Es war zum Teil dieses politische Klima, das – selbst als wir bereits Teenager waren – dafür verantwortlich war, dass Muhammad und ich uns allein nie weit weg vom West End begaben. Wir waren von unseren Eltern und anderen Leuten aus unserer Community gewarnt worden und wussten, was uns unter Umständen in einer Stadt zustoßen konnte, die so weitgehend „aufgeklärt“ war wie Louisville. Die einzigen Schwierigkeiten, in die wir gerieten, waren weiter weg vom West End – wenn wir uns in den falschen Teil der Stadt, dorthin, wo nur Weiße lebten, wagten. Trotzdem, die Tatsache, dass wir so eingeschränkt waren, war ein Stachel, der sehr tief saß. Es kam nicht selten vor, dass einige weiße Jungs in ihren Autos vorbeifuhren und rassistische Beleidigungen brüllten. „Hey, Nigger, was machst du hier?“, riefen sie uns zu und versuchten, uns damit zu provozieren und in eine Situation zu bringen, die schnell gefährlich werden konnte. Natürlich machte es uns was aus, doch mein Bruder und ich taten unser Bestes, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Schließlich waren wir uns der brutalen Schlägerattacken und Lynchmorde, die in Gegenden wie Mississippi noch immer stattfanden, bewusst. Der tiefe Süden war zwar eine andere Welt, doch es war eine Welt, die uns unsere Eltern immer wieder in Erinnerung riefen, indem sie uns Bilder des entstellten Gesichts von Emmet Till zeigten, dessen Mörder freigesprochen wurden, und uns damit vor Augen hielten, wie es uns ergehen könnte, wenn wir aus Hass und Wut zurückschlagen würden.
Trotz all dieser Spannungen und auch wenn er seiner eigenen Frustration immer wieder einmal Luft verschaffen musste, hat Muhammad nie jemanden schikaniert. Das kann ich bezeugen. Ja, er war schon auch ein Großmaul, und er hatte definitiv die körperlichen Voraussetzungen und das Können, seinen Worte Nachdruck zu verleihen, aber meines Wissens nach gab es niemanden in unserer Schule oder Gegend, der jemals behauptet hätte, dass mein Bruder ein gemeiner Kerl gewesen wäre. Ich habe niemals gesehen, dass er jemandem etwas getan hätte, der es nicht selbst herausforderte. Wir waren so eng miteinander, dass man sein letztes Geld darauf verwetten hätte können, dass ich mit von der Partie war, egal wohin er ging. Unsere Eltern waren ziemlich deutlich, als sie meinten, dass wir immer aufeinander achtgeben müssten, wenn sie nicht dabei waren, egal wohin wir gingen. Muhammad war stolz darauf, dass ich sein kleiner Bruder war. Er war mein Beschützer, und alle Kinder, die uns kannten, wussten genau, wie nahe wir uns standen. Sie wussten, dass sie sich nicht einfach mit einem Bruder anlegen konnten. Nein, da musstest du dich schon mit beiden anlegen. Wenn es jemand auf Muhammad abgesehen hatte oder versuchte, sich mit ihm anzulegen, war ich sofort zur Stelle und verteidigte ihn wie ein Tiger, auch wenn ich wusste, dass ich den Kampf verlieren würde. Man konnte nicht gegen meinen Bruder kämpfen, ohne dass ich mich einmischen würde, und Muhammad ging dazwischen, wenn jemand versuchte, mir etwas zu tun. Natürlich wurden wir so in einige Raufereien verwickelt, und als Muhammad dann zwölf war, erkannten wir beide, dass wir anscheinend ein Talent fürs Kämpfen hatten.
DER BEGINN EINES TRAUMS
Es war im späten Oktober 1954, als das Fahrrad meines Bruders gestohlen wurde.
Das Rad, ein weiß-rotes Schwinn,
war ein Weihnachtsgeschenk gewesen und sollte eigentlich für uns beide sein, doch mein Bruder fuhr weit öfter damit als ich. Damals fuhren Kinder überall mit ihren Rädern hin – zum Laden ans Eck, aber auch zusammen mit Freunden durch die Stadt auf der Suche nach Abenteuern aller Art. An jenem Tag hatten wir erfahren, dass eine Heimmesse in der 4th Street im Zentrum von Louisville stattfand, und Muhammad und ich sowie ein weiterer Freund machten uns auf den Weg dorthin, um uns das Treiben anzusehen. Wir stellten unsere Fahrräder an einem Geländer neben dem Ausstellungsgebäude ab, wo wir dachten, dass sie sicher wären, und gingen dann hinein, um einen vergnüglichen Nachmittag zu verbringen. Und wir hatten auch unseren Spaß. Es gab Stände mit Haushaltswaren und Kleidung, aber auch Kioske, die Essen und Snacks anboten, sowie schicke Autos. Zur Unterhaltung der Besucher, die mit ihren Familien gekommen waren, gab es dazu auch Livemusik.
Nach etwa drei Stunden beschlossen wir, wieder zu gehen und heimzufahren. Wie schon erwähnt, war es bei uns zu Hause eine der wichtigsten Regeln, rechtzeitig wieder daheim zu sein. Wir gingen also zurück zu unseren Fahrrädern, doch als wir dort ankamen, waren sie verschwunden – gestohlen. Geschockt und aufgebracht begann mein Bruder zu weinen. Einerseits war es ein Weihnachtsgeschenk unserer Eltern, doch vielmehr hatte Muhammad Angst davor, dass uns unser Vater eine ordentliche Tracht Prügel erteilen würde, wenn er von unserer Nachlässigkeit erfuhr. Als dann auch andere Leute aus dem Gebäude kamen, schluckten wir unsere Tränen hinunter und fragten, wo wir einen Polizisten finden könnten. Ein Mann zeigte auf ein Gebäude nebenan, und so machten wir uns auf den Weg, um den Diebstahl zu melden.
Noch immer mit Tränen in den Augen betraten wir einen großen Kellerraum, und das Erste, was wir hörten, waren dumpfe Schläge und Ächzen sowie das Geräusch von Sprungseilen, die auf den Boden klatschten, und von Fäusten in Boxhandschuhen, die auf schwere Sandsäcke einschlugen. In dem Raum befand sich etwa ein halbes Dutzend Männer und ältere Burschen, die verschiedene Boxübungen machten. Das war keine Polizeistation, sondern ein Fitnessstudio, doch auf der anderen Seite des Raums stand ein Mann mittleren Alters in einer Polizeiuniform.
Sein Name war Joe Martin. Er war gerade dabei, einigen Burschen die Feinheiten einer guten Boxstellung zu erklären, als wir zu ihm hinübergingen. Muhammad hatte sich nun gesammelt und sprach ihn an: „Entschuldigung, mein Herr, wir waren gerade oben bei der Ausstellung, und als wir wieder rauskamen und zu unseren Fahrrädern gingen, waren sie nicht mehr da. Jemand hat sie gestohlen. Können Sie uns vielleicht helfen, sie wiederzubekommen?“
Martin, der wie ein Gentleman aussah, nahm die Beschreibung der gestohlenen Räder auf und sagte uns, er würde eine Anzeige schreiben. Allerdings ließ er uns nicht gehen, ohne für sich selbst Werbung zu machen: „Übrigens“, sagte er nebenbei, als der offizielle Teil erledigt war, „warum kommt ihr beiden Jungs nicht morgen noch einmal vorbei, sagen wir gegen sechs Uhr abends, dann könnt ihr boxen lernen.“
Plötzlich hatte Muhammad, der noch immer ganz verweint aussah, dieses herausfordernde Funkeln in den Augen und erklärte diesem imposanten Polizisten, dass er dem Dieb eine ordentliche Abreibung verpassen würde, wenn er ihn zu fassen bekäme. Martin, der, wie wir mit der Zeit lernen sollten, ein sehr geduldiger Mann war, hörte sich den Schwall an Drohungen an, bevor er meinem Bruder vorschlug, er solle zuerst lieber kämpfen lernen, vor allem boxen, bevor er überhaupt über so etwas nachdenken könnte. Wir wussten nur wenig über das Boxen und hatten uns nie ernsthaft überlegt, diesen Sport zu betreiben, doch wie sich herausstellen sollte, war Muhammad so verzaubert von dem, was er da sah, von dem Geruch und der Atmosphäre in der Boxhalle, dass er darüber beinahe sein Fahrrad vergaß. Martin hatte die Anzeige aufgenommen und wiederholte noch einmal die Öffnungszeiten des Boxstudios und gab Muhammad ein Mitgliedsformular mit nach Hause. Noch immer um den Verlust seines Fahrrads besorgt, aber ganz aufgeregt, diesen Sport einmal auszuprobieren, nahm mein Bruder das Stück Papier freudig entgegen.
Um es gleich vorwegzunehmen – das Fahrrad tauchte nicht mehr auf. Was allerdings etwas überraschend war, dass unsere Eltern Verständnis zeigten, als wir ihnen von dem Diebstahl erzählten, und unser Vater unsere Nachlässigkeit ignorierte. Das Interesse meines Bruders am Boxen bestand allerdings weiter, und so wurde er Mitglied in Joe Martins Boxstudio, und ich folgte ihm, so wie immer.
Was die meisten Leute nicht wissen, ist, dass auch einer unserer jüngeren Cousins ein Boxer war. Er boxte bereits lange, bevor wir damit begannen. Noch vor Martins Angebot hatte er bereitwillig angeboten, Muhammad das Boxen beizubringen, denn er wusste um das Talent meines Bruders, in Schwierigkeiten zu geraten, und wollte, dass er sich verteidigen könnte, wenn es zu Auseinandersetzungen mit anderen Kindern käme. Es war auch unser Cousin, der uns anfangs ins Boxstudio begleitete und dafür sorgte, dass wir unser Interesse am Boxen nicht