Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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zu hart geratener Hieb oder Tritt, den er nicht beabsichtigt hatte. Er hatte sich nicht immer vollständig in der Gewalt, wie es seinem Vater Kanuna scheinbar mühelos gelang, und er kannte das süße Gefühl, alles vernichten zu können, was sich ihm in den Weg stellte, und sich dabei unbesiegbar zu fühlen.

      »Du beleidigst die Wachen des Königs«, traute sich einer zu sagen und duckte sich hinter seinen Kameraden.

      »Nein, ich warne sie nur. Führt mich jetzt zu Napenlah, aber wie einen Gast und nicht wie einen Gefangenen, oder ich kehre auf der Stelle um.«

      Sie wagten es nicht, sich mit ihm anzulegen. Die meisten wichen noch weiter zurück, während ihn einige besonders Mutige aus einer Entfernung, die ihnen einigermaßen sicher schien, bis zum Empfangszimmer des Königs begleiteten. Hinter ihm schlossen sich die Türen.

      Der König war ein grauhaariger Mann um die siebzig mit einem unauffälligen Gesicht.

      »Ha, bringt ihr ihn endlich!«, rief er aus.

      »Er ist selber gekommen, Hoheit«, sagte eine der Wachen, »als Gast, wie er behauptet.«

      »Du erklärst dich also bereit, mir zu dienen?«, fragte Napenlah zufrieden. »Du fügst dich endlich? Sehr gut.«

      »Nein«, entgegnete Remanaine. »Davon kann nicht die Rede sein. Ich bin gekommen, um mit Euch zu reden, ehe es zu noch mehr Blutvergießen kommt. Ich will mit Euch sprechen, aber allein.«

      »Das wäre unvorsichtig von mir«, wandte der König ein und lächelte schlau.

      »Habt Ihr etwa Angst vor mir? Obwohl Ihr so großes Vertrauen in mich setzt, dass Ihr mich zu Eurem Arzt machen wollt? Was wäre das für ein Heiler, den Dolch im Nacken!«

      Napenlah sagte nichts; vielleicht hatte er selbst noch nicht darüber nachgedacht, wie er mit einem Bediensteten umgehen würde, dem er nicht traute und zugleich trauen musste.

      »Ich schwöre Euch, dass ich meine Hand nicht an Euren königlichen Leib legen werde.«

      »Schwöre lieber nicht«, riet Napenlah, »denn als Arzt wirst du es doch tun.« Er nickte den Wachen zu. »Ich fürchte mich nicht vor ihm. Wartet draußen vor der Tür.«

      »Ich sehe, Ihr habt doch Angst«, murmelte Remanaine und lächelte überlegen. »Hofft Ihr, mich zähmen zu können?«

      Als sie allein waren, gestattete ihm der König, sich zu setzen. Er hatte gewusst, dass der berühmte Arzt ein Riese war, aber trotzdem war er darüber erschrocken, wie groß dieser Mann tatsächlich war. Er überragte nicht nur um ein paar Handbreit die größten seiner Soldaten, sondern war zugleich von so kräftiger Gestalt, dass sich Napenlah erstmals vorstellen konnte, warum seine Leute solche Schwierigkeiten damit gehabt hatten, diesen Mann einzufangen. Er malte sich aus, dass es nicht einmal möglich sein würde, ihn in eine Zelle zu sperren. Wenn er ihn gewinnen wollte, musste er anders vorgehen.

      »Ich bin sicher, dass wir uns einigen werden, denn du wirst nirgends ein besseres Angebot erhalten. Ich habe von deiner großen Kunst gehört, von unglaublichen Genesungen, und wünsche daher, dich hier an meinem Hof zu haben. Es wird dir an nichts fehlen. Wenn du wirklich so großartig bist wie dein Ruf, mache ich dich zu einem der reichsten Männer dieses Königreichs. Du siehst also, dass du dich nicht zu sträuben brauchst. Ich bin bereit, deine Dienste so hoch zu belohnen, wie du es dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hast.«

      Gespannt wartete er auf die Antwort des Arztes. Wanderärzte waren immer arm und brauchten Geld. Mochte er noch so stark sein, dieser Mann bildete keine Ausnahme, das war schon an seiner Kleidung zu sehen.

      Remanaine lachte leise. »Ich habe mit Reichtum nichts im Sinn. Ich habe schon ein Angebot ausgeschlagen, das ungleich höher war als Eures. Ihr solltet wissen, dass nicht alles für Gold zu haben ist und dass Ihr auch als König nicht über jeden Menschen frei verfügen könnt.«

      »Du hast dich freiwillig in meine Gewalt begeben«, sagte Napenlah. »Glaubst du wirklich, dass ich dich jetzt wieder gehen lassen werde?«

      »Ich kann Euch die Gründe nennen, warum ich dieses Schloss wieder verlassen werde.«

      »Lass hören.«

      »Ihr werdet mich gehen lassen, weil Ihr kein Recht dazu habt, mich hierzubehalten. Ich bin ein freier Mann, weder Bauer noch Leibeigener. Es wäre meiner Familie gegenüber unrecht. Und denen, die ich hätte heilen können und die nun ohne meine Hilfe sterben müssen.«

      »Hier könntest du genug Menschen heilen, die es dir zudem besser lohnen werden. Und deine Familie – sind Wanderärzte nicht meistens unverheiratet?«

      »Ich nicht. Ich habe eine Frau.«

      »Die könnte ich herkommen lassen«, meinte Napenlah. »Das ist doch kein Hindernis. Und was soll das heißen, ich habe kein Recht, dich festzuhalten? Hast du vielleicht bemerkt, dass ich der König bin?«

      »Der König von Nomanos, ja. Aber ich bin kein Einwohner Eures Königreichs und Ihr habt daher keine Befugnisse über mich.«

      »Mit einem Herrscher so zu reden!« Aber Napenlah unterdrückte seinen Ärger. Sein Besucher faszinierte ihn, je länger er ihn reden hörte. »Außerdem – bist du nicht, wie ich hörte, ein Ziehender? Man sagte mir, du gehörst zum Ziehenden Volk, so ungewöhnlich das auch für einen Riesen sein mag. Aber für die Zintas gilt, dass sie dem unterstehen, in dessen Reich sie sich befinden. Du bist in Nomanos – also gehörst du mir.«

      Remanaine schüttelte den Kopf. »Ich gehöre wohl zum Ziehenden Volk, doch wie man sieht, nicht dem Blut und der Herkunft nach. Geboren bin ich in Aifa. Ihr seid dem Kaiser unterstellt und müsst die Gesetze des Kaiserreichs achten. Über einen Menschen aus Aifa habt Ihr keine Befugnisse.«

      Napenlahs Gesicht war finster geworden. »Kannst du das beweisen? Bei welchem Fürsten kann ich nachfragen?«

      »Bei Kanuna El Schattik, König von Aifa und Kaiser von Deret-Aif.«

      »Er wird mir sein Recht abtreten. Ich werde ihn fragen.«

      »Wenn er das tut«, sagte Remanaine lächelnd, »komme ich ohne Widerrede zu Euch und diene Euch bis an mein Lebensende. Aber der Kaiser würde nie einen seiner Untertanen verkaufen. Ist es Euch nun klar, dass Ihr kein Recht habt, mich hier zu halten? Dass ich auch in Nomanos die Freiheit habe, meine eigenen Wege einzuschlagen?«

      »Wenn ich niemanden erfahren lasse, woher du kommst ...«

      »Aber nein, König Napenlah, das würdet selbst Ihr nicht tun. Den Kaiser hintergehen? Kanuna El Schattik den Treueeid brechen?«

      »Deine Herkunft schützt dich«, gab Napenlah zähneknirschend zu, »aber gibt es denn nichts, was ich dir bieten könnte, damit du freiwillig bleibst?«

      »Nein.«

      »Oh Kanuna«, seufzte der König auf, »das ist das erste Mal, dass mein Schwur mich in Konflikte bringt. Ich muss dieses Mannes versichert sein! Ich muss unbedingt! Und nur, weil er nicht so vaterlandslos ist, wie ich dachte ... Du verlässt dich sehr auf meine Treue, Remanaine.«

      »Keiner, der bei Verstand ist, hintergeht Kanuna.«

      »Darauf stützt du dich und du hast recht. Ich kann ihn nicht betrügen. Aber was hättest du getan, wenn ich mich weniger daran gebunden fühlte? Bist du unbesiegbar?«

      »Mit zweien wurde ich fertig und mit fünfzehn und vor den zweihundert würde ich nicht fliehen. Lebend wird mich niemand gefangen nehmen.«

      »Und dafür könntest du töten, du, der Heiler?«

      »Um das zu vermeiden, kam ich her. Ich will nicht töten – aber vertraut nicht auf meine Sanftmut.« Während er das sagte, fühlte er fast einen Stich des Bedauerns. Hier saßen sie und redeten. In der gleichen Zeit hätte er das Schloss auseinandernehmen können – weitaus befriedigender für einen Mann wie ihn.

      »Ein Mensch wie du ist mir noch nie begegnet«, sagte der König kopfschüttelnd. »Sag, wer bist du?«

      »Mit Sicherheit kein Mensch. Und