Der Tod der blauen Wale. Joachim H. Peters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim H. Peters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954752294
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Weg gegeben. So wie jedes Mal. Auch ruhig mal um das Haus herumgehen, hinten nach dem Rechten sehen, verdächtige Personen fotografieren, Autokennzeichen notieren und im Zweifelsfall sofort die Polizei informieren. All das wiederholte sie jedes Mal, denn sie wollte ja schließlich nicht, dass ausgerechnet sie zum Opfer reisender Diebesbanden wurde. Heute blieb ihr allerdings nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ihre Nachbarin das alles noch wusste und danach handeln würde. Hätte sie gewusst, dass Nicole bereits plante, ihren Wachtposten schnellstmöglich zu verlassen, hätte sie vermutlich der Schlag getroffen.

      Nachdem Nicole endlich die Tür geschlossen hatte, drehte sie sich um und lehnte sich einen Moment lang von innen dagegen. Erleichtert atmete sie auf. Auch Ilse war ja ganz nett, konnte aber ebenso nervig sein wie Ellen. Dann stutzte sie. Die beiden hatten sie völlig aus dem Konzept gebracht. Was hatte sie gerade machen wollen? Ach ja, die Einkäufe für ihre Mutter.

      Als sie am Wohnzimmertisch vorbeikam, fiel ihr Blick auf das Handy und sie erinnerte sich an die Nachricht ihres Sohnes. Was der wohl wollte? Sie hoffte, dass er ihr nur eine belanglose Nachricht geschickt hatte und sie nicht wirklich zur Schule musste, um ihm sein Erdkundeheft oder das Sportzeug hinterherzutragen. Sie öffnete die App und sah, dass es sich um ein selbst gedrehtes Video handelte, wie sie am Gesicht ihres Sohnes bemerkte, das als Standbild unten in dem Chatverlauf angezeigt wurde.

      Auf dem Weg in die Küche legte sie das Gerät auf die Arbeitsplatte und tippte auf das kleine Dreieck in der Vorschau. Die Übertragung des Inhalts begann. Als sie Einkaufstasche und Portemonnaie danebengelegt hatte, war diese beendet und das Video startete automatisch.

      Aber anstatt der quietschenden Stimme einer Zeichentrickfigur hörte sie Windgeräusche und die Worte ihres Sohnes. Sie drehte sich um und schaute auf das Display. Wo war der denn? Im Hintergrund erkannte sie ein Feld. Warum war er nicht in der Schule? Sie war sich sicher, dass der heutige Unterricht erst am frühen Nachmittag zu Ende sein würde. Überrascht stützte sie sich mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte und hörte ihm zu.

      »Sorry Mum, ich wollte dir nur sagen, dass Papa und du nichts falsch gemacht haben. Das, was ich jetzt tue, ist meine eigene Entscheidung und ich weiß, dass sie die richtige für mich ist.«

      Nicole sah, wie das Gesicht ihres Sohnes aus dem Blickwinkel der Kamera verschwand und etwas erschien, das ihr sofort panische Angst einflößte.

      Kai stand mitten auf einem Bahngleis. Wieder erschien sein Gesicht in der Kamera. »Lebt wohl! Ich weiß, wir werden uns eines Tages wiedersehen. Seid nicht traurig, mir geht es bald viel besser. Ich liebe euch!«

      Nicole wollte schreien, als sie im hinteren Teil des Bildes den Nahverkehrszug sah, der mit einem gellenden Hupton auf ihren Sohn zujagte.

      Hilflos musste sie mit ansehen, wie ihr Sohn sich auf den Gleisen niederkniete und dabei das Handy fallen ließ. Sie hörte noch ein Klappern, erblickte ganz kurz Schottersteine, dann nur noch den Himmel und ein paar Sträucher.

      Und auch wenn sie nichts anderes mehr sah, so musste sie doch das Quietschen der Zugbremsen und einen dumpfen Schlag mit anhören. Ihr wurde übel, sie verlor den Halt und sank ohnmächtig zu Boden.

      Kapitel 3

      Oh Gott, sieht der beschissen aus, dachte Natalie Börns, als er ihr die Wohnungstür öffnete. Jürgen Kleekamp, zurzeit suspendierter Oberkommissar der Paderborner Polizei, war zwar gerade mal knapp über fünfzig, aber heute Morgen machte sein unrasiertes und aufgedunsenes Gesicht locker einen Siebzigjährigen aus ihm. Seine Kollegin wusste allerdings, dass er dieses Aussehen nicht einer Krankheit verdankte, sondern seinem Alkoholkonsum. Seit ein paar Wochen war er ständig betrunken, Wer so viel säuft, sollte eine gute körperliche Konstitution haben. Aber Kleekamp war übergewichtig, ernährte sich falsch und war dazu auch noch herzkrank.

      Sie kannte ihn nun bereits seit fünf Jahren, aber in letzter Zeit hatte sich sein Zustand zusehends verschlechtert. Als sie, frisch von der Polizeischule kommend, ihren Dienst auf der Wache in der Riemekestraße angetreten hatte, war sie ihm zugeteilt worden und hatte nach dem ersten Tag gedacht, es wäre am besten, sie würde gleich wieder kündigen. Kleekamp hatte sie zu Beginn gemobbt, brüskiert und keine Chance ausgelassen, um sie runterzumachen. Er war ein übler Zyniker, ein Trinker, geschieden, ohne Beziehung, illusionslos und gegenüber den Bürgern genauso ungehobelt, wie er gegenüber seinen Vorgesetzten aufsässig war. Seine Autoritätsresistenz hatte letztendlich dafür gesorgt, dass er zurzeit von allen Dienstgeschäften entbunden war.

      Doch er hatte er einen triftigen Grund dafür gehabt, sich unerlaubt aus einem Einsatz zu entfernen, denn dadurch hatte er ihr und einer Kollegin das Leben gerettet. Die Chefetage war allerdings der Auffassung, dieser Alleingang sei nicht nur sehr gefährlich, sondern auch überflüssig gewesen. Er war nun mal nicht beim Sondereinsatzkommando, sondern ein einfacher Streifenbeamter.

      Natalie kannte Kleekamp mittlerweile sehr gut, denn sie hatte schon so manche gefährliche Situation mit ihm erlebt, in denen sie sich gegenseitig das Leben hatten retten müssen. Vermutlich war sie in der ganzen Behörde die Einzige, die nicht nur zu ihm hielt, sondern ihn sogar ein bisschen verstand. Okay, Jürgen war ein Großmaul. Er konnte auch ein gewaltiges Arschloch sein, aber er hatte das Herz auf dem rechten Fleck, und würde er sich Mühe geben, wäre er auch ein guter Polizist. Ja, wenn.

      Trotz seines Dienstalters war er immer noch Oberkommissar und viele andere waren auf der Beförderungsleiter bereits an ihm vorbeigeklettert, doch das interessierte ihn nicht. Mit dem, was er verdiente, kam er aus, und man hörte ihn nicht selten sagen, das finanzielle Plus, das eine Beförderung mit sich brächte, würde er ohnehin nur seiner geschiedenen Frau in den Rachen werfen müssen. »Und wenn es einen Menschen gibt, dem ich das nicht gönne, dann ist es diese blöde Kuh«, fügte er meist noch verbittert hinzu.

      Zu der blöden Kuh hatte er ebenso wenig Kontakt wie zu seinem Sohn oder seiner Tochter. Nach seiner Scheidung war er in dieses Mehrfamilienhaus in der Paderborner Innenstadt gezogen. Hier hauste er in seiner Junggesellenwohnung. Besonders aufgeräumt und sauber hatte sie noch nie ausgesehen, aber als Natalie nun in den Flur trat, hatte sie das Gefühl, sie stünde in einem umgekippten Zirkuswagen. Leere Flaschen, volle Mülltüten, schmutzige Wäsche auf dem Boden und ein Geruch, der zwar nicht genau zu definieren, aber widerlich war. Wie konnte man nur so hausen?

      Noch während Kleekamp die Wohnungstür hinter ihr schloss, hatte sie sich bereits die Nase zugehalten, war in die Küche gestürmt und hatte dort das Fenster aufgerissen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und drehte sich dann zu ihrem Kollegen um, der mit einer schmuddeligen Jogginghose und einem fleckigen, ehemals weißen Unterhemd bekleidet in der Tür stehen geblieben war und sich nun mit verschränkten Armen an den Rahmen lehnte.

      »Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Hier stinkt es wie im Schweinestall, die Bude sieht aus wie Sau und ich frage mich, ob du dich heute mal im Spiegel angesehen hast?«

      Kleekamp blickte sie aus geröteten Augen an, verzog aber keine Miene und sagte auch kein Wort. Jeder andere hätte sich mit so einer Ansage postwendend einen verbalen Arschtritt von ihm eingefangen. Vermutlich war Natalie die einzige Person, die sich das bei ihm herausnehmen durfte. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte sie ja Recht. Er war in einem jämmerlichen Zustand und wusste nicht, wie lange er so noch würde weitermachen können. Als er suspendiert worden war, hatte er zwar den coolen Macho gespielt, aber bereits wenige Tage später festgestellt, dass ihm sein Beruf, über den er so oft gemeckert hatte, doch fehlte. Er hatte ja nichts anderes und konnte auch nichts anderes. Nur Bulle sein.

      Er starrte Natalie an, die ihm in seiner dreckigen Küche gegenüberstand und ihn trotz ihrer rüden Frage mit einem traurigen Gesichtsausdruck ansah. Sie hatte sich verändert. Ihre schwarzen Haare trug sie zwar immer noch kurz geschnitten, aber vor fünf Jahren hatte sie ein Babyface gehabt und sich benommen wie ein Teenager, der plötzlich in einem Actionfilm gelandet war. Mittlerweile hatte sie sich bewährt, hatte gelernt, hatte geblutet und war an ihren Problemen und Aufgaben gewachsen. Jetzt stand ihm eine junge, attraktive Frau gegenüber, die selbstbewusst geworden war und ihren Beruf ebenso liebte wie er. Mit dem Unterschied, dass sie es auch zugab. Er bewunderte ihre sportliche Figur, ihre offene Art und vor allen Dingen ihre Fähigkeit, mindestens ebenso häufig zu lächeln,