„Zuerst hat sie mich angerufen und dann ist sie zu mir ins Theater gekommen. Ein bisschen …“ Veronika zögerte.
„Was?“
„Sie war echt runter mit den Nerven.“
„Hat sie geheult?“
„Fast. Sie hat mir erklärt, dass Abhauen zu nichts führt. Ich hab ihr erklärt, dass du nicht abgehauen bist, dass du dir nur über was klar werden willst und dich bei ihr meldest. Machst du das?“
„Mal sehn.“ Sie würde am Telefon weinen und versuchen, ihn zu überreden. Schon von ihren Emojis war ihm ganz blümerant, Tränen und Bitten würde er nicht ertragen. „Ich meld mich bei ihr, wenn wir in Gregoripol sind.“
„Und das ist wann?“
„Nicht so schnell, wie wir dachten.“ Über die sich ausdehnende Frontlinie und über Bombardierungen wollte er mit Veronika nicht reden. Bis jetzt war sie zwar ziemlich cool gewesen, aber er wollte nicht sondieren, wie belastbar die äußere Hülle ihrer Coolness war.
„Und die Briefe“, fragte sie. „Wann soll ich die verteilen?“
„Weiß nicht, das muss ich noch mit den Jungs diskutieren. Ich schick dir ’ne Nachricht.“
„Schick mir ’n Selfie.“
„Nein.“
„Warum denn nicht?“
„Das Thema hatten wir doch schon.“ Die Abmachung war klar und alle hatten eingewilligt: ein Minimum an Telefonaten, keine Videos, keine Fotos. Schon Nikola, ein Basketballkumpel, der in gewisser Weise ihre Vorhut war und ihnen eine Menge wertvolle Tipps gegeben hatte, hatte sie gewarnt, dass man aus unschuldigen Selfies eine ganze Menge Informationen rauslesen konnte, und Informationen konnten missbraucht werden, man musste auf sie aufpassen. Auch mit Nachrichten wäre bald Schluss. Lewans Onkel Erasim hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass bei einigen Einheiten Handys verboten waren und dass in vielen Hochtälern überhaupt kein Empfang war. Davon hatte Richard Veronika nichts erzählt. Er wollte sie nicht unter Stress setzen. Sie stammte aus einer Familie von Theaterleuten, ihr Horizont und ihre Emotionalität waren definiert von den Brettern, die die Welt bedeuteten. Am eigenen Leib hatte sie wenig erfahren, aber sie hatte alles bereits auf der Bühne gesehen. Richard hatte sie unter Verdacht, dass sie sich den Krieg wie eine Inszenierung vorstellte – wem’s nicht gefiele, der könnte sich in der Pause seine Sachen schnappen und nach Hause gehen.
„Fotos sind ein Risiko“, erinnerte er sie.
„Zugvögel auch?“
Ehe er fragen konnte, wie sie das gemeint hatte, meldete sein Handy schon eine neue Nachricht.
„Ich hab das Gefühl, dass sie schon bei dir gelandet ist“, sagte Veronika. „Willst du nicht nachsehen?“
Er sah nach. Und sein Puls beschleunigte sich. Der Anblick der Schwalbe, die sich Veronika auf den Nacken tätowieren lassen hatte, rief die unmittelbare Erinnerung an ihre letzte gemeinsame Nacht hervor. An einige Momente, die für ihn (und er glaubte, dass das auch für sie galt) die Entdeckung neuer Welten bedeutet hatten. Sie waren so fantastisch gewesen, dass er seine bevorstehende Abreise kurz bereut hatte.
„Ist sie eingetrudelt?“
„Sie ist da.“
„Schwalben sind treu, aber eifersüchtig“, ermahnte sie ihn. „Also sei auf der Hut!“
„Du auch“, zickte er zurück. Mit gespieltem Misstrauen fügte er hinzu: „Wo bist du überhaupt, was machst du dort, und wer macht mit?“
Sein Verhör amüsierte sie. „Ich steh vorm Theater an der Haltestelle und wart auf meine Bahn. Außer mir sind ’n paar Touris hier, die starren in ihre Handys und wollen den Weg zum Vyšehrad erklärt haben. Willst du’s ihnen nicht sagen? Dein Englisch ist besser.“
Ihr leicht heiserer Kontra-Alt bescherte Richard eine Gänsehaut. „Die sollen sich in die Siebzehn setzen“, empfahl er. „Take tram number seventeen, das kriegst du auch hin. Ach so, und noch was … Du weißt schon.“
„Was?“
Er berührte den Ring; unbewusst drehte er ihn am Finger einmal herum. „Das weißt du nicht?“
Einen Moment war Ruhe, dann sagte sie: „Ich dich auch.“
An der Grenze zum Flüstern war ihre Stimme ohne Konkurrenz.
„Gute Nacht, meine Liebste“, verabschiedete er sich (Gänsehaut überall) und beendete das Telefonat. Noch ein paar Sekunden hielt er das Handy ans Ohr gepresst, um Zeit zu gewinnen, damit er von der Prager Straßenbahnhaltestelle zurück auf das windige Schiffsdeck umschalten konnte. Dann ging er zu Lewan.
„Wie sieht’s aus?“, fragte er. „Hast du mit deinem Onkel gesprochen?“
„Angeblich kommen wir nicht über die Kural-Talsperre.“
„Wieso?“
„Die wird von Soldaten bewacht.“
„Haben die Angst, dass die jemand in die Luft jagt?“
„Einen Versuch hat’s schon gegeben. Da haben sie lieber die ganze Gegend abgeriegelt.“
„Gibt es einen anderen Weg, wie wir nach Gregoripol kommen?“
„Mein Onkel schlägt vor, dass wir uns gleich, wenn wir von Bord sind, rekrutieren lassen. Direkt in Jeremesch. Das bedeutet …“
„Dass wir mit der Armee weiterfahren“, begriff Richard. „Genial!“
Ihm wurde klar, dass sich die Zeit, die er als Zivilist verbrachte, dadurch erheblich verkürzen würde. Ihm blieben eher Stunden als Tage. Er spürte ein Stechen unter den Rippen. „Genial“, sagte er noch einmal.
Der brutale Überfall auf den Friedensaktivisten Lewan Manusch nach seinem Auftritt bei der Prager Demonstration gegen die weltweite Aufrüstung im letzten Jahr ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Das ist nur ein weiterer Fall, der den Unwillen unserer Polizei beweist, sich mit einer Art von Kriminalität zu befassen, deren Opfer Angehörige ethnischer Minderheiten in Tschechien sind. Das augenfälligste Beispiel für diese Einstellung ist der Mord am Journalisten Geworg Arojan, bei dem der Täter nach wie vor nicht ermittelt wurde. Unfähigkeit, Schlamperei oder Absicht?
Seine Augen waren müde, obwohl er nicht durch optische Brillengläser schaute. Heute war er nicht Johnny, sondern Jewgeni. Fast den ganzen Tag hatte er am Rechner gesessen – eine bombensichere Methode, sich die Augen zu ruinieren. Jetzt therapierte er sie mit dem Blick auf unbewegliche Objekte. Kilometerweise beige Fliesen, eine Batterie von Kassen, Hunderte Dosen mit Hundefutter, endlose Reihen Tiefkühltruhen.
Er mochte Orte, die nicht schliefen. Manchmal nachts fuhr er in einen Hypermarkt, einfach so, nicht um einzukaufen. Er ging dann immer durch die langen Reihen zwischen den Regalen und dachte über die Menschen nach, denen er hier begegnete. Es waren überraschend viele. Sonderlinge, Workaholics, denen tagsüber keine Zeit zum Einkaufen blieb, Schlaflose, Eigenbrötler. Er überlegte, in welche Kategorie er sich selbst einordnen würde. Ein bisschen in alle. An Insomnie litt er zwar nicht, aber er hatte ein außerordentlich geringes Schlafbedürfnis, einen Teil der Nacht war er regelmäßig auf. Manchmal nutzte er diese Zeit zum Lesen, am liebsten von Lyrik (die Verse von Puschkin verschwanden niemals von seinem Nachttisch), wenn nötig, arbeitete er, ab und an übte er Deutsch, aber meist sortierte er seine Gedanken. Jewgeni schlief nicht, schweifte nur durch die Gedanken wie durch einen Hain … In der Stille der Nacht ließ sich so eine mentale Durchsicht am besten bewerkstelligen. Anschließend kam er sich jedes Mal so vor, als hätte er in sich drin aufgeräumt. Heute Nacht allerdings räumte er nicht auf, heute hatte er zu tun.
Am Ende des Gangs mit den Haushaltwaren blieb er stehen und