Der Tod der blauen Wale. Joachim H. Peters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim H. Peters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752294
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habe ein betrunkener Maskenbildner ihre Visage rot und violett geschminkt, um aus ihrem Gesicht eine Zombiemaske zu machen, und bei der Hälfte aufgegeben. Viele Leute auf der Straße drehten sich nach ihr um, und die Tatsache, dass sie aufgrund eines Hüftschadens auch noch leicht humpelte, ließ sie wie ein hässlicher Zwerg aus einer abstrusen Fantasy-Welt aussehen. Vielleicht war sie das ja auch? Ein hässlicher, böser Gnom. Der die Dunkelheit liebte, weil sie seine Missbildungen gnädig verdeckte.

      So war sie zu einem Geschöpf der Nacht geworden. Sie hatte gelernt, mit der Finsternis zu verschmelzen. Eine Einheit mit ihr zu bilden. Die Zeitungen, die sie austrug, wurden sehr früh gedruckt und angeliefert. Dadurch schaffte sie es, ihre Arbeit so zeitig zu beenden, dass sie noch vor Morgengrauen wieder von der Straße verschwunden war.

      Mittlerweile scheute sie sogar wie ein Vampir das Sonnenlicht und war froh, wenn sie sich in ihrer Behausung davor verstecken konnte. Hier lebte sie allein, hatte weder Bekannte, noch Freunde. Allerdings wusste sie gar nicht genau, was Freunde eigentlich waren, denn sie hatte noch nie welche gehabt.

      Bis vor ein paar Tagen hatte sie auch nur sehr selten mit jemandem gesprochen. Manchmal redete sie mit sich selbst, nur um zu prüfen, ob sie überhaupt noch sprechen konnte. Denn bisweilen überkam sie das Gefühl, dass ihr diese Fähigkeit langsam aber sicher abhandenkam.

      Doch dann hatte sie ihn getroffen. In ihrer gewohnten Umgebung. In der Dunkelheit. Und nun hoffte sie, dass er wieder da war, wenn ihre Runde sie gleich an den Ort ihrer ersten Begegnung führen würde. Sie hatten nicht viel geredet, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, aber sie hatte sich sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Ein Gefühl, dass sie bis dahin nur bei ihrem Vater gespürt hatte.

      Hastig stopfte sie die Zeitungen in die Briefkästen und eilte zu ihrem Fahrrad zurück. Im strömenden Regen, der jeden anderen in schlechte Laune versetzt hätte, hellte sich ihre Miene in dem Moment auf, als sie um die nächste Ecke bog und ihn sah.

      Kapitel 2

      Das war mal wieder einer von diesen Tagen. Eigentlich wollte Nicole Herber bis Mittag alles erledigt haben, um dann ins Fitnessstudio gehen zu können, aber andauernd war ihr etwas dazwischengekommen. Erst leuchtete die Entkalkungsanzeige am Kaffeevollautomaten auf, dann war das Fuselsieb an der Waschmaschine verstopft und zu allem Überfluss ließ sich die Tür des Trockners nicht mehr öffnen. Und als sei das alles noch nicht genug, rief jetzt auch noch Ellen an. Und wenn die einen erst mal an der Strippe hatte, wurde man sie ebenso schwer wieder los wie Nagelpilz.

      Ellen war zwar etwas älter als Nicole, aber ihre beste Freundin. Man konnte sich auf sie verlassen, doch manchmal war sie eine nervige Quasselstrippe. Heute rief sie an, weil sie Nicole unbedingt von ihrem gestrigen Date berichten wollte. Von ihrem Treffen mit Rainer, einem Feuerwehrmann, in den sie sich sofort unsterblich verliebt hatte. Ein Traum von einem Mann und auch nicht schüchtern, was dazu geführt hatte, dass beide schon eine Stunde nach dem Kennenlern-Kaffee in der Kiste gelandet waren. Für Ellen nicht ungewöhnlich. Seit sie die Möglichkeiten erkannt hatte, die diverse Datingportale und Partnerbörsen ihr eröffneten, verliebte sie sich zwar nicht alle elf Sekunden, aber sie hatte nach all den Ehejahren in den letzten zehn Wochen mehr Sex mit verschiedenen Männern gehabt, als in den ersten Monaten nach der Scheidung von Volker.

      Ellen fühlte sich mit ihren neunundvierzig Jahren plötzlich wieder jung, hatte aber leider auch das Bedürfnis entwickelt, ihrer Freundin jedes Abenteuer peinlich genau zu schildern. Darauf war Nicole noch nie sonderlich erpicht gewesen, vor allem heute nicht, wo sie so viel zu erledigen hatte.

      Sie musste zu ihrer Mutter, die zwar alt und gebrechlich war, aber immer noch allein wohnte. Die alte Dame kochte und putzte selbst, aber die Einkäufe musste Nicole ihr abnehmen. Also war sie zweimal in der Woche erst im Supermarkt und schleppte dann alles die drei Treppen zu ihr hinauf. Ein Ritual, für das es feste Wochentage gab. Dienstag und Freitag. Andere Tage kamen für ihre Mutter nicht infrage. Das habe sie früher schon so gemacht, als ihr Mann noch lebte, und so sollte es bis in alle Ewigkeit bleiben. Nicole hatte mehrmals versucht, aus dieser starren Zeitplanung herauszukommen, aber in dieser Beziehung war ihre Mutter völlig beratungsresistent und unnachgiebig. Dienstags und freitags. Vormittags um elf Uhr. Ende der Debatte.

      Nicole suchte nach ihrem Handy, das soeben vibriert und den Eingang einer WhatsApp-Nachricht ankündigt hatte. Mit dem Festnetztelefon in der Hand und Ellen am Ohr lief sie los, um das verflixte Ding zu finden. Michael hätte dabei belustigt zugesehen. Ihr Mann wunderte sich schon seit Jahren nicht mehr darüber, wie gut seine Frau ihre Sachen verlegen konnte. Sie fluchte lautlos. Es musste hier im Raum sein, denn der Benachrichtigungston war sehr deutlich zu hören gewesen. Wo war das verflixte Ding nur? Nebenbei hörte sie sich, vollkommen uninteressiert, weiter Ellens neuste Bettgeschichte an und kommentierte sie nur ab und zu mit einem zustimmenden Brummen. In der Zwischenzeit wühlte sie zwischen den Kissen auf der Couch und hob Zeitschriften auf dem Wohnzimmertisch an. Ohne Erfolg.

      Ellen war schon beim Nachspiel, als sie das verflixte Ding endlich fand. Es lag neben der Couch auf dem Boden. Vermutlich war es ihr gestern Abend von der Lehne gerutscht. Sie bückte sich danach und blickte auf das Display. Eine Nachricht von Kai, ihrem fünfzehnjährigen Sohn. Hatte er mal wieder irgendetwas für die Schule vergessen und wollte, dass sie es ihm brachte? Das fehlte ihr noch.

      Gerade als sie die Nachricht öffnen wollte, klingelte es an der Haustür. Auch das noch, jemand musste das Eingangstor aufgelassen haben, das auf das Grundstück führte! Nicole warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und spürte das Aufkommen einer Panikattacke. Das geschah fast immer, wenn ihr Zeitplan durcheinandergeriet.

      Sie war auf Ellens erotische Erlebnisse zwar nicht erpicht und gönnte sie ihr auch, aber sie musste nicht das Gefühl haben, neben ihrer Freundin und ihrem zeitweiligen Lover im Bett zu liegen. »Ellen, ich muss jetzt Schluss machen!«, versuchte Nicole erneut, sie zu unterbrechen, und trat vor die hohe, schmale Glasscheibe neben der Haustür, um nachzusehen wer geschellt hatte. Oh, nein, nicht jetzt auch noch Ilse!

      »Ellen, noch mal, ich muss Schluss machen, der Briefträger hat geklingelt«, log Nicole und würgte das Gespräch dann mit einem Tschüss brutal ab. Sie atmete noch einmal tief durch. Ilse hatte sie natürlich schon durch die Scheibe gesehen, und so war die Chance vertan, sich totzustellen. Sie öffnete.

      »Hallo, Nicole, gut, dass du da bist.« Ilse Bremer, ihre ältliche Nachbarin, war schon im Kaffeekränzchenoutfit, und Nicole wusste, was nun auf sie zukam. Wachdienst! »Ich muss ganz dringend in die Stadt und ich wollte dich fragen, ob du heute zu Hause bist und ab und zu mal einen Blick auf mein Haus werfen kannst?«

      Ilse war pensionierte Finanzbeamtin und wohnte im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seit vor ein paar Wochen in der Nähe eingebrochen worden war, hatte sie panische Angst, die Täter könnten es auch auf sie abgesehen haben. Umgehend hatte sie sich eine sehr preiswerte Alarmanlage installieren lassen, aber die war ständig von allein losgegangen und hatte wohl eher die Nachbarschaft in Schrecken versetzt und die Polizei auf Trab gehalten, als mögliche Einbrecher zu verscheuchen. Die meisten Fehlalarme ereigneten sich mitten in der Nacht und taten ihre überflüssige Warnung in Form einer nervtötenden Sirene unter dem Giebel kund. Die schaltete sich jedoch nach der vorgeschriebenen Zeitspanne nicht nur nicht aus, sondern hielt minutenlang auch noch jedem manuellen Abschaltversuch stand. Als Ilse die dritte Rechnung des Elektrikers für die ohnehin vergebliche Behebung des Problems bekam, war die Anlage schnell wieder abgeschaltet und sie baute nun auf die Wachsamkeit ihrer Nachbarn. Vor allen Dingen auf die von Nicole, die als Hausfrau und Mutter ja schließlich immer daheim war und auf Ilses Haus aufpassen konnte.

      Nicole wollte schon einwenden, dass sie ebenfalls auf dem Sprung war, ließ es aber, da Ilse dafür kein Verständnis gehabt hätte. Für endlose Debatten mit Argumenten, wie »Kannst du das nicht heute Nachmittag machen?« oder »Was hast du als Hausfrau denn schon Wichtiges zu erledigen?« fehlte ihr, vor allem heute, sowohl die Zeit, als auch die Lust.

      »Ja, ich habe ein Auge drauf, kannst dich auf mich verlassen«, sicherte sie ihrer Nachbarin zu und hob dabei das Telefon hoch. »Sorry, Ilse, ich habe Kais Lehrer am Telefon.« Die nächste Notlüge.

      Ihre Nachbarin war nicht gerade begeistert darüber, dass das Gespräch so