Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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über ihn wandern, als wäre er ein Pferd auf dem Markt, das ihr zu teuer war. »Ich kenne Euch doch nicht. Ihr seid sehr groß, aber das war bei einem Riesen ja auch zu erwarten. Ihr werdet Kaiser sein – das ist natürlich ein großer Vorteil. Aber ob ich Wert darauf lege?«

      Er konnte nicht umhin, sich über ihre Worte zu ärgern. Bei Rin, wie sollte er es mit diesem frechen Weib aushalten? Er wollte sich nicht zum Narren machen lassen.

      »Mich hat man auch nicht gefragt«, gab er zurück. »Ich hätte mir sonst eine schöne, stille, sanfte Braut ausgesucht. Niemanden, der so vorlaut ist wie Ihr. Wahrscheinlich«, fügte er noch hinzu.

      Sie war nicht verletzt, sie lachte. »Vielleicht wird es ja weniger schlimm als erwartet«, meinte sie.

      Ihre Zeit war um; die Türen wurden aufgestoßen, um das verlobte Paar zu beglückwünschen, und sie schüttelten Hände und sahen sich nicht mehr an. Erst als er hinausbegleitet wurde, warf er noch einen langen Blick zurück, wie sie da stand in ihrem grünen Kleid mit den Schleifen und Bändern, der Spitze und den Perlen. Sie zwinkerte ihm zu, eine Geste, die nur ihnen beiden gehörte, und sein Herz machte einen Sprung.

      Er reiste ab, um alles für die Hochzeit vorzubereiten, und einige Wochen später kam sie nach und wurde seine Frau.

      Zukata war zu ihm gekommen, in den ersten Tagen, als die Trauer noch so frisch war wie eine offene Wunde. Im Zimmer war es dunkel. Er zog die schweren Samtvorhänge zu, um das Licht auszusperren und den Park dort draußen, die Bäume, die Vinja geliebt hatte, und die Rosen, den Himmel und die Wolken. Es sind Schiffe, hatte sie gerne gesagt. Kannst du es sehen? Sie segeln über das blaue Himmelsmeer und der Wind bläst sie nach Rinland. Das ist eine Gewitterfront aus dem Westen, sagte er. Denk doch einmal nach, bevor du sprichst.

      Nun gut. Sie war nicht beleidigt. Dann kommen sie eben aus Rinland. Eine ganze Flotte, grau und schwer, und bringen uns seinen Segen.

      Er hatte ihr nicht mehr widersprochen. Es war meistens zwecklos, Vinja zu widersprechen.

      Zukatas Stimme war nur ein Flüstern im Dunkel. »Vater? Ich bin es, Zukata. Ich will, dass du mich segnest.«

      Er antwortete nicht. Schweigen hatte sich über ihn gesenkt wie ein Vorhang aus Samt. Wortlos saß er in seinem Sessel, stundenlang, und wartete darauf, dass der Schmerz verging.

      »Ich habe hier eine Schale mit Meerwasser. Ich habe an alles gedacht. Gib mir deinen Segen.«

      Ein einziges Wort quälte sich durch die Schichten seines Schweigens. »Warum?«

      »Die Gabe wird dann auch in meinen Händen sein, Vater. Ich will die heilenden Hände. Wir hätten Mutter retten können, wenn du mir den Segen früher gegeben hättest. Wir beide zusammen hätten es vermocht.«

      »Nein«, sagte er, »sie war zu schwer verletzt. Ihr Fuß war im Steigbügel hängen geblieben ...« Er konnte nicht weiterreden. Zukata legte seine Hände um die Schale.

      »Vielleicht doch. Vielleicht doch, Vater. In mir ist so eine Dunkelheit, Vater, als müsste ich immerzu weinen ... Leg mir die Hände auf, bitte.«

      Er hatte keine Kraft gehabt, sich zu weigern. Dort im Dunkeln legte er seinem Sohn die Hände auf das vom Meerwasser befeuchtete Haar und segnete ihn im Namen Rins und seiner Tränen, und während er sprach, fielen seine eigenen salzigen Tränen in das blonde Haar seines Kindes und mischten sich mit dem Wasser, und er fühlte sich zugleich schwach und mächtig, heilend und untröstlich, voller Liebe und unfähig, das Leben weiterzuleben, ohne Vinja. Es tat gut, die Worte zu sprechen, die, während sie aus seinem Mund kamen, nicht seine eigenen Worte waren, sondern die seines Vaters und seiner Großvaters und all der anderen Riesenkönige vor ihnen, und sie füllten den finsteren Raum mit Wärme und Zuversicht. Es war, als wäre Rin selbst bei ihnen in diesem Augenblick, seine göttliche Gegenwart, die sie erfüllte und Vater und Sohn umgab und in seinen Händen lebte – in seinen und nun auch in Zukatas Händen.

      »Das hatte ich nicht erwartet«, flüsterte der Junge und sprang auf und stürzte hinaus.

      Kanuna saß noch eine Weile da und atmete, dann stand er auf und zog die Vorhänge zurück.

      »Ich bin einverstanden«, sagte er zu Rahmon. Er erwartete nicht, dass es für ihn noch einmal Glück geben könnte, aber niemals, nicht einmal in seinen schlimmsten Stunden, hatte er je vergessen, dass er die Verantwortung für das Kaiserreich trug. »Wenn sich alle besser fühlen, wenn ich eine Frau habe, dann soll es eben so sein.« Schon einmal war er überrascht worden, als er sich den Wünschen anderer fügte, und auch wenn es keine zweite Vinja gab, würden wenigstens die vorwurfsvollen Blicke seiner Ratgeber und Edelleute aufhören. Und die mitleidigen. Er konnte es nicht ertragen, wenn Rahmon so mitleidig und verständnisvoll war und sich mehr Gedanken um sein Glück machte als er selbst.

      Und sie hatten recht – er brauchte einen Erben. Rahmon hatte ihm nicht unter die Nase gerieben, was für ein Gerücht die Runde machte – dass Zukata wieder in Deret-Aif war, als Anführer einer Räuberbande. Es war nicht das erste Mal, dass er dergleichen zu hören bekam. Auch damals, vor sechzehn Jahren, als er verschwunden war, hatten den Kaiser ähnliche Geschichten erreicht, von einem riesenhaften blonden Mann, der die Küstenländer unsicher machte. Jahrelang war es ruhig um ihn gewesen, doch falls er tatsächlich zurück kam, hatten es die Fürsten umso eiliger, einen anderen Erben im Schloss zu wissen, einen Prinzen, dem sie vertrauensvoll dienen konnten. Auch wenn Zukata den Segen hatte, konnte ein Kaiser keinen Piraten und Räuber zu seinem Erben ausrufen. Von Keta erreichten ihn ebenfalls hin und wieder seltsame Gerüchte – er sei beim Ziehenden Volk, den Zintas, gesehen worden, in den Wäldern und auf Jahrmärkten ... Keta war leider kein Ersatz für Zukata, auch wenn er selbst das lange gehofft hatte, denn Keta war seinem Herzen näher als sein Ältester; seine Auflehnung war nie so laut und gewalttätig gewesen, sondern als der Stillere der beiden hatte er ohne viel Aufhebens das getan, was er wollte. Es war merkwürdig, dachte er manchmal, dass die Zwillinge gerade das von Vinja geerbt hatten: die Unfähigkeit, sich ihrem Rang entsprechend zu benehmen, diesen Freiheitsdrang, der alle Konventionen sprengte – und von ihm die Stärke, nicht nur von dieser Freiheit zu träumen, sondern sie tatsächlich gegen alle Widerstände zu erkämpfen und auszuleben.

      Rahmon nickte. Falls er überrascht war, zeigte er es nicht. »Ja, Herr. Das ist sehr gut. Falls ich Euch beraten darf, wen ich empfehlen würde ...«

      Er musste unwillkürlich lächeln. »Nun sag schon. An wen hast du gedacht?« Er zweifelte nicht daran, dass Rahmon und die Fürsten schon Pläne geschmiedet hatten für den Fall, dass er zustimmte.

      »Die Prinzessin von Helt«, sagte Rahmon. »Sie heißt Kirja. Sie ist ... Ich bin sicher, sie wird Euch gefallen.«

      Gegen seinen Willen wurde er neugierig auf dieses Mädchen, das seine Frau werden sollte. Wie bei seiner ersten Eheschließung fühlte er sich hilflos, verlegen und peinlich berührt, nicht mehr wie der große Riesenkönig von Aifa, der Kaiser von ganz Deret-Aif, sondern wie ein junger Mann, der nicht weiß, was das Leben ihm bringen wird.

      In gewisser Hinsicht war alles anders als beim ersten Mal. Er war über sechzig Jahre alt und begegnete dem König von Helt als selbstbewusster Souverän. Er kannte ihn gut, wenn er auch noch nie seine Töchter gesehen hatte, und ohne Eile sprachen sie miteinander über die Belange des Kaiserreichs, bis der König schließlich lächelte und sagte: »Kirja wartet sehr darauf, Euch zu sehen, Kaiser Kanuna. Vielleicht ...?«

      »Ja«, sagte er, aber in sein Gesicht kam kein Lächeln, alle seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. Er war so aufgeregt, dass er seiner Stimme kaum traute. »Ja, natürlich.«

      Der König öffnete eine Tür und dort sah er sie. Kirja, Prinzessin von Helt. Er wusste, dass sie zwanzig Jahre alt war, aber nie war ihm das so jung vorgekommen. Sie war klein und sehr schlank; ihr herzförmiges Gesicht wurde von dunkelbraunem Haar umrahmt. Sie trug sogar ein grünes Kleid. Sie haben sie ausgesucht, um mir eine Freude zu machen, dachte er, denn sie ähnelt tatsächlich Vinja. Ich wette, Rahmon hat sich jede Prinzessin von ganz Deret-Aif angesehen und diejenige gewählt, die ihr am meisten gleicht.

      Er fragte: »Nun, was haltet Ihr davon, dass Ihr mich heiraten sollt?«