx und stellte fest, dass seine Stimme schon wie die eines Beerdigungsunternehmers klang. Pietätvoll leise.

      »Sagen Sie schon, was ist mit ihm? Geht es ihm gut?« Sie ergriff ein Revers seines Jacketts und zog daran. »Ich will endlich wissen, was passiert ist!«

      Der Kriminalbeamte hatte nicht den Mut ihre Hand zu lösen, sondern ergriff sie lediglich und hielt sie fest.

      »Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie.« Er ließ den Satz einen Moment lang im Raum stehen. Schaute sie an, wartete auf ihre Reaktion. Es kam aber keine. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und hingen an seinen Lippen.

      »Genau genommen, Frau Herber, habe ich sogar schlechte Nachrichten für Sie, sehr schlechte.«

      »Er ist doch nicht etwa …?«

      Insgeheim weiß sie es schon, dachte er, sie will es nur nicht wahrhaben.

      »Ihr Sohn hatte einen Unfall.« Jetzt kam der Moment, der in so einer Unterhaltung der schwerste war. »Und ich muss Ihnen leider sagen, dass er diesen Unfall nicht überlebt hat.«

      Tod. Lebensende. Ende der Zukunft. Ende aller Hoffnungen.

      Egal, was man sagte, egal welches Wort man benutzte, es war diese verdammte Endgültigkeit. Keine Umkehr, keine Rückkehr mehr möglich. Für kein Geld und durch keine Macht der Welt.

      Nicole Herber blickte ihn noch eine Sekunde lang mit offenem Mund und vor Schreck geweiteten Augen an, dann sackte sie in sich zusammen und nur einen Wimpernschlag später taumelte sie weinend gegen Marx’ Brust. Ohne nachzudenken legte er die Arme um die weinende Frau und hielt sie einfach nur fest. Eine Zeit lang sprach niemand. Natalie stand hilflos daneben und blickte betreten zu Boden.

      »Wäre es nicht besser, wir gingen jetzt rein?« Vorsichtig schob Marx die Frau ein Stück von sich und blickte sie an. Ihr Kopf hing auf der Brust und Tränen tropften auf ihre Bluse.

      Nicht drängen, dachte Natalie, du musst ihr Zeit lassen.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte Nicole Herber zögerlich, wischte sich mit dem ohnehin schon feuchten Taschentuch über die Augen, drehte sich dann langsam um und schleppte sich vor ihnen hinein ins Haus. Die beiden folgten ihr leise, fast zögerlich. Als sie die Haustür passierte, fiel Marx’ Blick noch einmal auf das Namensschild. Herber. In welchem Zusammenhang war ihm der Name vorher schon mal begegnet?

      Nicole Herber war zu einem der ledernen Stühle gegangen, die rund um einen großen gläsernen Esstisch standen, und hatte sich auf seiner Kante niedergelassen. Marx wählte unbewusst einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches. E schien fast so, als versuchte er, eine Barriere zwischen sich und ihr zu errichten. Als wollte er das Leid der Frau nicht zu nah an sich heranlassen.

      Natalie war hinter ihn getreten und stehen geblieben. Die Frau tat ihr einfach nur leid. Sie hoffte, dass sie niemals in eine solche Situation kommen würde. Einen Menschen nach langer Krankheit zu verlieren war eine Sache, aber so plötzlich …? Warum tat ein junger Mensch so etwas? Krankheit? Liebeskummer? Existenzangst? Probleme in der Familie?

      Sie sah sich um. Das Haus war hell. Viel Glas, offene Ebenen, Designermöbel. An den Wänden hingen zeitgenössische Gemälde. Weiß war hier eindeutig die dominierende Farbe. Modern, aber kalt. Steril. Ihr Blick blieb an einem weißen Steinway-Flügel hängen, der den Raum eine halbe Ebene tiefer beherrschte. Der große Deckel des Flügels verschloss das Gehäuse und diente als Stellfläche für zahllose Bilder in silbernen Rahmen. Sie war sicher, dass dort auch Bilder von Kai Herber zu finden waren. Der Deckel über der Klaviatur war zwar aufgeklappt, doch sie sah nirgendwo Noten liegen. Plötzlich überkam sie der Gedanke, dass dieses kostspielige Musikinstrument, für dessen Preis sie sich sicherlich einen guten Mittelklassewagen hätte kaufen können, hauptsächlich als Dekoration benutzt wurde.

      Dann riss sie ihren Blick vom Flügel los und sah wieder Nicole Herber an. Deren Hände mit dem zerknüllten Taschentuch lagen nun in ihrem Schoß, ihre geröteten Augen waren auf die gläserne Tischplatte gerichtet, ihr Mund stand halb offen. Das alles unterstrich ihren Eindruck, dass die Frau nicht wusste, was sie zuerst denken sollte.

      »Frau Herber? Ich vermute, Sie sind verheiratet,