Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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sacht gegen ihre Zehen schwappte, murmelte leise, dieses altvertraute Lied. Das Meer rief.

      Vorsichtig näherte sie sich der Brücke. Sie streckte die Hand aus und berührte das Holz. Es war warm von der Sonne, und hier, wo die Wellen dagegenschlugen, leicht aufgequollen.

       Sie konnte jetzt hinübergehen. Ihr Fuß hob sich bereits, aber dann zögerte sie doch. Hatte da jemand gerufen?

       Blitz?, fragte sie vorsichtig. Bist du das, Blitz?

      Das Mädchen drehte sich um. Hinter ihr lagen die Dünen, bewachsen von Strandhafer und Gras. Niemand war hier, nur sie und die Brücke.

      Blitz?, fragte sie noch einmal.

      Remanaine vergaß die Frau, Zeit und Ort, Müdigkeit und Hunger. Er sah das weiße Gesicht des Kindes, das schon eine seltsame, schimmernde Durchsichtigkeit besaß.

      »Bleib«, flüsterte er und hielt mit seiner Linken die bleiche Hand fest, während er seine Rechte auf die Stirn des Mädchens legte.

      »Da hilft nur noch beten«, sagte die Frau.

      »Du hast recht«, rief er, und er begann zu beten, wie er noch nie gebetet hatte. »Rin! Bei Rinland und den Tränen, schenk mir heilende Hände! Bei der Liebe und Rinland jenseits des Meeres, vertreib die düsteren Schatten des Todes und lass dieses Kind leben!«

      Er ergriff beide Hände der Schlafenden. »Wie nennt ihr sie?«

      »Möwe«, antwortete die Frau. »Wegen ihrer Holzmöwe.«

      Er sah das weiße Mädchen an und nickte. »Möwe. Hörst du mich, Möwe?«

      »Bring mir Wasser«, sagte er dann zu der Frau. »Meerwasser. Ich will sie segnen.«

      »Das darfst du nicht«, wandte sie ein. »Du bist kein Priester.«

      »Doch, das bin ich«, widersprach er, und es stimmte: Obwohl er nie in Salien gewesen war und nie in einem Kloster gedient hatte, gab ihm der Segen seines Vaters das Recht, all das zu tun, was nur ein Priester tun durfte. Der Herr des Landes war immer zugleich auch ein Priester.

      »Wer dich auch dem Tod bestimmt hat, er soll schweigen für immer! Komm zurück, Mädchen, komm zurück! Es ist noch zu früh für dich! Möwe!«

      Die Frau reichte ihm eine Schale, die sie in die Wellen am Strand getaucht hatte.

      Remanaine besprengte das Gesicht des jungen Mädchens mit dem salzigen Wasser.

      »Tränen«, sagte er leise. »Rins Tränen. Geh noch nicht nach Rinland, meine Tochter, noch nicht.«

      Er fühlte die Vollmacht in seinen Händen, unbegrenzte Macht, zu rufen und fortzusenden, zu heilen und Frieden zu geben. Kraft strömte von ihnen aus, und er verspürte die Gegenwart Rins, spürte ihn bei sich und in sich und im ganzen Zimmer, Wärme und Heilung und die Verheißung eines Glücks, das den Verstand und alle Vorstellungskraft übersteigt – die Erfüllung der Sehnsucht.

      Sie hatte sich in den Sand gesetzt und streckte die Beine aus, so dass ihre Füße in die Wellen tauchten. Mit einer trägen, verträumten Bewegung ließ sie den weißen Sand durch ihre Finger rieseln. Die Brücke neben ihr begann zu verblassen.

      Zuerst dachte sie an eine Sinnestäuschung, aber es half nicht, zu blinzeln und sich die Augen zu reiben. Das Mädchen sprang auf und eilte zu der ersten Stufe, von der aus sich die Brücke höher wölbte. Sie legte die Hand auf das unterste Brett. Es war fest und wirklich, und doch, wenn sie aufsah, schien die Brücke sich am Horizont aufzulösen. Sie musste sich beeilen. Es gab nichts, was so sicher war wie das. Das Mädchen hob seinen Fuß und setzte ihn auf die erste der zahllosen Bohlen. Sie fühlte sich fest und sicher an. Obwohl die Brücke kaum breiter war als ihre Schultern und so unendlich weit hinausragte, schwankte und schaukelte sie nicht. Aber immer noch zögerte das Mädchen, einen Fuß auf der Brücke, den anderen noch im Sand.

       Wer hat da gerufen?, fragte sie und drehte sich wieder um. Blitz? Warst du das? Wo bist du?

      Da war es wieder, von irgendwoher, eine Stimme. Das Mädchen konnte nicht verstehen, was sie sagte.

      Das Mädchen bewegte sich nicht und lauschte. Die Brücke unter ihrer Fußsohle fühlte sich gut an, gut und richtig. Und doch war da dieser andere Ruf.

      Sie schüttelte den Kopf und seufzte. Sie würde keine Ruhe haben, bevor sie nicht nachgesehen hatte, ob es wirklich Blitz war, der sie gerufen hatte. Das Mädchen wandte sich zu den Dünen um und ging durch den Sand darauf zu.

      Remanaine beugte sich über Möwe. »Sie ist wach«, sagte er leise zu der Frau. Sein Herz machte einen Sprung. »Kannst du mich hören? Du bist hier. Du bist in Sicherheit und am Leben.«

      Die Verletzte hatte die Augen aufgeschlagen. Mit ihren ungewöhnlich blassen Albino-Augen sah sie sich verwirrt um.

      »Ist Blitz da?«

      »Der Sturm ist vorüber«, sagte die Frau freundlich und unterdrückte den Jubel in ihrer Stimme. »Du bist in Sicherheit.«

      »Kannst du uns sagen, wie du heißt?«, fragte der Mann.

      Sie versuchte, sich zu erinnern, aber das einzige Bild, das sie vor sich sah, war die Brücke. Das Mädchen saß am Strand und sah die Brücke, und während sie schaute, verblasste sie schon und mit ihr alles andere. Die Wellen und die Stille und der weiße Sand sanken zurück, und das Mädchen fand sich auf einem fremden Bett in einer fremden Hütte wieder. Der Mann, der sich zu ihr beugte, war sehr groß und blond. Das Mädchen schwieg, verwirrt.

      Die Erwachsenen sahen sich an. »Wir müssen ihr Zeit lassen.« Die Frau sprach, als wäre sie nicht da, aber der Mann nickte ihr mit wachen Augen zu. »Es wird alles gut«, versprach er, und obwohl ihr dieser Mann fremd war, so wie alles hier, glaubte sie ihm jedes Wort.

      »Nun will ich euch nicht länger zur Last fallen«, sagte Remanaine.

      »Ein Arzt wie du ist nirgends eine Last«, erwiderten sie ihm.

      »Aber jemand wie ich ist nicht leicht satt zu kriegen, und ich will euch nicht das Wenige wegnehmen, das ihr habt. Ich werde jetzt weiterziehen.«

      Die Frau trat auf ihn zu. »Du bist der große Arzt Remanaine und du bist mehr als ein Arzt. Nie habe ich etwas Ähnliches gesehen ... Ich werde Möwe sagen, dass es losgeht.«

      Er war überrascht. »Warum glaubst du, dass ich das Mädchen mitnehme?«

      »Sie glaubt es jedenfalls. Ich dachte, du hättest es ihr versprochen.«

      Remanaine zögerte. Dies war eine Wendung, mit der er nicht gerechnet hatte. Er heilte überall Menschen, wo er hinkam, aber wenn er auch nur die Hälfte davon mitgenommen hätte, würde ihm eine ganze Schar folgen. Auf so etwas legte er keinen Wert.

      »Möwe hat hier niemanden.« Sie nannten das Mädchen immer noch Möwe, dieses Kind, das der Sturm ihnen gebracht hatte. Sie hatte sich an keinen anderen Namen erinnern können. Sie war wach und gewann rasch an Kraft und Gesundheit, aber bis heute hatte sie ihnen nicht sagen können, wer sie war und woher sie kam. Remanaine hatte geduldig gewartet, aber nun zog es ihn weiter.

      »Ich glaube, sie betrachtet dich als denjenigen, zu dem sie gehört. Ich kann dich natürlich nicht dazu zwingen, dich auch weiterhin um sie zu kümmern.« Die Frau blickte ihn an. »Ihre Gegenwart macht einige hier nervös«, sagte sie schließlich ehrlich. »Du bist weit herumgekommen, aber die Menschen hier betrachten sowieso schon jeden Fremden mit Argwohn.« Sie brauchte es nicht zu sagen: Ihre weiße Haut war vielen unheimlich.

      Er konnte Möwe nicht hierlassen. Wer einem Menschen das Leben rettet, ist dafür verantwortlich, das wusste er. In jedem der vielen Königreiche, in denen er gewesen war, galt dieses Prinzip, aber er hatte es nie auf sich als Heiler bezogen. Wie konnte er für all diese Menschen verantwortlich sein, denen er geholfen hatte? Und doch, sagte eine Stimme in ihm, bist du es, Sohn deines Vaters.

      »Falls jemand sie sucht, wäre es sinnvoll, wenn sie hier bliebe.« Aber er wusste selbst,