Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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das Kind vollständig zu heilen. Rins Kraft war so stark in seinen Händen gewesen, so wunderbar und vollkommen, und er hatte in diesem Moment geglaubt, dass es möglich war, alles und jeden zu heilen: Krankheiten, gebrochene Knochen, Herzen und Seelen. Er musste sie in das salzige Wasser tauchen und sie wären geheilt ... Er verstand nicht, warum die Verletzte ohne ihr Gedächtnis ins wache Leben zurückgekehrt war.

      Aber er zögerte immer noch. Die Reise zurück zu seinem Volk war sehr lang, durch mehrere Königreiche hindurch, eine beschwerliche Reise voller Gefahren. Und zurück wollte er auf jeden Fall. Es war so lange her, dass er Variti das letzte Mal gesehen hatte, und er stellte sich vor, wie er sie begrüßte, wie er ihr Möwe vorstellte und ihre Augen zu leuchten begannen ... Das gab den Ausschlag. Er wusste, dass Variti sich über ein Pflegekind freuen würde, mehr als über jedes andere Geschenk, das er ihr hätte mitbringen können. Wenn es ihm gelang, das Mädchen heil zu seinen Leuten zu bringen, würde seine Frau vor Glück strahlen und vergessen, wie lange und schwer sie ihn vermisst hatte.

      »Ich werde mit Möwe reden«, versprach er. »Wo finde ich sie? Natürlich.«

      Es gab nur einen Ort, an dem man Möwe suchen musste. Wie immer saß sie am Strand und ließ den Sand durch ihre Finger rieseln, sie häufte Muscheln zusammen und betrachtete sie und richtete dann doch wieder ihren Blick hinaus aufs Meer, aus dem sie gekommen war.

      »Möwe?«

      Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Jedes Mal war es eine Überraschung, dieses ungewöhnliche Gesicht zu sehen. Möwe sah auf eine faszinierende Art gut aus. Wenn man sich daran gewöhnt hatte, wie weiß sie war, wenn man gelernt hatte, ihr in die blassblauen Augen zu schauen, war sie geradezu hübsch. Sie war schlank, aber nicht mager, zart, aber nicht zerbrechlich. Ihr weißes Haar fiel ihr glatt und seidig über den Rücken.

      Sie hatte ein Schiff in den nassen Sand geritzt, ein Segelschiff, und darüber einen fliegenden Vogel.

      »Was zeichnest du da? Bist du mit diesem Schiff unterwegs gewesen?«

      »Nein«, sagte Möwe, und einen Augenblick dachte Remanaine, sie könnte sich wieder erinnern. Gleich würde sie anfangen zu erzählen. Von der Sturmnacht und ihrem Leben davor ... War er enttäuscht? Auch dies war eine Überraschung, nachdem er sich zunächst so gegen den Gedanken an eine Begleiterin gesträubt hatte. Er würde Variti nur von diesem Mädchen erzählen können, ohne es mit dabei zu haben, und seine Hoffnung zerfiel zu Staub, seiner Liebsten ein Kind mitzubringen.

      »Nein, das heißt, ich weiß nicht. Ich habe davon geträumt, von einem Schiff mit weißen Segeln. Aber in meinem Traum war ich nicht an Bord. Ich stand nur da und sah zu, wie es immer kleiner wurde.« Möwe blickte zu Remanaine hoch. »Ist es jetzt Zeit? Wirst du gehen?«

      »Und du?«, fragte er zurück. »Willst du hier warten, bis irgendjemand kommt, der dich sucht?«

      »Nein«, sagte das Mädchen sofort. Ihre Entschlossenheit war ein noch unbekannter Zug an ihr. »Ich kann nicht warten.« Sie stand auf und blickte Remanaine an. »Hier drinnen weiß ich es. Ich kann nicht warten. Mir ist, als hätte ich schon zu lange gewartet. Worauf? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht hierbleiben kann, hier bei den Fischern ... Abgesehen davon, dass sie mich nicht besonders mögen. Ich darf nicht. Ich kenne nicht einmal meinen Namen, aber ich bin schon viel zu lange bei den Fischern geblieben, während das Schiff dort draußen unterwegs ist.«

      »Führt dich dein Weg dorthin?«, fragte Remanaine sanft. »Zurück übers Meer?« Er bezwang sich, noch nicht die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge lag. Er wollte dieses Mädchen nicht drängen, nicht einmal beeinflussen. So sehr er Variti auch liebte, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, ein Kind zu stehlen.

      »So nennen sie mich, nicht? Möwe.« Sie strich sich die weißen Haare aus der Stirn. »Meinst du, ich könnte das tun? Auf irgendein Schiff steigen und lossegeln, auf den Horizont zu?«

      »Sicher könntest du das. Ich habe nicht viel Geld, aber ich könnte dich mit zum nächsten Hafen nehmen und dir helfen, ein Schiff zu finden, dessen Kapitän bereit wäre, dich mitzunehmen.«

      Möwe blickte wieder aufs Meer hinaus und dachte darüber nach. »Das klingt gut«, sagte sie zögernd.

      »Dann wollen wir es so machen?«

      »Aber dann finde ich ihn doch nie.«

      »Wen?«

      »Blitz.«

      Remanaine wartete eine Weile und fragte dann vorsichtig: »Wer ist Blitz? Vielleicht ein Pferd?«

      Möwe schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer Blitz ist. Nur sein Name ist da, wenn ich erwache ... Aber wenn ich ihn finden will, dann muss ich doch in die Wälder hinein, in die tiefen Wälder. Dorthin, wo die Flüsse sind und auf die Märkte und in die großen Städte und bis hoch nach Kirifas ... Oder nicht?«

      »Dann komm mit mir«, sagte er, »und du wirst all das sehen: die Wälder und die Flüsse und die Märkte und die großen Städte. Aber ob du deinen Blitz finden wirst, das kann ich dir nicht versprechen.«

      Das Mädchen nickte. »Dann lass uns gehen. Ich habe lange genug gewartet.«

       In ihrem Traum stand sie am Ufer und rief. Komm zurück, Lexan! Komm zurück, nimm mich mit!

      Blitz stand hinter ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Komm unter die Bäume, Mino. Wir haben das Schiff verpasst. Komm mit mir unter die Bäume.

      Lexan ist fort, sagte sie. Sie sind alle fort. Sie hätten mich mitnehmen sollen, es war auch meine Reise.

      Nein, sagte Blitz, unsere Reise geht unter die Bäume, in den Schatten und über das Gras. Komm, Mino.

      Sie drehte sich nicht um, aber sie hörte das Rauschen des Windes in den Blättern. Der Wald musste dicht hinter ihr sein, eine riesige grüne Wand, ein Dickicht, voller Wurzeln und Dornen und Gestrüpp. Vögel lachten hoch oben in den Wipfeln.

      Nein, sagte sie, nein, Blitz, nein ...

      Es war unser Traum, weißt du nicht mehr, Mino? Unser gemeinsamer Traum.

      Mino hielt ihn fest. Nein, Blitz, nein ...

      Aber Blitz begann, rückwärts in den Wald hineinzugehen, und schlug Minos Hand weg.

      Dies ist unser Traum, Mino.

      Er war gezwungen, seine großen, raumgreifenden Schritte ihren kleinen Füßen anzupassen. Wenn er nach unten sah, war da ihr schimmerndes weißes Haar. Wie ein kleines Kind lief sie neben ihm her.

      »Hast du keine Angst?«, fragte er.

      »Wovor?«, fragte sie zurück. Sie blickte nach oben, zu ihm, sie lächelte. Das war etwas an ihr, das er nicht verstand, dieses ständige Lächeln.

      »Vor mir zum Beispiel. Immerhin bin ich ein Riese. Und ein Fremder.«

      »Alle sind Fremde«, sagte sie leise, so dass er es kaum verstand. »Warum sollte ich dich fürchten? Wenn ich je schlechte Erfahrungen mit Riesen gemacht haben sollte, habe ich es jedenfalls vergessen.«

      Sie schliefen nicht immer unter freiem Himmel. Oft fanden sie Aufnahme in gastfreien Häusern, teils wegen des Mädchens, das von vielen bestaunt wurde wie ein seltenes Tier, teils wegen des Heilkundigen. Kranke gab es überall. Remanaine hielt seinen Zögling zu kleinen Handreichungen an, ließ Möwe bei seiner Arbeit zuschauen und erklärte ihr alles. Obwohl das Mädchen kein kleines Kind mehr war, behandelten viele sie so, steckten ihr Süßigkeiten oder Obst zu, und sie streichelten ihr über ihr weißes Haar, was Remanaine manchmal dazu veranlasste, ein warnendes Grollen auszustoßen, wie ein Hund, der seinen Besitz hütet. Möwe hielt den Apfel oder die Birne, die sie ihr gegeben hatten, achtsam in ihrer Hand und fuhr mit dem Finger über die glatte Schale. Sie betrachtete jede Frucht, als wäre sie ein Schatz, als hätte jemand sie in den Gärten Rinlands gepflückt, nur um sie jetzt in ihre Hand zu legen.

      »Aus welchem Königreich kommst du?«, fragten sie, als müsste es irgendwo ein Land geben, in dem alle so weiß waren wie dieses