Captain Samuel war der Vorsteher einer Moschee in Miami – ein Ort, den mein Bruder regelmäßig aufsuchte, als er dorthin zog. Es war das erste Mal, dass er den Lehren der Nation of Islam aufmerksam zuhörte, und Miami war der Ort, an dem er langsam erkannte, dass es genau das war, was er in seinem Leben immer gesucht hatte. Zuerst war es sicherlich mehr religiös als politisch motiviert, doch das änderte sich mit der Zeit. Mein Bruder und ich entschieden uns, dieser kontroversen Organisation beizutreten, da Muhammad Teil von etwas sein wollte, Teil einer Bewegung, nicht wegen einer tieferliegenden spirituellen Suche.
Egal was unsere Gründe dafür waren, bei unseren Eltern zu Hause begannen die Alarmglocken zu schrillen, als Muhammad und ich die Lehren der Nation of Islam annahmen. Vater und Mutter waren irritiert, um es milde auszudrücken. Sie waren der Meinung, dass ihre Kinder gute Christen sein sollten, und sie wussten so gut wie nichts über diese neue Religion. Deswegen war es verständlich, dass sie recht aufgebracht darüber waren. Als er älter wurde, hatte Muhammad diese innere Stimme, die ihm sagte, dass da noch etwas Besseres als der Rassismus, den er als junger Boxer erfahren hatte, sein musste – eine Art Licht am Ende des Tunnels. Und obwohl unsere Eltern uns gelehrt hatten, dass Gott für uns sorgen würde, schien der Glaube, mit dem wir aufgewachsen waren, nicht die Lösung zu sein – zumindest nicht für meinen Bruder und mich. Mein Bruder, der schon immer sehr wissbegierig war, verbrachte sein halbes Leben damit, sich die Frage zu stellen, warum Menschen mit dunkler Hautfarbe sich mit diesen Umständen zufriedengeben sollten und warum alles Schwarze mit etwas Negativem assoziiert wurde. Auch im Christentum schien es so zu sein: Alles Gute in der Bibel wurde weiß gemacht – sogar Jesus und Gott wurden als Weiße dargestellt, ungeachtet ihrer Herkunft. Man zeigte uns das Bild des Erlösers als gütigen weißen Mann, und in der Hierarchie des Himmels schien es nirgends einen Platz für andere Hautfarben zu geben. Das war uns zu wenig. Mein Bruder und ich wollten keine mittelmäßigen „Neger“ sein, die sich der Gnade der Christen unterwerfen mussten. Christen, die schon öfters gezeigt hatten, dass sie Farbige als Bürger zweiter Klasse betrachteten. Muhammad konnte und wollte das nicht akzeptieren.
Natürlich waren unsere Eltern nicht die Einzigen, die sich wegen unseres neuen Umfelds Sorgen machten. Die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten hatten kein gutes Bild von der Nation of Islam und standen allen, die mit dieser Organisation sympathisierten, sehr skeptisch gegenüber. Selbst unter Farbigen gab es viele, die sich von dieser Bewegung distanzierten. Anfangs merkte keiner, dass wir immer mehr dazu tendierten, Muslime zu werden, denn Muhammad und ich hatten beschlossen, unsere Absicht fürs Erste einmal für uns zu behalten – es war also unser dunkles Geheimnis. Wir waren uns einig, dass wir unseren Übertritt zum muslimischen Glauben dann bekannt geben würden, wenn die Zeit richtig dafür war. Doch vorerst mussten wir aufgrund der Neugier der größtenteils weißen Presse vorsichtig damit umgehen, und auch wegen einiger Leute in unserem engeren Umfeld, die etwas durchsickern hätten lassen können. Wir wussten, dass, wenn wir uns gleich zu erkennen geben würden, die Boxverbände, die öffentliche Meinung und sogar die US-Regierung Muhammad auf seinem Weg zur Boxweltmeisterschaft Probleme bereitet hätten. Muhammad, so entschieden wir, sollte seine Zugehörigkeit so lange geheim halten, bis er den so begehrten Schwergewichtstitel in seinen Händen hielt. Er musste, wie er es selbst ausdrückte, so klug wie eine Schlange, aber arglos wie eine Taube sein.
Je länger dieses Versteckspiel dauerte, umso mehr wurde einigen Personen in unserem engsten Umfeld die Verbindung Muhammads zu den Black Muslims, wie die Organisation auch genannt wurde, bewusst. Als er dann eine Bilanz von 19 Siegen und keine Niederlage sowie 15 Knockouts aufwies, bekam Muhammad die Chance, den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Sonny Liston zu fordern – ein Kampf, den er, wie er selbst wusste, viel ernster nehmen musste als alle seine bisherigen Begegnungen. Drei Monate vor dem Kampf gegen Liston verbrachten Muhammad und ich Weihnachten in Angelos Haus, während die Familie im Garten hinter dem Haus feierte. Damals war Integration eher unbekannt, und mein Bruder war auch noch nicht berühmt. Wenn er also die Dundees besuchte, öffneten sie die Tür und lachten darüber mit den Nachbarn, die es seltsam fanden, dass da nebenan ein junger schwarzer Mann zu Besuch kam. Später, als Muhammad immer stärker im Rampenlicht der Medien stand, kamen auch die Nachbarn gerne hinüber, um ihn zu sehen, wenn er bei der Familie Dundee vorbeikam. Damals aber trauten sie ihren Augen nicht, wenn zwei junge Farbige in einer Gegend, in der nur Weiße lebten, an die Tür klopften.
Wie auch immer, an diesem besagten Tag gesellten sich Muhammad und ich zu den Dundees, als sie gerade ihre Geschenke auspackten. Da Muhammad unsere Familie in Louisville vermisste, war Angelos Familie eine Art Ersatz für ihn, und er genoss es vor allem, mit Angelos jüngstem Sohn Jimmy zu spielen, mit dem er über die Jahre ziemlich viel Zeit verbracht hatte. Muhammad war recht still, als wir mit den Dundees am Tisch saßen und aßen, und sog die Familienatmosphäre in sich auf, doch als Jimmy dann mit zwei Walkie-Talkies, die er als Geschenk erhalten hatte, zu spielen begann, kam Muhammads spielerische, energiegeladene Seite zum Vorschein. Der kleine Jimmy rannte in der Wohnung herum und schrie in sein Walkie-Talkie: „Cassius! Cassius! Wo bist du?“
Und Muhammad antwortete: „Es gibt hier keinen Cassius, nur einen Muhammad Ali.“
Das verdutzte Kind rief: „Ich kenne keinen Muhammad Ali!“
Nun, Angelo wusste über die Verbindungen Muhammads mit der Nation of Islam Bescheid, auch wenn er sich sonst kaum mit den politischen Ansichten meines Bruders beschäftigte. Angelo – einer der wenigen, dem Muhammad vertrauen konnte – war darum bemüht, die ganze Sache geheim zu halten, da er befürchtete, dass die Boxing Commission den Kampf absagen würde, wenn sie davon Wind bekäme, dass sein Boxer einer von vielen geschmähten religiösen Gruppierung beigetreten war. Damit wäre der Traum vom Schwergewichtsweltmeister gefährdet gewesen, und Angelo wollte unbedingt, dass Muhammad zum Weltmeister im Schwergewicht gekrönt würde – das war das ultimative Ziel.
Etwas anderes, das weitgehend unbekannt ist, ist die Tatsache, dass mein Bruder erst Cassius X war – das war der Name, den er von Elijah Muhammad zuerst bekommen hatte. Danach gab er ihm den Namen Muhammad Ali, gerade noch rechtzeitig, um ihn direkt nach dem Sieg gegen Liston zu verkünden. Muhammad, so wurde uns gesagt, bedeutet so viel wie „der Gelobte“ oder „der Lobenswerte“ und Ali „der Hohe“, „der Erhabene“. Muhammad hatte seinen Namen über das Telefon erfahren, erst dann besuchte er Elijah Muhammad in dessen Haus und ging zu ihm in den oberen Stock. Der große geistige Anführer sagte zu Muhammad: „Ich habe die Bedeutung dafür.“
Dann kam er herunter und offenbarte uns die Bedeutung. Gleichzeitig erhielt auch ich meinen Namen, Rahaman Ali – was so viel wie „der Gnädige“ bedeutet.
Als wir der Nation of Islam beitraten, übernahmen wir auch die Lehren des Anführers, des ehrwürdigen Elijah Muhammad, der in weiterer Folge einen so starken Einfluss auf meinen Bruder haben sollte. Diese Lehren, denen Muhammad gleich zu Anfang ausgesetzt war, schienen genau richtig für ihn zu sein, passender als alles andere, was er davor gelernt hatte. Muhammad beschloss, seine Gefühle in etwas Tieferes zu kanalisieren, etwas, das er als eine starke Macht in seinem Leben wähnte, denn von da an sah er die Nation of Islam nicht mehr nur als religiöse Organisation, er begann nun auch damit, ihre tieferen Lehren anzunehmen.
Die Mitgliedschaft bei der NOI hatte auch andere Auswirkungen auf das Leben meines Bruders. Als Muhammad Mitglied wurde, verbrachte er viel Zeit mit Elijah Muhammad, geriet aber auch in den Bann eines der neun Kinder des Anführers. Jabir Herbert Muhammad war ein ergebener Muslim, aber auch ein Geschäftsmann, der ein Fotoatelier in der 79th Straße in Chicago sowie die offizielle Zeitung der Nation of Islam, Muhammad Speaks, betrieb. Erst nach dem Kampf gegen Liston traf mein Bruder auf Herbert und freundete sich mit ihm an. Muhammad fragte seinen spirituellen Führer, ob sein Sohn mit ihm zusammenarbeiten und ihm beim Management seiner Boxkarriere helfen könnte. Herberts Vater war sofort damit einverstanden und markierte damit den Beginn einer langen Beziehung, von der Herbert genauso profitierte, wie es die Nation of Islam tat. Zu dieser Zeit wurde Muhammad noch von der Louisville Group gemanagt und hatte einen Zehnjahresvertrag, weshalb Herbert bis 1966 warten