Die Residentur. Iva Prochazkova. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iva Prochazkova
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992002740
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das Alena vor Jahren zugestoßen war, wusste sie natürlich Bescheid. Richard sagte, dass er sich kein bisschen an seine Schwester erinnern könne, als sie gestorben war, sei er noch viel zu klein gewesen; aber dass er immer brav sein musste, damit seine Mutter nicht traurig war, das war fest in seinen Erinnerungen verankert. Sein Vater muss es ihm andauernd wieder gesagt haben. Die Vorstellung, wie der kleine Richard sich um jeden Preis bemühte, artig zu sein, während seine Mutter in Verzweiflung versank, deprimierte Veronika.

      „Er ist neunzehn“, sagte sie sanft. „Ein Haufen Leute in seinem Alter machen schon längst, was sie wollen. Manche wohnen nicht mal mehr zu Hause.“

      „Aber Richard wohnt doch bei uns.“

      „Ja, allerdings hat er sein eigenes Leben. Er will sich da nicht reinreden lassen. Er will seine Probleme selber lösen.“

      „Probleme? Hat er Probleme?“ Diesmal lag in Alenas Stimme unverhüllte Panik. Sie presste Veronikas Hand so stark, dass sich der Ring von Richard in den Nachbarfinger eingrub. „Egal, was es ist, er muss doch deswegen nicht abhauen!“

      „Er ist nicht abgehauen.“ Veronika schaute ihr in die bettelnden Augen und dachte fieberhaft nach, wie viel sie sagen durfte, um sie zu beruhigen, dabei aber keinen Verrat zu begehen, als sie die Durchsage der Inspizientin rettete.

      „Das war das zweite Zeichen, die Pause ist zu Ende“, kam es aus dem Lautsprecher über ihren Köpfen. „Fortsetzung der Vorstellung in fünf Minuten.“

      „Ich muss mich fertigmachen.“ Veronika ging rückwärts los. Dann machte sie wieder einen Schritt nach vorn und umarmte Richards Mutter ganz fest. Sie hatte das nicht vorgehabt, konnte sich aber der Flut von Emotionen nicht erwehren. Sie durchlebten einen außergewöhnlichen Augenblick, einen Schlüsselmoment ihres Lebens, sie musste ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Es war unmöglich, das nüchtern zu spielen. Alena hatte die breiten Schultern einer Schwimmerin, aber ihre Ohnmacht weckte in Veronika den Beschützerinstinkt.

      „Mach dir keine Sorgen“, flüsterte sie ihr ins Ohr. „Er meldet sich.“

      „Wann denn?“

      „Weiß nicht, bestimmt … bestimmt bald.“ Aus Furcht, noch mehr zu verraten, löste sie die Umarmung und stürzte in ihre Garderobe. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dass die Unterhaltung mit Richards Mutter ihr so zu schaffen machen würde, hätte sie nicht gedacht; sie war der Meinung gewesen, gut darauf vorbereitet zu sein. Aber eine Sache war es, die einzelnen Schritte im Voraus zu planen, eine ganz andere Sache, sie auch umzusetzen. Und die Hauptaktion stand ihr erst noch bevor. Für einen Moment bekam sie vor Angst weiche Knie, aber sofort rief sie sich zur Räson. Zur Angst gab es keinen Grund. Sie war mit Richard alles detailliert durchgegangen, auf alle Fragen hatte er ihr eine Antwort gegeben, jede Unsicherheit zerstreut. Er wusste, was er tat und warum er es tat, und Veronika hatte seine Gründe akzeptiert. Nicht ohne anfängliche Einwände, aber er hatte sie überzeugt. Wo Worte nicht ausreichten, hatte er sie durch die Sprache seines Körpers ersetzt. Und durch sein vielsagendes Pfeifen – damit hatte er sie noch jedes Mal rumgekriegt. Ein Rest von Zweifel war trotzdem in ihr zurückgeblieben, und je länger das Schweigen dauerte, desto mehr Raum gewann die Ungewissheit. Richard hätte vor der Vorstellung anrufen sollen, aber das hatte er nicht. Sie hoffte, dass er sich danach melden würde. Wenn nicht, musste irgendwo ein Fehler passiert sein.

      Quae bello est habilis, veneri quoque convenit aetas.

      (Nur Jugend, die zum Kriege taugt, eignet sich auch zur Liebe.)

      Quamlibet extinctos iniuria suscitat ignes.

      (Unrecht schürt selbst längst verloschene Flammen.)

      Ille movet bella, qui narrat falsa novella.

      (Wer falsche Kunde gibt, löst Kriege aus.)

       Lateinzitate für die Oberstufe

      Richard stieg die steilen Stufen zum Unterdeck hinab und suchte mit den Augen zwischen den geparkten Autos den grauen Opel. Vor Lewan und Martin hatte er so getan, als gehe er nur seine Zigaretten holen, aber in Wirklichkeit wollte er sich überzeugen, dass alles in Ordnung war. Gestohlen wurde überall, zweifellos auch auf Fährschiffen. Die Regina Aquae war außerdem wahrlich kein Schiff der Luxusklasse und tat auch nicht so. Sie gehörte einer Billigfährlinie, der Fahrpreis war bis an die unterste Grenze gedrückt und die Zusammensetzung der Passagiere, die Sicherheitsvorkehrungen und die angebotenen Dienstleistungen waren dementsprechend. „Was zu verzollen?“, plärrte beim Einschiffen ein Mann in verschossener Uniform durch jedes Autofenster. Die Antwort wartete er nicht ab, zeigte nur mit der Hand, wo man hinfahren sollte, und wandte sich schon dem Nächsten zu. „Wir haben’s geschafft. Beim Ausschiffen wird keiner mehr nach irgendwas fragen“, sagte Lewan, der diese Überfahrt nicht zum ersten Mal absolvierte. Auf seine Informationen konnte man sich verlassen und der zeitliche Ablauf war bis jetzt absolut perfekt. Richard verspürte ihm gegenüber immer größeren Respekt – und gleichzeitig Scham. Er schämte sich auch vor Martin. Alle beide hatte er im Unklaren gelassen.

      Das Parkdeck war still und nur spärlich beleuchtet. Als er zwischen den Autos durchging, sah er hier und da einen schlafenden Fahrer, in einigen Transportern waren die Vorhänge zugezogen und es drangen Geräusche nach draußen, bei denen er sich ausmalen konnte, was drinnen vor sich ging. Die Fähre war ein Ort reger Geschäfte, sie verschaffte auch Prostituierten regelmäßige Einnahmen. Meist stiegen sie zu den Fahrern in die LKW-Kajüten ein, aber wenn sie sich einen Klienten anlachten, der keine Kajüte hatte, fanden sie eine andere Lösung. Lewan zufolge (der behauptete, das nicht aus persönlicher Erfahrung zu wissen) waren sie in dieser Hinsicht außerordentlich erfindungsreich. Richard hatte zuvor ein paar von ihnen an der Bar sitzen sehen. Die unterschiedlichsten Typen, Nationalitäten und Altersstufen, von ganz jungen Frauen bis hin zu solchen, denen die Regina Aquae offenbar als letzte Karrierestation diente. Eine von ihnen hatte Richard angelächelt, als er an ihr vorbeigekommen war, und ihm von ihrem Barhocker aus fröhlich etwas in einer Sprache zugerufen, die er nicht verstand. Sie hatte ein breites tatarisches Gesicht mit schwarzen Augen und schien den Schelm im Nacken zu haben. In diesem Moment hatte sie ihr Tagespensum hinter irgendwelchen zugezogenen Gardinen wahrscheinlich schon absolviert.

      Lewans Opel stand am entgegengesetzten Ende des Parkbereichs. Nach der mehrstündigen Fahrt durch Regen und Schneematsch war er bis ans Dach mit Schlamm bespritzt. Richard schloss auf, beugte sich in den Wagen und ließ seinen Blick durch das Innere gleiten. Alles schien unangetastet zu sein. Er nahm ein Päckchen Zigaretten aus dem Handschuhfach, ging um das Auto herum und öffnete die Heckklappe. Die Decke, mit der sie die Ladung abgedichtet hatten, rutschte ihm auf die Füße und die Lampe, die ihm entgegenkam, fing er im letzten Moment auf, ansonsten waren alle Sachen in Ordnung und an ihrem Platz. Ganz obenauf lag der dunkelgrüne Bodyguard, Martins struppiges Plüschkrokodil, das sie aus Jux mitgenommen hatten, mit seinen phosphoreszierenden Augen überwachte es das Ganze. Richard schob es beiseite und griff zwischen die Isomatten. Er ertastete den Verbandskasten, lüftete den Deckel und schaute hinein. Der Anblick erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit. Dort waren Dinge, von denen er wusste, dass sie ihm zupasskommen würden und dass er mit ihnen umgehen könnte. Die Expedition nach Kambodscha letztes Jahr hatte ihm nicht nur Inspiration geboten, sondern auch reichlich Praxis.

      Er griff nach dem Beutel mit Reis, schnürte ihn auf und steckte die Hand hinein. Eine Weile tastete er mit den Fingern zwischen den Körnern herum, bis er die Pistole gefunden hatte. Er holte sie nicht heraus, es genügte ihm, zu wissen, dass sie da war. Sie war die Quelle seiner Sicherheit und seiner Nervosität. Wenn sie bei der Zollkontrolle gefunden worden wäre, hätte das ihrer ganzen Aktion höchstwahrscheinlich den Todesstoß versetzt.

      Er zog die Hand aus dem Reisbeutel und band ihn wieder zu. Vorzumachen brauchte er sich nichts; er hatte sich benommen wie der letzte Trottel. Unbesonnen hatte er gehandelt, nicht alle möglichen Konsequenzen bedacht – sein größter und häufigster Fehler. Den er andauernd wieder machte, und auch die sechsmonatige Ausbildung bei der Patrola hatte ihm nicht geholfen, ihn abzustellen. „Obacht bei Entscheidungen. Du hast die Tendenz, voreilig Schlüsse zu ziehen, manchmal sind das bei dir wirklich Kurzschlusshandlungen. In Krisensituationen kann das nicht nur