Die Residentur. Iva Prochazkova. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iva Prochazkova
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992002740
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      Er schloss das Auto ab und machte sich auf den Rückweg. Dabei überlegte er, wann er Martin und Lewan das mit der Pistole sagen sollte und wie sie’s auffassen würden. Martin dürfte eine Grimasse ziehen und die ganze Angelegenheit mit ein paar Sticheleien abtun. Lewans Reaktion war schwer abzuschätzen. Er nahm nichts auf die leichte Schulter. Jeden Schritt durchdachte er weit im Voraus, bis ins kleinste Detail und in vielen Varianten. Mathematiker, Perfektionist, Schachspieler. Dank der Umsicht, die er offenbar in seiner DNA hatte, konnte er Gefahren erfolgreich eingrenzen, verhindern konnte er sie aber nicht. Beweis dafür war eine brutale Prügelattacke vor einem halben Jahr gewesen. Ausfälligkeiten per Telefon oder in den sozialen Netzwerken war Lewan gewohnt. Er kannte die Arbeit von Trollen, kannte auch die hasserfüllten Reaktionen manipulierter Gehirne. Jede Art von Fake News, jede Desinformation war geeignet, seinem Renommee zu schaden. Sie hatten ihn schon lange im Visier. Je mehr er sich engagierte, desto mehr bewarfen sie ihn mit Dreck. Todesdrohungen waren an der Tagesordnung. Trotzdem hatte er nicht damit gerechnet, dass sich mitten im Zentrum von Prag, ein Stück vom Altstädter Ring entfernt, wo es von Polizeistreifen nur so wimmelte, zwei Vermummte auf ihn stürzen, ihm die Brieftasche rauben und ihn so zurichten würden, dass er beinahe hops gegangen wäre. „Das mit der Brieftasche war nur Tarnung“, verkündete er, nachdem die Ärzte ihn halbwegs wieder zusammengeflickt hatten. „Um Geld ist es den Schweinen nicht gegangen. Das sollte eine letzte Warnung für mich sein.“

      Wenn wir uns mit der Abreise nicht beeilt hätten, dann hätte Lewan ein ähnliches Ende gefunden wie Geworg, von Schüssen durchlöchert neben Müllcontainern, dachte Richard, während er die Stufen hinaufstieg. Martin fand er auf dem Mitteldeck. Er saß im Speiseraum neben einer jungen Frau in einer Motorrad-Lederjacke.

      „Das ist Swetlana aus Kiew“, begrüßte er Richard. „Sie studiert Mikrobiologie, letztes Jahr ist sie über ein Stipendium bei uns in Tschechien gewesen. Sie ist wahnsinnig schlau, du kannst mit ihr in jeder Sprache reden, in der du willst.“

      Sein Tonfall legte nahe, dass er und Swetlana sich bereits intensiv angefreundet hatten. Dazu hatten ihm knapp zwanzig Minuten gereicht. Martin hatte irgendwas (Richard wusste nicht, ob es das kommunikative Talent war, der vorlaute Charme oder irgendeine andere, weniger augenfällige Eigenschaft, vielleicht der Geruch seines Schweißes), dem das andere Geschlecht nur schwer widerstehen konnte.

      „Freut mich sehr, Swetlana aus Kiew“, sagte Richard auf Tschechisch. „Ich bin Richard aus Prag.“

      Sie grinste ihn an.

      „Strč prst skrz krk!“, skandierte sie den wohl berühmtesten tschechischen Zungenbrecher vom Finger, der durch den Hals gesteckt wird. Aber noch ehe er ihre Sprachkenntnisse würdigen konnte, presste sie sich – wie um das Gesagte zu unterstreichen – die Hand auf den Mund, sprang auf und rannte aus dem Raum.

      „Das ist schon das zweite Mal. Sie verträgt das Geschaukel nicht“, erklärte Martin. „Deswegen hat sie einen flauen Magen.“

      „Und warum steigt sie dann auf ein Schiff?“ Richard setzte sich ihm gegenüber.

      „Sie hat in Kasmenien eine Großmutter. In Gregoripol. Die will sie auf ihr Motorrad setzen und mit nach Kiew nehmen. Sie hat Angst um sie. Angeblich wird schon in den Bergen hinter der Stadt geschossen. Bloß macht das Motorrad der Großmutter mehr Angst als der Krieg, und Swetlana weiß jetzt nicht, ob sie sie überreden kann.“

      „Wenn die Front schon bei Gregoripol ist, dann müssen wir unsere Pläne ändern, oder?“

      „Hat Lewan auch gesagt.“

      „Wo ist er?“

      „Telefonieren … Irgendwo draußen.“

      „Ich schau mal nach ihm.“ Richard stand auf. „Bleibst du hier?“

      „Glaub schon, Swetlana will mir ihre Schweinchen zeigen.“

      Richard hatte das Gefühl, sich verhört zu haben. „Was will sie dir zeigen?“

      „Sie sammelt Glücksschweine. Dreihundert hat sie schon. Aus Plüsch, Porzellan, Seife, Marzipan … Eins hat sogar Vitali Klitschko für sie gezeichnet. Sie zeigt mir die Fotos in ihrem Handy.“

      „Dreihundert Glücksschweine?“ Richard war immer wieder baff, auf was für Schwachsinn scheinbar rationale Menschen (eine Mikrobiologin!) so abfuhren.

      „Na dann wünsch ich gute Unterhaltung.“

      „Gib mir mal die Autoschlüssel. Ich will ihr als Revanche meinen Bodyguard zeigen.“

      Richard musterte Martins Gesicht, aber das deutete in keinster Weise an, dass er etwas anderes im Sinn hätte, als das Gesagte. Er reichte ihm den Schlüssel.

      „Vergiss nicht, wieder abzuschließen“, erinnerte er ihn noch beim Weggehen. „Wir treffen uns dann hier.“

      Draußen wehte ein kalter Wind, an Deck waren ein paar vereinzelte Passagiere. Richard ging zwischen ihnen hindurch Richtung Heck. An der Passage von Odessa nach Jeremesch bestand bei Weitem nicht so großes Interesse wie an der in die Gegenrichtung. Heutzutage flohen die Menschen aus Kasmenien; früher fuhren sie dorthin in Urlaub, um die schöne Natur zu erleben, im Hochgebirge wandern zu gehen oder uralte Kulturdenkmäler zu besichtigen. In letzter Zeit war niemand scharf auf dieses Reiseziel. Es war eine Überfahrt gegen den Strom.

      Lewan stand an der Reling und telefonierte mit angespannter Miene. Genauso wie damals, als … Richard kam der Samstagmorgen im September plötzlich in allen Details wieder ins Gedächtnis zurück. Er hatte verschlafen und war leicht verspätet an der Sporthalle eingetroffen, wo sie immer Basketball trainieren gingen. Martin, Adam und die anderen waren schon da. Sie standen am Eingang herum und Richard sah ihnen ihre Aufregung an. Lewan drehte sein Handydisplay zu ihm hin. Kasmenischer Journalist Arojan heute Nacht in Prager Außenbezirk erschossen, meldete die Überschrift. Richard blickte in Geworgs markantes Gesicht und in seinem Kopf lief im Verlauf von wenigen Sekunden ihre ganze Freundschaft ab wie ein Film. Vom ersten Zweikampf um den Ball unterm Korb hier in der Halle über die Debatten in der Küche von Lewans Mutter bei frisch gebackenem Chatschapuri oder in Geworgs kleiner Wohnung (die gleichzeitig als Redaktion und Aufnahmestudio diente) bis zu dem Moment, als Richard seinen ersten Text mitbrachte. Er war stilistisch holprig gewesen und unnötig aggressiv, aber Geworg hatte nur gesagt: „Beim nächsten Mal besser formulieren und weniger um dich beißen, du Haifisch“, und dann den Beitrag unverändert auf seinem Portal veröffentlicht. Seit dem Tag hatte Richard ihm unter dem Pseudonym RiShark zig weitere geliefert. Als er an jenem Vormittag vor der Sporthalle die Abbildung von Geworg angesehen hatte, hatte er direkt körperlich gespürt, wie es sein eigenes Leben aus den Angeln hob.

      Er ging bis ans Heck der Fähre und griff zum Telefon. Es war Zeit, Veronika anzurufen. Er hatte vorgehabt, ihr schon im Hafen eine Nachricht zu schicken, aber aus Aberglauben hatte er es immer wieder verschoben. Bis wir an Bord sind, bis wir ablegen, bis sicher ist, dass uns nichts mehr aufhalten kann, hatte er sich gesagt. Jetzt, mit Blick auf die dunklen Wassermassen tief unter sich, spürte er diese Sicherheit. Er rauchte fertig, schnippte die Kippe über die Reling, und während das Telefon schon Veronikas Nummer wählte, stieg er die hintere Treppe zum Oberdeck hinauf. Es war leer, hier war der Wind noch stärker als unten.

      Veronika ging nach dem ersten Läuten ran. „Und wie steht’s?“, stieß sie hervor.

      „Gut steht’s.“ Der Wind pfiff ihm um die Ohren, er konnte sich kaum selber hören. „Wir sind auf der Fähre.“

      „Wie war …“ Er konnte sich denken, dass sie nach dem bisherigen Verlauf der Reise fragte.

      „Bis jetzt läuft alles glatt. Wie sieht’s bei euch aus?“

      „Die Formánková hat Adam in die Mangel genommen. Bis jetzt hat er sich nicht verquatscht – behauptet er zumindest.“

      „Und Mama?“ Normalerweise benutzte er diesen Ausdruck sozusagen in Anführungszeichen. Bei „Mama“ musste man ein Auge zudrücken, „Mama“ machte sich übertriebene Sorgen, für „Mama“ war er immer noch ein Küken, über das sie ihre schützenden Flügel