Der Tod der blauen Wale. Joachim H. Peters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim H. Peters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752294
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Nicken.

      »Können Sie ihren Mann erreichen? Ich meine, er muss es ja auch erfahren, und ich fände es besser, wenn Sie jetzt nicht alleine wären.«

      Sie hob den Kopf und sah sie an. »Mein Mann ist arbeiten …« Sie presste die vier Worte förmlich heraus. Es hatte den Anschein, als müsse sie sich überwinden, überhaupt zu sprechen. »Er ist in seiner Kanzlei, die Nummer …« Sie brach ab.

      In diesem Moment wusste Wilfried Marx, woher er den Namen Herber kannte. Dr. Michael Herber. Einer der angesehensten Rechtsanwälte in der Stadt. Jemand, mit dem er schon öfter dienstlich zu tun gehabt hatte. Kein bequemer Zeitgenosse und als Anwalt vor Gericht kein angenehmer Gegner.

      Er war gespannt darauf, wie der stets beherrschte und immer ein wenig arrogant wirkende Herber auf den Tod seines Sohnes reagieren würde. »Ich würde vorschlagen, Sie rufen Ihren Mann an und bitten ihn hierher.« Natalie hatte sich nun doch neben ihrem Kollegen niedergelassen.

      Nicole Herber erhob sich mühsam und schleppte sich zu einer Anrichte, auf der das Festnetztelefon stand. Sie wirkte dabei wie eine alte Frau. Gebeugt und gebrochen. Als sie das Mobilteil aus der Station nahm, atmete sie noch einmal tief durch, als wollte sie sich selbst Mut machen, und drückte erst dann eine Taste.

      Marx seufzte und nickte Natalie anerkennend zu. »Das war eine gute Idee! Aber sei vorsichtig, wenn ihr Mann hier auftaucht.« Flüsternd setzte er Natalie kurz über seine Erfahrungen mit Doktor Herber in Kenntnis.

      Natalie nickte nur. Dann stand sie wieder auf. Sie hielt es auf dem Stuhl nicht aus. Langsam stieg sie die Stufen zu dem tiefer gelegenen Wohnbereich hinunter und warf einen Blick durch die großen gläsernen Schiebetüren. Nicole Herber wartete anscheinend darauf, zu ihrem Mann durchgestellt zu werden. Wieso hatte sie keine Durchwahl oder rief ihn auf dem Handy an? Natalies Blick fiel nach draußen in einen sorgsam gepflegten Garten. Fast schon ein Park. Wenn man vor dem Haus stand, vermutete man gar nicht, dass sich dahinter noch so ein großes Grundstück verbarg. Im hinteren Bereich sah sie ein Gartenhaus, links davon eine Traglufthalle, unter der sich ein ansehnlicher Swimmingpool befand.

      Sie drehte sich um und schlenderte erneut zum Flügel hinüber. Ohne sie herunterzudrücken, ließ sie die Finger sanft über die Tasten gleiten. Kein Staub. Auf keiner der Tasten. Putzfrau, vermutete sie. Auf allen Bildern waren Personen zu erkennen. Auf ein paar von ihnen das Ehepaar Herber. Kai nur auf einem. Mit einer Schultüte. Das musste ja nun schon mehr als acht Jahre her sein, rechnete Natalie nach. Warum gab es keine aktuelleren Aufnahmen des Sohnes? Von den meisten Bildern allerdings blickte ihr Michael Herber entgegen. Herber beim Segeln, Herber beim Golf, Herber im Smoking, in der Robe. Herber, Herber, Herber.

      »Mein Mann ist bereits unterwegs.« Natalie zuckte zusammen, denn Nicole Herber stand plötzlich, immer noch mit dem Mobilteil in der Hand hinter ihr. »Man hat ihn wohl schon darüber informiert, was passiert ist.« Wieder schluchzte sie.

      Wer konnte das getan haben, fragte sich Natalie, das war nicht die übliche Vorgehensweise. Genau genommen, war es sogar kontraproduktiv zu dem, was sie hier gerade taten. Ob Herber einflussreiche Freunde bei der Polizei hatte? Oder bei der Staatsanwaltschaft?

      Wilfried Marx war nun ebenfalls aufgestanden und zu ihnen heruntergekommen. »War Kai Ihr einziges Kind?« Er hielt dabei den Blick auf das Bild mit der Schultüte gerichtet.

      »Ja, er hätte fast noch ein Geschwisterchen gehabt …«

      Marx kniff erschrocken die Lippen zusammen. Mist! Fettnäpfchen.

      »Ich war noch einmal schwanger, aber dann …« Wieder brach Nicole Herber ab.

      Natalie, die ebenfalls auf das Bild geblickt hatte, drehte sich zu ihr um und sah, wie Nicole Herber noch weiter in sich zusammensackte. Falsche Frage, Wilfried, dachte sie. Falsche Frage und falscher Zeitpunkt. Aber wer konnte denn so etwas auch schon ahnen? Sie spürte förmlich, wie die Frau sich zusammenreißen musste, um weiterzusprechen.

      »Ich habe es im vierten Monat verloren …«

      »Das tut mir leid, Frau Herber. Ich wollte keine schmerzhaften Erinnerungen in Ihnen wecken. Wir möchten nur Ihre Lebensumstände verstehen.« Marx durchlief ein Schauer. Was für eine Scheißaufgabe, dann lieber tonnenweise Akten wälzen.

      Nicole Herber nickte gedankenverloren. »Schon gut.« Ihr schien jetzt alles egal zu sein.

      »Meinen Kollegen haben Sie also gesagt, dass Sie ein Video von Ihrem Sohn bekommen haben. Ist das richtig?« Marx versuchte, das Thema zu wechseln, von einer Folterkammer in die nächste.

      Die Frau nickte nur.

      »Ich würde es gerne sehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fügte er schnell hinzu.

      Sie hob den Kopf und ihr Blick wanderte planlos durch den Raum. »Es ist auf meinem Handy. Es kam als Nachricht.« Sie schaute sich verwirrt um. »Wo ist es nur?« Sie stieg wieder hinauf zum Esszimmer und begann zu suchen.

      Natalie beobachtete sie. Nicole Herber war eine attraktive Frau. Schlank, nicht zu klein, aber für eine Frau auch nicht zu groß. Ihre dunkelblonden Haare trug sie hochgesteckt, ihre Kleidung stammte garantiert nicht aus einem Versandhandel. Natalie tippte auf ein italienisches Label, das exklusiv in irgendeiner Luxusboutique angeboten wurde.

      Nicole Herber suchte immer noch nach dem Telefon und seufzte erleichtert auf, als sie es endlich fand. Sie ging zurück zum großen Esstisch, ließ sich daran nieder und legte das Telefon auf den Tisch. Die beiden Polizisten folgten ihr und hörten in diesem Moment, wie draußen ein Wagen vorfuhr.

      »Darf ich?«, fragte Marx schnell, während er bereits nach dem Telefon griff. »Wo finde ich es?«

      »WhatsApp«, schluchzte Nicole Herber leise.

      Er rief den Messanger auf, der sich sofort in dem Chat »Kai« öffnete. Zuerst viele kurze Nachrichten von der Mutter an den Sohn: »Kai, was ist das?« »So antworte doch!« »Warum gehst Du nicht ans Telefon?« »Kai, bitte, melde Dich!« »Lass den Blödsinn! Ruf mich an!« »Bitte, Kai!!!!!« Marx scrollte hoch und fand die letzte Nachricht ihres Sohnes. Ein Video, das sich mit Kais Gesicht ankündigte. Er wollte es bereits anklicken, als er sich eines Besseren besann und ein paar Schritte zur Seite ging. Er drehte Nicole Herber den Rücken zu, bevor er es startete.

      Kais Stimme ertönte aus dem Handy-Lautsprecher. Nicole Herber schluchzte auf. Marx regelte sofort die Lautstärke herunter und stieg die Stufen hinab in den Wohnbereich. Dann sah er sich das Video an. Obwohl er nicht persönlich involviert war, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Die Gleise, der Zug, das Hinknien, die Geräusche.

      Wie fürchterlich muss es sein, zu wissen, dass man sich den Tod seines Sohnes immer wieder ansehen konnte. Hilflos und quälerisch. Wäre er in Nicole Herbers Situation, würde er dieses Video umgehend löschen. Auf dem Handy wäre es dann zwar verschwunden, aber es würde sicher noch lange Zeit im Kopf bleiben. Wenn nicht sogar für immer. Er wollte es gerade noch einmal starten, als er hinter sich eine schneidende Stimme hörte.

      »Was machen Sie da?«

      Der Kriminalbeamte drehte sich um und blickte in das erboste Gesicht von Nicole Herbers Ehemann. Dr. Michael Herber trug einen hellgrauen Trenchcoat, darunter sah man einen dunklen Anzug mit einem weißen Hemd und mit der für Rechtsanwälte typischen weißen Krawatte. Vermutlich hatte er heute schon vor Gericht auftreten müssen oder es stand ihm noch bevor.

      Herber war fast eins neunzig groß, hatte eine sportliche Figur und volles dunkles Haar, das an den Schläfen bereits einige graue Stellen aufwies. Er erinnerte Marx ein wenig an George Clooney. Auf jeden Fall ein Frauentyp.

      »Ich habe Sie etwas gefragt!« Herber kam die Treppe in den Wohnbereich hinunter. Hinter ihm erschien Natalie.

      Marx schaltete das Telefon aus und stellte sich vor. »Mein Name ist Marx, ich bin von der Kripo, es geht um den Tod ihres Sohnes.«

      »Was hat das mit dem Handy meiner Frau zu tun?« Herber streckte fordernd die Hand danach aus. »Ich glaube kaum, dass der Inhalt des Telefons meiner Frau Sie etwas angeht.«

      Marx