„Wo haben Sie das denn her?“, fragte er Vačkář.
„Ich hab verfolgt, was sich beim BIS getan hat, als Oberst Bednář dort weggegangen ist. Sie sind mit ihm mit, oder? Irgendwo haben Sie sich mal dazu geäußert, ich weiß nicht mehr, wo. Ich kann mich noch erinnern, das klang so … prinzipientreu.“
„Ist schon ziemlich lange her.“
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie heute keine Prinzipien mehr haben?“
„Ich will sagen, dass ich mich zu Dingen, an denen ich nichts ändern kann, nicht mehr äußere“, erläuterte Brian und spürte einen Stich. Der Austausch der BIS-Führung, die Abberufung von Oberst Bednář und der demonstrative Weggang seiner Getreuen, zu denen sich Brian selbst auch zählte, waren für ihn nach wie vor ein schmerzliches Thema. Bis heute hatte er das nicht verdaut. Dass ihm Bob und Bobek ein Rettungsseil zugeworfen und ihn bei der Polizei in eine Abteilung hineingezogen hatten, wo er sich definitiv auch nicht langweilte, hatte an der Sache nichts geändert. Das Gefühl, dass er damals hitzköpfig gehandelt und einen Job aufgegeben hatte, für den er wie geschaffen war, steckte immer noch tief in ihm.
„Bei mir ist das so, dass ich mich zu Dingen, an denen ich nichts ändern kann, nicht nur nicht mehr äußere, sondern die verabschiede ich aus meinem Blickfeld“, verkündete Vačkář und ging hinaus auf den Flur. „Ich konzentriere mich nur auf die Hauptsache.“
„Und was ist die Hauptsache?“, fragte Brian.
Vačkář ließ gedankenverloren den Blick an ihm hinabgleiten. „Wissen Sie, was der Häuptling der Sioux den Männern aus seinem Stamm vor der Schlacht gesagt hat? Richtet das Hauptaugenmerk auf die direkte Bedrohung. Wenn ihr euren Skalp nicht einbüßen wollt, zielt immer auf den allernächsten Gegner …“
Er ließ das Satzende in der Luft schweben und Brian wartete auf die Pointe, aber zu seiner Überraschung nickte Vačkář nur kurz – es wirkte wie ein „Howgh!“ – und schloss die Tür hinter sich. Die sich entfernenden Schritte im Flur waren leise, es schien, als gehe ein Geist davon.
„Haben Sie eine Ahnung, wovon er geredet hat?“ Brian drehte sich zu Marta um. Sie war über den Tisch gebeugt, vor sich eine Liste, die sie aus der Akte gezogen hatte.
„Ich glaub, von seiner Krankheit“, sagte sie, ohne den Kopf zu heben. „Das ist für ihn die allernächste Bedrohung.“
„Hat er Krebs?“
„Leukämie.“
„Und was steht ihm jetzt bevor?“ Brian dachte an Vačkářs kahlen Schädel. „Die Chemo hat er ja offensichtlich schon hinter sich.“
„Ich will nicht über ihn sprechen.“
„Warum nicht?“
„Weil er nicht anwesend ist. Kommen Sie, beschäftigen wir uns mit Arojan.“
„Der ist auch nicht anwesend.“
„Finden Sie sich witzig?“ Sie hob den Kopf. In ihrem Gesicht war nichts Überflüssiges. Einfache Züge, wie sie ein Kind zeichnen würde. Eine gewölbte Stirn, um die Augen kleine Fächer aus Fältchen, dichtes dunkles Haar, durchwirkt von silbernen Strähnchen. Eine natürlich reine Haut, keine Spur von Make-up. Eine wunderschöne reife Frau. Brian verspürte Unruhe und wandte den Blick ab. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Aus Fehlern wird man und so weiter.
„Haben Sie hier eine Kantine?“, fragte er.
„Um die Uhrzeit ist die schon zu.“
„Und der Kaffeeautomat? Wo ist der gleich noch mal?“
„Einmal um die Ecke.“
„Rechts rum oder links rum?“
„Rechts.“
„Soll ich Ihnen auch einen mitbringen?“
„Ach … nein, danke.“
Sie antwortete zerstreut, hatte sich bereits in die Arbeit versenkt. Ihm wurde bewusst, dass sie zusammen Stunden in diesem Büro verbringen würden. Sie würden sich gegenüber sitzen (wenn er seinen Stuhl an die schmale Tischseite rückte, wäre er ihr näher, könnte ihr aber wiederum nicht so gut ins Gesicht schauen – nein, frontal wäre definitiv besser), würden Materialien aus der Akte studieren, gemeinsam darüber diskutieren, Zeugen vernehmen, raus ins Terrain fahren, sich während der Fahrt im Auto unterhalten, gemeinsam den verkorksten Fall lösen. Karoch wollte, dass Arojans Mörder gefasst wird, also würden sie ihm den servieren. Brian hatte daran keinen Zweifel; Beweise gegen Rieger zu besorgen, hatten sie auch geschafft. Natürlich nicht sofort. Eine verborgene Perle zu finden, war nicht wie ein Fingerschnippen, für Ergebnisse brauchte man Zeit und Geduld. Er sollte rausfinden, ob sie verheiratet war.
„Marta, wie wär’s mit einer heißen Schokolade?“
Štěpán Chytil hat versprochen, als Abgeordneter im Europaparlament die Bemühungen um eine größere Souveränität der Mitgliedsstaaten zu unterstützen. „Wir haben das Recht, uns spezifische Dinge zu bewahren, die wir über Jahrhunderte herausgebildet haben. Wir haben das Recht, eine Beteiligung an bewaffneten Konflikten abzulehnen, die uns nicht betreffen. Wir haben das heilige Recht, keine Flüchtlinge aufzunehmen. Das liegt nicht in unserer Tradition, und wir sind dazu auch nicht ausreichend ausgestattet“, äußerte der Kandidat der ČMD gegenüber unserer Nachrichtenredaktion.
TeleČesko, „Guten Morgen Mähren!“
Der Saal leerte sich, die Besucher der Wahlkampfveranstaltung strömten nach draußen. Im Flur stand auf einem langen Tisch ein Büffet bereit; der ČMD-Ortsvorsitzende hatte dafür gesorgt, dass es ausschließlich aus regionalen Spezialitäten bestand. Er wusste, dass die Menschen hier in Znojmo das begrüßten, genauso wie sie regionale Ausdrücke zu schätzen wussten, mit denen er im Verlauf der Podiumsdiskussion nicht gegeizt hatte. Er war jovial gewesen und hatte auch Štěpán Chytil zu einer volksnahen Sprechweise angestachelt. „Übertreiben Sie’s nicht mit Ihrer Korrektheit, reden Sie frei von der Leber weg. Sie können zwar nicht mit einem mährischen Großvater auftrumpfen, aber die Leute müssen spüren, dass Sie einer von ihnen sind“, hatte er ihn vor Beginn der Versammlung gebrieft. „Wenn Sie wollen, dass die da Ihnen ihre Stimme geben, dann zeigen Sie denen, dass Sie sich für ihre Interessen ins Zeug legen werden. Und das sind nicht nur Weinberge und Gurken, sondern auch das Recht darauf, seine regionale Identität zu behalten.“
Štěpán war auf das Frei-von-der-Leber-weg-Sprechen allergisch, aber er tat, was in seinen Kräften stand. Nach etwa zwanzig Minuten Debatte, in der alle Themen angeschnitten worden waren, von Abgeordnetengehältern über die Kritik an der Waffenrichtlinie bis zu Ausfällen gegen die Schließung von Bergwerken und gegen die Flüchtlingspolitik, wurde die Stimmung im Publikum langsam gelöster, ein paarmal belohnte es den Kandidaten sogar mit Beifall. In der folgenden halben Stunde konnte er mit einem originellen Kommentar zur Entwicklung der europäischen Wirtschaft punkten, wobei mehrere Bonmots (die er zu Hause sorgfältig vorbereitet hatte und nun benutzte, als seien sie ihm gerade eingefallen) Gelächter hervorriefen. Er hatte den Eindruck, den überwiegenden Teil des Saals langsam auf seiner Seite zu haben. Es gab ein kleines Grüppchen Querulanten, aber die meisten Anwesenden gehörten offensichtlich zum Wählerstamm der ČMD. Es interessierte sie, ob seine Standpunkte mit dem Parteiprogramm korrespondierten, und sie testeten aus, ob er schlagfertig genug war, um unter den gewieften europäischen Füchsen für ihre Interessen einzustehen. Die Querulanten hingegen wollten herausfinden, ob er ausreichend unabhängig war. Der Schlussapplaus deutete an, dass zumindest einige aus beiden Lagern vorhatten, ihm ihr Vertrauen zu schenken.
Als er die Stufen von der Bühne hinunterging, fiel ihm auf, dass in der Brusttasche sein Handy vibrierte. Er schaute aufs Display, es war Alena.
„Wir sind gerade fertig“, sagte er statt einer Begrüßung und meinte es als Entschuldigung,