Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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Das weiß ich genauso gut wie du. Aber ich werde diese Frau heiraten. Gleich jetzt.« Er beugte sich vor, so dass er auf derselben Augenhöhe mit Rahmon war, wie man sich zu einem Kind herabbeugt, dem man seine Aufmerksamkeit schenkt. »Was ist los, Rahmon? Hast du wieder etwas gehört – von meinen Söhnen?«

      »Einer von ihnen wurde definitiv wieder gesehen. Er hat einen Trupp Soldaten des Königs von Laring aufgemischt.«

      »Sind sie tot?«

      »Ich glaube nicht.«

      Kanuna schüttelte den Kopf. »Dann solltest du mich am Tag meiner Hochzeit nicht damit behelligen. War es Zukata?«

      »Ich weiß es nicht. Er wurde auch gesehen, als er in einem Hafen in Tors ein Schiff gekapert hat.« Rahmon beeilte sich hinzuzufügen: »Herr, niemand kann uns mit Sicherheit berichten, welcher Eurer Söhne für diese Dinge verantwortlich ist. Vielleicht war es auch Keta. Vielleicht waren sie es beide. Ihr braucht einen Erben.«

      »Ich weiß«, sagte Kanuna leise. »Glaub mir, ich weiß.«

      Aber als er Fanes gegenübertrat, dieser großen, hellen Frau mit dem Lächeln, dachte er nicht mehr an das Kind, das er unbedingt haben musste. Weich und warm legte sich die neue Liebe über die Schluchten, die Vinjas Tod in ihn getrieben hatte.

      4. Möwe

      D E RW A N D E R E RH I E L Tauf ein kleines Fischerdorf zu. Er war müde und hungrig und hoffte auf einen Krug kühles Bier, auf gebratenen Fisch und frisches Brot. Danach wäre ein Platz im Schatten schön gewesen, wo er sitzen und auf das Meer hinaussehen konnte. Immer wieder trieb es ihn an die Küste, auch wenn alle seine Verpflichtungen ihn ins Landesinnere riefen. Aber das Meer hatte eine eigene Stimme, und wenn er ihr lauschte, hörte er den Ruf. Immer wieder kam er hierher, in eins der unzähligen Dörfer. Er hätte selbst nicht sagen können, ob er sich damit quälte oder belohnte.

      Ein Dorfbewohner, ein junger Fischer in abgerissener Kleidung, gebräunt von der Sonne, staunte über die außergewöhnliche Körpergröße und die starkgebaute Gestalt des Besuchers.

      »Kommst du in friedlicher Absicht?«, fragte er vorsichtig, denn obwohl der Fremde lächelte, war die Schärfe seiner blauen Augen und die kühne Entschlossenheit seiner Züge nicht zu übersehen. Selbst hier hatte man von den Räuberbanden gehört, die ganze Landstriche unsicher machten.

      »Ich schlage keine Wunden, sondern heile sie«, antwortete der Wanderer.

      »Dann bist du ein Heilkundiger?«, rief der Fischer erfreut. »Dich hat uns Rin gesandt. Komm schnell mit!«

      Er führte den Heiler in eine der Hütten, wo mehrere Menschen versammelt waren. »Ich habe hier einen Arzt!«

      »Sei willkommen«, sagte eine der Frauen, ohne aufzublicken. Sie beugte sich über jemanden, der auf einem schmalen Bett lag. »Aber ich fürchte, du kommst umsonst.«

      Der Fremde trat näher und erblickte auf dem Bett die Gestalt eines halbwüchsigen Mädchens, Kopf und Hände verbunden. Das Gesicht war bleich und schien mehr einer Toten als einer Lebenden zu gehören. Das Mädchen atmete noch, schwach und fast unmerklich.

      »Was ist ihr zugestoßen?«, fragte der Heiler.

      »Wir wissen es nicht. Wir haben sie am Strand gefunden, sie gehört nicht zu uns.«

      »Ihr habt sie einfach am Strand gefunden?«

      »Nach dem Orkan, der hier vor drei Wochen getobt hat. So lange ist sie schon bei uns. Sie stirbt nicht, aber sie wacht auch nicht auf.«

      »Wer hat die Verbände angelegt?«

      »Ich«, sagte die Frau, die ihn begrüßt hatte.

      »Du kannst hierbleiben«, sagte er, »aber die anderen muss ich bitten, uns allein zu lassen.«

      Sobald die Anwesenden die Hütte verlassen hatten, machte er sich daran, die Binden vorsichtig zu entfernen. Der magere Körper des Mädchens war mit Schnittwunden und Prellungen übersät, und er konnte sich vorstellen, wie sie vor drei Wochen ausgesehen hatte. Dabei heilten alle diese kleinen Wunden gut; selbst ihre Kopfverletzung, sorgfältig genäht, sah fast verheilt aus. Versteckt unter dem weißblonden Haar, würde bald nichts mehr davon zu sehen sein.

      »Du hast gute Arbeit geleistet«, sagte er anerkennend.

      Die Frau quittierte das Lob mit einem Lächeln. »Aber sie wacht nicht auf. Sie wird irgendwo schwer aufgeschlagen sein, aber sie hätte längst wieder erwachen müssen. Manchmal denke ich, sie müsste nur eine vertraute Stimme hören und sie würde die Augen aufschlagen und reden. Solche Fälle hat es schon gegeben. Aber wir wissen ja nicht einmal ihren Namen. Wir vermuten, dass sie auf einem Schiff war, das im Sturm untergegangen ist. Woher sie kommen mag? Wir wissen es nicht.«

      Der Mann nahm die Hand des Mädchens in die seine, streichelte die langen, schlanken Finger. Es war eine schöne, wohlgeformte Hand, aber sehr blass.

      »Ein Albino«, sagte er leise. »Ein ungewöhnlicher Schiffspassagier. Fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Wer wohl nach ihr sucht?«

      »Vielleicht niemand«, meinte die Frau. »In dieser Nacht sind viele Schiffe untergegangen. Wir haben auch viele Wrackteile gefunden.« Sie sah den Fremden an. »Das Einzige, was sie außer ihrer Kleidung bei sich hatte, ist diese Holzmöwe hier.« Sie zeigte ihm eine kleine hölzerne Figur, einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. »Können wir nichts für sie tun? Alles, was ich vermag, habe ich getan. Aber du siehst aus, als kämest du von weither. Gibt es nicht irgendwo ein Mittel, um jemanden aus einer solchen Bewusstlosigkeit zu wecken?«

      Der Fremde sah auf seine eigenen Hände, in denen die Hand des Mädchens winzig wirkte: große, starke Hände, mit denen er Lanzen und Schwerter geschwungen und zerbrochen hatte, Pferde gebändigt und Menschen niedergerungen, Menschen und Krankheiten. Er wusste, was das bedeutete, und er konnte heute noch das Glück in sich finden, das er empfunden hatte, als die alte Frau gesagt hatte: Nehmt ihn auf, Schwestern und Brüder, nehmt ihn auf und lehrt ihn alle unsere Geheimnisse – er hat heilende Hände. Sie hatte sich vor ihm verbeugt, während ihre Sippe verwirrt danebenstand. Und er hatte gewusst, dass sie seine Herkunft ohne sein Zutun herausgefunden hatte, dass sie in ihm den Erben erkannte, und hatte gestaunt. Heilende Hände. Er hatte gewusst, dass die Gabe des Heilens mit dem Segen verbunden war, aber er hatte nicht wirklich daran geglaubt. Gelernt hatte er schnell, das Wissen des Ziehenden Volkes und das Wissen der Wanderärzte und der Dorfärzte, und er hatte es mit dem verbunden, was er vom Leibarzt seines Vaters in Erinnerung hatte. Wenn man ihn nach seinem Namen fragte, sagte er: Nennt mich »Kan-solin-remanaine«, was bedeutete: der Mann, der seinen eigenen Weg geht.

      Wenige waren unter seinen Händen gestorben, und um diese hatte er meistens nicht gekämpft, da er fühlte, dass er sie auf ihrem Weg nach Rinland nicht zurückhalten durfte. Sein Ruf war ihm bald vorausgeeilt, und selbst Könige hatten sich darum bemüht, ihn an ihren Hof zu holen. Der große Wanderarzt Remanaine! Und er hatte darüber gelächelt und war weitergezogen. Wenn es ihn nach Gold und Edelsteinen, nach edlen Pferden, erlesenen Genüssen und dem angenehmen Leben in einem Palast verlangt hätte, hätte er zu Hause bleiben können.

      Seine Hände. Es lag nicht in ihrer Macht, Leben zu geben, aber sie hatten vielen, die schon vom Tode gezeichnet waren, Heilung geschenkt. Und dieses Mädchen, dem Tode verfallen, das seine eigene Tochter hätte sein können – ihr konnte er nicht helfen, obwohl er andere gesehen hatte, die schlimmer verwundet gewesen waren und doch dem Leben gehörten? Warum war er so machtlos?

      Das Mädchen stand am Ufer und blickte hinaus aufs Meer. Sie konnte die Brücke sehen, die auf dem Sand ruhte und sich sanft geschwungen über das Wasser erhob. Sie reichte bis zum Horizont, eine schmale Brücke, nur ein Steg. Sie war nicht golden. Das Mädchen starrte sie an und fragte sich, warum sie damit gerechnet hatte, dass die Brücke aus Gold sein würde. Sie war aus Holz, aus rauen Bohlen, und besaß kein Geländer.

      Das Meer war glatt und blau und spülte bis an ihre Füße. Der warme Sand, weich unter ihren Fußsohlen, war fein und sauber. Keine einzige Muschelschale,