Er wandte seine Aufmerksamkeit den Menschen zu, die ihm der Ortsvorsitzende nun vorstellte. Es dauerte nicht lange, und er hatte sich auf den Tonfall ihrer Konversation eingepegelt. In kleinen Schlucken trank er mährischen Gewürztraminer und verscheuchte die Gedanken daran, was ihn zu Hause erwartete. Dass Richard vor einiger Zeit angefangen hatte, Interesse an seiner Pistole zu zeigen, war ihm natürlich nicht entgangen, aber er hatte nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte. Ein striktes Verbot hätte die Neugier seines Sohnes nur noch vergrößert, das war klar. Das hätte auch ihrer Beziehung nicht gut getan, die sowieso schon angespannt war. Um einem Konflikt auszuweichen, hatte Štěpán schließlich das Bequemstmögliche getan: Er hatte sich einen Safe zugelegt, die Waffe dort verstaut und die ganze Sache unkommentiert gelassen. Jetzt wurmte ihn das. Es war ein Fehler gewesen, dass er nicht mit Richard gesprochen, ihm keine klaren Grenzen gesetzt hatte, es war ein Fehler gewesen, dass er sich die Waffe überhaupt besorgt hatte. Trotz der beruhigenden Wirkung des Weins spürte er, wie er immer nervöser wurde. Eins nahm er sich vor: Falls sich seine Befürchtungen als nichtig herausstellen sollten und er bei seiner Rückkehr nach Prag die Pistole an Ort und Stelle vorfände, würde er sie aus dem Haus schaffen.
„Ich weiß Ihre klare Haltung zu unserer Außenpolitik sehr zu schätzen, Herr Ingenieur“, sagte ein Mann, der neben ihm stand, und beugte sich näher zu ihm. „Wir wissen doch alle, was diese sogenannten Flüchtlinge schon in Deutschland und anderswo angerichtet haben. Das müssen wir hier unbedingt verhindern. Das Rezept ist klar: Keinen aufnehmen!“
„Die andere Seite dieses Rezepts ist die Nichteinmischung“, sagte Štěpán. „Unser Prinzip sollte sein, uns nicht einzumischen.“
„Richtig. Und was Sie über die Sanktionen gegen Russland gesagt haben, das kann ich ebenfalls unterschreiben. Nicht nur Tschechien, ganz Europa soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, statt andauernd irgendwelche unwirksamen Strafen zu verhängen. Das gehört überhaupt nicht zu unseren Aufgaben. Die Leute wollen Ruhe. Was wir richtig gut können, ist arbeiten und Geschäfte machen, und daran sollten wir uns halten, oder?“
„So ist es. Wenn Europa Bedeutung haben will, muss es eine offene Wirtschafts- und Handelsgroßmacht bleiben und darf sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen“, gab Štěpán ihm recht. Dass das ein Paradox war, weil ein gewaltiger Teil der europäischen Einnahmen (die tschechischen nicht ausgenommen) aus dem Waffenhandel mit Ländern herrührte, deren Politik durch die Aufrüstung direkt beeinflusst wurde, ließ er unerwähnt. Auch die Tatsache, dass tschechische Waffen und das legendäre Semtex diversen Terroristen bei einer ganzen Reihe von Anschlägen nachweislich gute Dienste geleistet hatten, war kein dankbares Thema und bei Diskussionsveranstaltungen versuchte er es zu vermeiden.
„Wie geht’s Ihrer Frau?“, fragte ihn eine Teilnehmerin auf der gegenüberliegenden Tischseite.
„Gut, danke.“
„Ich war in meiner Jugend auch Leistungsschwimmerin. Aber bis zur Olympiade hab ich’s nicht geschafft“, sagte sie. „Wir haben großes Mitgefühl mit ihr gehabt … Damals, als diese Katastrophe passiert ist.“
Die Nachricht von dem Autounfall, bei dem Johanka ums Leben gekommen war, hatte seinerzeit hohe Wellen geschlagen; Alena war bei den Menschen außerordentlich beliebt gewesen. Sie hatte Selbstvertrauen und unbeugsamen Optimismus ausgestrahlt – vor der Tragödie. Nach ihr war sie durch die allerschwärzeste Hölle gegangen. Und Štěpán war die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen und hatte ihr die Hand gehalten. Fast zwei Jahre hatte es gedauert, ehe am Ende des Dunkels Licht auftauchte. Zwei Jahre, in denen sie sich in Apathie und Verzweiflung gewälzt hatte, und wäre der kleine Richard nicht gewesen, hätte sie sich wohl etwas angetan. Für ihre Beziehung war das eine Belastungsprobe gewesen, sie waren weit zum Grund hinabgestiegen. Seit der Zeit wussten sie, wo dieser Grund war, und waren peinlich bemüht, einen großen Bogen darum zu machen.
„Und Ihr Sohn? Er will Arzt werden, richtig? Welche Fachrichtung schwebt ihm denn vor?“
„Das weiß er noch nicht. Und falls er’s doch schon weiß, dann wäre ich der Letzte, dem er’s auf die Nase bindet.“
Seine Worte hatten sie amüsiert, aber er selbst fand an ihnen nichts zum Lachen. Er überlegte, wann Richard sich ihm zum letzten Mal mit seinen Plänen anvertraut hatte. Tage und Wochen reichten nicht. Möglicherweise habe ich tatsächlich ein wichtiges Signal nicht wahrgenommen, das er in meine Richtung ausgesandt hat, ging ihm durch den Kopf. Vielleicht ist sein Verschwinden nur die Spitze eines Eisbergs, der schon lange neben mir hergetrieben ist und den ich nicht bemerkt habe. Aber was ist in diesem Fall unter der Wasseroberfläche?
Freunde sind im Leben von Jugendlichen wichtiger als die Eltern. Das hat eine Studie führender europäischer Soziologen bestätigt. Den Wissenschaftlern ist es gelungen zu zeigen, dass junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren eine starke freundschaftliche Beziehung als höchsten Wert im Leben betrachten. Dafür sind sie bereit, nicht nur von den Prinzipien abzuweichen, die ihre Familien ihnen mitgegeben haben, sondern auch Vorteile aufzugeben, die ihnen ihre familiären Bindungen gewährleisten. 42 % der Befragten haben eingeräumt, dass sie nicht zögern würden, für ihren besten Freund ihr Leben einzusetzen.
Veronika sah Adam sofort, als sie von der Bühne kam. Er stand im Flur zwischen den Schauspielergarderoben und nicht nur in seinem Gesicht, sondern in seiner ganzen Haltung konnte sie das Wort Niederlage lesen. Wäre er zum Casting für einen Loser-Typen gekommen, hätte er die Rolle sofort kriegen müssen. Aber er war nicht zum Vorsprechen da.
„Sag das Erste, was dir einfällt“, forderte er sie ohne Begrüßung auf.
„Kacke am Dampfen.“ Dass er hier war, konnte nichts anderes bedeuten. „Was ist los?“
Sie zog ihn ein Stück weiter, weil in der Pause Hochbetrieb herrschte und sie unnötig Aufmerksamkeit erregten. Angespannt sah sie ihm in die Augen. „Wieso bist du überhaupt hier?“
„Rat mal. Nimm’s als Intelligenztest.“
„Adam, hör auf!“ Manchmal fand sie seine Kommentare ziemlich witzig, aber heute hatte sie nicht den geringsten Sinn für so was. „Du solltest gerade ganz woanders sein! Also, was ist passiert?“
„Nichts. Außer …“ Er verstummte, sein Blick war unruhig wie bei einem Hund, der was angestellt hatte.
„Du hast dir’s anders überlegt.“ Jetzt kapierte sie. Und ihr fiel auf, dass sie kein bisschen überrascht war. Seit dem Moment, als Richard ihr den Plan anvertraut hatte, hatte sie gespürt, dass Adam dabei das schwächste Glied war. „Wann hast du dich umentschieden?“
„Ich bin mit den Jungs nicht mal mit in die Slowakei gefahren.“
„Dann warst du in der Schule? Hast du etwa mit der Formánková geredet?“
„Die hat mich heute Vormittag am Tor abgepasst.“
Das versetzte Veronika in Panik. Früher war sie mal Adams Fast-Mitschülerin gewesen. Bevor sie ans Schauspielkonservatorium gegangen war, hatte sie vier Jahre dasselbe Gymnasium besucht, nur eine Klasse tiefer, und sie hatte