Die Residentur. Iva Prochazkova. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iva Prochazkova
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992002740
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      „Weiß nicht.“ Es klang, als hätte sie aufgehört zu atmen.

      „Warum glaubst du, dass er weggefahren ist?“

      „Er hat seine Sachen mitgenommen.“

      Štěpán blieb stehen. Diese atemlose Art zu reden kannte er genau. So hatte sie nach dem Tod von Johanka gesprochen – wenn sie überhaupt etwas gesagt hatte.

      „Was hat er alles mitgenommen?“

      „Das Zelt, die Bergschuhe, den Schlafsack“, zählte sie auf. „Den Rucksack, ein paar Pullover, die Isomatte …“

      „Hast du mit Veronika gesprochen?“

      „Sie schwört, dass sie nichts von ihm weiß. Ich fahr zu ihr. Wenn die mich an der Nase rumführt, dann krieg ich das schon aus ihr raus.“ Es war der erste längere Satz, den sie geäußert hatte. Im nächsten Moment, als hätte sich ein Schleusentor geöffnet, sprudelte es so überstürzt aus ihr heraus, dass Štěpán sie kaum verstehen konnte. „Hanka Formánková hat angerufen, Martin hat das ganze Geld abgehoben, das auf seinem Konto war, ungefähr zwanzigtausend Kronen, also hab ich gleich auf Richards Konto nachgeguckt, das ist auch auf Null. Sie haben die Pässe mitgenommen. Keine Zeile zur Erklärung haben sie geschrieben, und die Telefone sind die ganze Zeit ausgeschaltet. Die Nachbarin von den Formáneks hat angeblich am Freitag Nachmittag gesehen, wie sie bei ihnen vorm Haus in ein Auto gestiegen sind. Am Freitag! Das heißt, vor vier Tagen!“

      „In was für ein Auto?“

      „Sie weiß nur, dass es grau war, sonst nichts.“

      Die monotone Geräuschkulisse in Alenas Hintergrund wurde von einer Lautsprecherdurchsage und dem Zischen aufgehender Türen übertönt. Danach war noch ein Hupen zu hören, worauf er sich zusammenreimte, dass sie gerade auf ihrem Vorstadtbahnhof in den Zug gestiegen war. Obwohl sie eine ausgezeichnete Autofahrerin war, musste sie sich nach Johankas Tod immer sehr überwinden, um sich hinters Lenkrad zu setzen, und auch auf dem Beifahrersitz war sie immer nervös. Für den tragischen Verkehrsunfall hatte sie natürlich nicht die geringste Verantwortung gehabt, sondern ihr Exmann, Alena hatte allerdings dank eines verworrenen Denkprozesses die Schuld schließlich bei sich verortet. Gegen das Autofahren hatte sie eine Phobie entwickelt, die sie auch nach so vielen Jahren nicht geschafft hatte zu überwinden.

      „Ich kann einfach nicht glauben, dass er Gott weiß wohin aufgebrochen ist und uns nichts gesagt hat. Warum hätte er das tun sollen?“

      „Weil er weiß, dass er auf seinem Hintern sitzen und büffeln sollte“, bot ihr Štěpán eine logische Erklärung an. In seinem Kopf spulte er noch einmal die Ohrfeigenetüde zwischen sich und seinem Sohn ab. In ihm keimte der Verdacht auf, dass es da einen Zusammenhang zu Richards Verschwinden gab. Ins Hirn konnte er ihm nicht schauen, aber seine Bemerkung über Eržika (sinnlos, außerdem vulgär) hatte bewiesen, dass er heimlich in Štěpáns Sachen herumwühlte. Er musste Eržikas Briefe gelesen haben. Sie hatte sich darin zu ihren Gefühlen bekannt und zu der Angst, die sie nicht unter Kontrolle bekam. Sie hatte immer am Abend geschrieben, und wenn sie sich dann mit Štěpán traf, schob sie die Zettel heimlich in seine Tasche, damit er sie erst lesen würde, wenn er wieder alleine wäre. Es waren wunderschöne, zart erotische Briefe und für Štěpán hatten sie eine so tiefe Bedeutung, dass er sich nicht von ihnen trennen konnte. Die Vorstellung, dass sein Sohn sie gelesen hatte, war ihm im tiefsten Innern unangenehm. Außerdem gab es dort Anspielungen auf Dinge, von denen er niemandem erzählt hatte, und dazu hatte er auch seine Gründe.

      „Und wenn ich aus Veronika nichts rauskriege, was machen wir dann?“

      „Könnte nicht Hankas Mann was von ihnen wissen?“ Štěpán kannte Jakub Formánek nur flüchtig, aber er wusste, dass Martin und Richard ihn bewunderten. Er besaß einen großen Fitnessklub (davor hatte er eine große Lasergame-Arena und noch früher ein großes Kampfsportzentrum besessen) und benahm sich so, als kenne er große Geheimnisse. Geheimnisse von echten Kerlen. Štěpán ging das umso mehr auf die Nerven, als er hinter Richards Bewunderung den Respekt gegenüber primitiver physischer Kraft spürte, für die er selbst nach außen hin nur Geringschätzung übrig hatte, vor der er aber tief in seiner Seele panische Angst hatte – unter anderem auch, weil er von eher fragiler Konstitution war, seit einem weit zurückliegenden Bruch auf dem rechten Bein leicht hinkte und weder die Motivation noch die Ausdauer gefunden hatte, sich Muskeln anzutrainieren. Zu Zeiten, als Alena noch Wettkampfschwimmerin gewesen war und hart trainiert hatte, hätte sie ihn physisch ohne Mühe in die Knie gezwungen.

      „Hankas Mann weiß momentan überhaupt nichts. Der hat ein hormonelles Blackout. Und kann sich nicht mal daran erinnern, wann er seinen Sohn zum letzten Mal gesehen hat.“ Alena verstummte und Štěpán stellte sich vor, wie sie zusammengesunken auf einem Sitz des halbleeren Vorortzugs hockte, das Gesicht zum Fenster gedreht, die Stirn unglücklich in Falten gelegt, die Sehnen am Hals angespannt, im hartnäckigen Versuch, keinen Nervenzusammenbruch zu kriegen.

      „Ich komme“, sagte er. Er konnte sie jetzt nicht damit alleine lassen. Außerdem beunruhigte ihn, dass Richard seinen Pass mitgenommen hatte. Und sämtliches Geld vom Konto abgehoben. Das rückte seine Eskapade, die bis jetzt nach keiner großen Sache ausgesehen hatte, in ein neues Licht. Wer weiß, wo er hingefahren ist, und wer weiß, was er alles mitgenommen hat. Štěpán sah den Inhalt seines Safes vor sich und wurde noch unruhiger. Gab es denn nicht eine Stelle auf der Welt, die er als privat betrachten konnte? Er ließ seinen inneren Panoramablick über die Koordinaten seines Lebens gleiten und konnte keine solche Stelle finden. Auf einmal kam er sich vor wie ein Gejagter.

      „Wann?“, hörte er Alenas leise Stimme.

      „Wie – wann?“

      „Wann du kommst.“

      „Sofort. Ich muss hier nur noch kurz mit ein paar Leuten reden.“

      Er hatte keine Zweifel, dass ihn Libor Fára, wenn er ihn darum bitten würde, mit dem Wahlkampf-Van nach Prag bringen lassen würde. Verständlicherweise müsste er sich einen vorgeschobenen Grund einfallen lassen. Richard erwähnen wollte er nicht. Noch größere Unlust verspürte er bei der Vorstellung, dass er mit dem Chauffeur Smalltalk machen müsste. Und das auch auf dem Rückweg, weil sie wegen der Veranstaltung in Uherský Brod am nächsten Morgen gemeinsam wieder zurückfahren müssten. Štěpán fand das alles auf einmal völlig sinnlos.

      „Ich überlege gerade“, pirschte er sich langsam heran, „ob es nicht totaler Schwachsinn ist, dass ich …“

      Aufgewühlt unterbrach sie ihn: „Ich hab so eine Ahnung, dass ihm was passiert ist. Hat er dir vielleicht was anvertraut? Nicht jetzt, ich meine, schon früher.“

      „Was denn?“

      „Er muss irgendwas erlebt haben … was für ihn irgendwie wesentlich war … Vielleicht hat er uns Signale gegeben …“ Sie seufzte tief. „Lieb von dir, dass du kommst.“

      Štěpán begriff, dass er keine Wahl hatte. Vielleicht gab es zwischen Znojmo und Prag eine gute Busverbindung. Er könnte unterwegs arbeiten und Mails beantworten. Und morgen früh würde er mit seinem eigenen Auto nach Mähren zurückfahren.

      „Entschuldige, ich muss Schluss machen“, sagte er. Am Büffet sah er den Ortsvorsitzenden und Fára. Sie standen da mit ein paar Leuten, die aussahen wie die örtlichen VIPs. Fára gab Štěpán ein Zeichen, dass er sich zu ihnen gesellen möge. Einem Treffen mit Lokalgrößen aus dem Weg zu gehen, gehörte zu den Fehlern, die sich rächen könnten – dass hatten sie am Anfang ihrer Mähren-Tour klar definiert.

      „Also ahoj, bis später“, verabschiedete er sich von Alena. „Und falls du von Veronika was erfahren solltest, ruf mich an.“

      Er steckte das Handy in die Tasche, und während er sich der kleinen Gruppe näherte, justierte er seinen Gesichtsausdruck auf freudige Erwartung.

      „Alles in Ordnung?“, fragte Fára.

      „Kleine Problemchen.“

      „Was mit deinem Vater?“ Diese