Warum mein Bruder die Nation of Islam nicht schon früher verließ? Angeblich soll Muhammad dem Sportjournalisten Dave Kindred einmal gesagt haben, dass, wenn er die Nation of Islam verlassen hätte, sie ihn umgebracht hätten. Oft sagte er über die NOI: „Ein Narr kann sich für einen weisen Mann ausgeben, doch ein weiser Mann kann sich nicht für einen Narren ausgeben.“
Es war typisch für ihn, Dinge einfach so in den Raum zu stellen und einen daran kauen zu lassen, ohne seine eigenen Gedanken dazu preiszugeben. Laut Aussagen von Mitgliedern der Nation of Islam hätten sie Muhammad nicht angerührt, wenn er die Organisation verlassen hätte. Wäre er gegangen, so hätte dies keine Nachwirkungen gehabt, meinten sie. Hätte Muhammad allerdings damit begonnen, sie ihn Verruf zu bringen, wie es Malcolm getan hatte, dann wären die Dinge wohl anders gelagert gewesen. Es stimmt aber, dass es einige Mitglieder gab, die sich der Nation anschlossen und sie später wieder ohne böses Blut verließen, auch wenn sie nicht so berühmt wie mein Bruder waren. Persönlich denke ich, dass die Nation of Islam meinem Bruder kein Haar gekrümmt und schon gar nicht versucht hätte, ihn zu töten. Ich bin mir auch sicher, dass unsere Familie genauso darüber denkt wie ich. Abgesehen davon waren Muhammad und Herbert – trotz des finanziellen Interesses von Herbert an meinem Bruder – wie Brüder und waren auf das Wohlergehen des jeweils anderen bedacht.
KRIEG & VERDAMMUNG
Zu Beginn des Vietnamkriegs war mein Bruder weder dafür noch dagegen. So gesehen spiegelte er damit auch die Einstellung der restlichen
Bevölkerung der Vereinigten Staaten wider. Viele Menschen hatten eine vage Idee davon, dass der Kommunismus aufgehalten werden müsse, bevor er sich in diesem südostasiatischen Land festsetzen konnte, doch noch viel mehr meinten, dass Amerika nicht eingreifen sollte. Andererseits muss man auch den vorherrschenden Patriotismus berücksichtigen. Wie den meisten anderen Kindern wurde Muhammad und mir in der Schule beigebracht, dass jeder Krieg, in dem Amerika kämpfte, dazu diente, den Frieden zu erhalten und die Demokratie beziehungsweise die Freiheit auf der Welt zu verteidigen. Mein Bruder hätte keine Probleme damit gehabt, zum Militär zu gehen, hätte man ihn als Teenager eingezogen, das sagte er sogar selbst. Doch dieser Denkprozess änderte sich komplett, als er erwachsen war und selbst begann, über Dinge nachzudenken.
Das erste Mal, dass Muhammad sich weigerte, den US-Streitkräften beizutreten, war im März 1966. Das war nicht lange, nachdem er in Kanada gewesen war, wo er einen Kampf gegen George Chuvalo bestritt. Chuvalo war ein harter, aggressiver Boxer, jemand, der sich nicht scheute, selbst den einen oder anderen Schlag einzustecken, damit er einen Wirkungstreffer landen konnte, und es gab mehr als nur eine Handvoll Leute, die sehen wollten, wie er meinen Bruder auf die Bretter schickt. Chuvalo sprach darüber, dass er nicht wie Liston unter Druck aufgeben würde, und unterstrich seine Bilanz von 47 Kämpfen, in denen er nie k. o. gegangen war. Der Kampf musste in Kanada stattfinden, da mehrere amerikanische Veranstaltungsorte uns abgewiesen hatten, was meinen Bruder dazu trieb, der Welt zu sagen, dass er dafür, dass er eine gute Sache verfolge, bestraft würde. Zusätzlich zur normalen Entourage waren in Kanada noch Jim Brown, Howard Cosell und Bob Arum dabei. Einige Monate zuvor hatte Muhammad zusammen mit Jim, Bob, Herbert und John Ali die Boxpromotion-Firma Main Bout Inc. gegründet, die Muhammads Kämpfe vermarkten sollte. Also musste Jim mit an Bord kommen. Bob Arum, ein Anwalt aus einer jüdischen Familie, der eigentlich keine Ahnung vom Boxen hatte, hatte meinen Bruder bereits in einigen juristischen Dingen vertreten.
Auch wenn die meisten Sportkommentatoren Chuvalo keine Chance gaben, so war es eine exzellente Gelegenheit für Kanada, den Champ zu sehen. Fans und Medien stürmten Sully’s Gym in Toronto, um einen Blick auf den Boxchampion zu erhaschen, der gekommen war, um den Lieblingsboxer der Nation in die Schranken zu weisen. Das Boxstudio lag im ersten Stock und war recht groß. Ich erinnere mich, dass es dort einen Ring, sechs schwere Sandsäcke und einige Speedballs gab. Die Wände waren mit Postern von Boxgrößen wie Sugar Ray Robinson, Rocky Marciano und anderen Champions von anno dazumal vollgepflastert. Im Erdgeschoß befand sich eine Autowerkstatt, die mit gebrauchten Wagenteilen handelte. Das Studio gehörte dem Boxpromoter Earl „Sully“ Sullivan, der Muhammad nach Toronto eingeladen hatte, da der Kampf woanders nicht stattfinden konnte, selbst nirgendwo anders in Kanada. Ursprünglich hätte der Kampf in Montreal stattfinden sollen, doch die Veranstalter dort lehnten ab. Schließlich ließen sich die Besitzer des Maple Leaf Gardens in Toronto mit Sullys Hilfe überreden, und Muhammad bekam die Erlaubnis, in Ontario zu boxen.
Die Atmosphäre war immer voller Euphorie, wenn Muhammad das Publikum während seiner täglichen Sparringeinheiten im Ring verzauberte. Die Fans zahlten zwischen einem und fünf Dollar, um den Weltmeister im Schwergewicht beim Sparring zusehen zu dürfen, und dieses Geld kam einem wohltätigen Projekt zur Unterstützung von Kindern aus armen Familien zugute. Muhammad sparrte mit mehreren seine Trainingspartner, inklusive meiner Wenigkeit. Er hatte gerade seine Runden mit Jimmy Ellis beendet, als Angelo einen jungen Boxer namens Spider Jones aus der näheren Umgebung fragte, ob er nicht ein paar Runden mit Muhammad drehen wolle. So eine Gelegenheit konnte sich der junge Mann natürlich nicht entgehen lassen. Jones war anfangs recht nervös, denn das gesamte Studio war zum Bersten voll mit Zusehern und Journalisten aus der ganzen Welt. Es war ein besonderes Erlebnis für diesen damals 22-jährigen Boxer, einfach so ins kalte Wasser geworfen zu werden und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Inzwischen war Muhammad auch wieder fit genug, um mehrere harte Runden zu gehen, nachdem er nicht gerade in Bestform ins Training gestartet war. Als sie also ihre Sparringrunde drehten, begann Muhammad, seinen Gegner in die Seile zu stoßen, und drängte ihn dazu, auf ihn einzuprügeln. Der verdutzte Jones nahm die Einladung bereitwillig an. Muhammad duckte ab, blockte und wich dem Schlaghagel gekonnt aus, um dann mit ein oder zwei Jabs und blitzschnellen Schlägen zu kontern. Allerdings versuchte er nicht, seinen Sparringspartner mit Schlägen einzudecken oder ihn anderweitig zu sehr in Bedrängnis zu bringen.
Es war typisch für Muhammad, seine Sparringspartner recht schonend zu behandeln. Anders als George Chuvalo, Joe Frazier und Sonny Liston, die im Sparring voll aufdrehten, als wäre es ein echter Kampf, war mein Bruder immer entspannt, experimentierte, probierte Neues und ließ seinen Partnern eine Chance. Angelo pflegte zu sagen, dass er glaube, Muhammad hätte nie eine Sparringeinheit gewonnen, da er sie nicht ernst nahm – trotzdem arbeitete er aber hart. Andererseits war der Muhammad Ali, den ich im Studio beim Sparring sah, nicht der gleiche Ali, der im Ring vor Tausenden von Zusehern kämpfte. Damit meine ich, dass, wenn man ihn beim Sparring beobachtete, es so aussah, als würde er „verlieren“. Doch in dem Moment, wenn er im Ring in der Arena stand, machte er ernst. Boxen war seine Leidenschaft, doch ich kann Ihnen auch versichern, dass er keinen Spaß daran hatte, anderen wehzutun. Das war etwas seltsam, denn obwohl er diesen brutalen Sport ausübte und dabei einigen der härtesten und brutalsten Boxern in der Geschichte des Sports gegenüberstand, fand er nie daran Gefallen, anderen Leuten Schmerzen zuzufügen. Muhammad war kein Finisher wie Sugar Ray Robinson oder Sonny Liston oder später auch Mike Tyson. Er war der Typ, der dir einfach boxerisch überlegen war und dich mental besiegte. Wenn er einmal in deinem Kopf war, dann gewann er aufgrund deiner Fehler und dem unglaublichen Druck, den du spürtest.
Doch da war noch mehr. Muhammad war mehr als nur ein gewitzter Kämpfer. Er hatte auch Mut. Er war ein Krieger. Und kein echter Krieger will seinen Sparringspartner verletzen, den Mann, der ihm beim Training für die echten Kämpfe hilft. Ich bin mir sicher, dass Spider Jones, als er in den Ring stieg, erwartete, vor den fast 700 Leuten im Studio gedemütigt zu werden. Mein Bruder war ja immerhin eine Sensation in Toronto. Er war gekommen, um gegen ihren Champion zu kämpfen. Auch wenn er keiner von ihnen war, so hießen ihn die Kanadier herzlich willkommen, als wäre er einer der ihren. Das Studio war vollgepackt mit Leuten, also würde man denken, dass Muhammad ein bisschen angeben würde und diesem Boxer, der sein Bestes versuchte, auf ihn einzuschlagen, einige richtige hammerharte