Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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sie mit einem Mann verheiratet werden sollte, der ihr uralt vorkommen musste, nur ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. Sie würde gehorchen, wie sie es gesagt hatte. Er zweifelte nicht daran, dass sie alles tun würde, was er sagte. Man hatte sie auf eine Verbindung ohne Liebe und Zuneigung vorbereitet, und falls sie innerlich weinte, zeigte sie es nicht.

      »Und was willst du, Kirja?«, fragte er. »Was erwartest du vom Leben?«

      Er war Kaiser, er konnte alles fragen, was er wollte. Aber sie hatte nicht gelernt, auf so eine Frage zu antworten. Er spürte ihren Blick auf sich, auf seinem Gesicht mit den groben Zügen eines Riesen, auf seinem blonden Bart und seinem Haar, hell wie reifer Weizen, ohne eine einzige graue Strähne.

      »Gefalle ich Euch nicht, Majestät?«

      »Du bist jung und schön, wem würdest du nicht gefallen«, sagte Kanuna zu dem makellosen Gesicht, und er dachte an Vinja, an ihr dunkles Haar, das sich beständig verirrte und sich an ihren Schläfen ringelte, an die kleine Narbe unter ihrem grünen Auge und an ihr herausforderndes Lachen, ihre Schroffheit, ihre Aufrichtigkeit, ihren abenteuerlustigen Mut ... Dieses Mädchen war zu jung, um überhaupt ein Gesicht zu haben.

      Er konnte es nicht mehr ertragen. Wie hatten sie nur glauben können, er würde sich mit diesem armseligen Ersatz für Vinja zufrieden geben? Mit einer Puppe statt einer lebendigen Frau? Es war zwecklos. Wut über seinen peinlichen Besuch stieg in ihm auf, über sich selbst, über Rahmon, der ihn dazu überredet hatte. Sie wird Euch gefallen! Von wegen!

      Das arme Mädchen stand ein wenig verwundert da und wartete.

      »Du hast nichts falsch gemacht«, brachte er noch heraus, »es war mein Fehler, herzukommen.«

      Er drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Seine eigene Unhöflichkeit ärgerte ihn, diese Situation, aus der er möglichst elegant wieder herauskommen musste, ohne den König tödlich zu beleidigen. Dass er das Bild zerstörte, das alle sich von ihm machten, dieses Bild des stets weisen, gerechten und majestätischen Mannes, ärgerte ihn umso mehr. Er wollte nur fort. Auch ein Kaiser konnte nicht immer stark sein.

      Der König von Helt kam ihm in der großen Halle erwartungsvoll entgegen, doch Kanunas Blick wurde abgelenkt. Eine Frau schritt gerade die Treppe hinunter, die in den festlichen Saal führte; er drehte sich zu ihr um und sah sie lächeln.

      Der Kaiser vergaß den König von Helt, der bereits die Hand ausstreckte, um ihn als zukünftigen Schwiegersohn zu begrüßen. Die Frau auf der letzten Treppenstufe lächelte, ein ruhiges, sanftes Lächeln, das nichts mit ihm zu tun hatte. Sie lächelte ihn nicht an. Es kam aus ihrem Inneren, aus ihrer Mitte, ein Lächeln aus Frieden, nicht aus Freude. Sie war fast so groß wie er, ein Abbild der alten Riesen. Alles an ihr kam ihm warm vor. Der Goldton ihres Haares, der matte Schimmer ihrer hellen Haut, ihre grauen Augen. Wie er musste sie im zweiten Lebensdrittel der Riesen stehen, in dem Alter zwischen vierzig und achtzig Jahren, in dem die Schönheit reift und die Weiblichkeit sich vertieft, in dem ein neues und schlimmeres Kämpfen beginnt als das Ringen der Jugend, und er sehnte sich nach ihrem Verstehen. Sie stieg die letzte Stufe hinunter und knickste, wie es sich gehörte, aber weniger tief als üblich, und er dachte: der Widerspruchsgeist der Laringer.

      »Wie heißt Ihr?«, fragte er.

      Hinter ihm ließ der König von Helt resigniert seine Hand wieder sinken und verzog kopfschüttelnd den Mund. »Das ist Gräfin Fanes von Sirna, meine Cousine«, sagte er säuerlich, denn er ahnte schon, was nun kommen würde. Durch die offene Tür hatte er bereits gesehen, wie seine Tochter weinend davongerannt war.

      »Ich bin Kanuna El Schattik«, stellte er sich vor.

      Diesmal galt ihr Lächeln wirklich ihm. »Ich weiß.« Ihre Stimme war tief und warm. Auch Vinja hatte eine tiefe Stimme gehabt, überraschend tief. Zu Fanes passte sie.

      »Seid Ihr verheiratet?«, fragte er. »Verlobt? Oder sonstwie gebunden?«

      »Nein, Majestät.« Kein Zittern war in ihrer Stimme. Sie schien seine Frage weder ungehörig noch anmaßend zu finden. »Frauen mit Riesenblut in den Adern finden nicht so schnell einen Mann.« Fest und sicher stand sie vor ihm und ließ seine Augen von ihrer warmen Schönheit trinken.

      »Dann solltet Ihr einen Riesen heiraten.«

      Sie lachte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber es gibt nicht mehr viele von uns.«

      »Ich bin noch frei.«

      »Habt Ihr Euch nicht soeben mit Prinzessin Kirja verlobt?«

      Es gelang ihm eben doch, immer wieder die richtige Entscheidung zu treffen. Er hätte nichts Besseres tun können, als herzukommen und sich nicht mit Kirja zu verloben. Weise, gerecht und majestätisch.

      Kanuna grinste und selbst auf seinem Riesengesicht wirkte dieses Grinsen sehr jungenhaft. »Habe ich nicht.«

      Der König von Helt seufzte laut und vernehmlich, aber die beiden beachteten ihn gar nicht.

      »Dann seid Ihr wohl tatsächlich frei«, gab Gräfin Fanes zu.

      »Das heißt, es stünde nichts dagegen, wenn ich die Absicht hätte, mich mit Euch zu verloben.«

      »Und«, fragte sie, »habt Ihr die Absicht, Majestät?«

      »Ich brauche nur Euer Ja.«

      »Wenn Ihr eine Frage stellen würdet, könnte ich darauf antworten.«

      Sie war das genaue Gegenteil von Vinja und doch war die Ähnlichkeit verblüffend. Hier war das, was er gesucht hatte: eine Frau, die keine Angst vor ihm hatte.

      »Wollt Ihr mich heiraten?«, fragte er. »Wollt Ihr mit mir nach Kirifas kommen und meine Kaiserin werden?«

      Er hatte die Hand ausgestreckt, ohne es zu merken. Erst als sie ihre hineinlegte, wurde er sich dessen gewahr.

      »Ja«, antwortete sie. »Nichts lieber als das, Majestät.«

      Kanuna drehte sich zum König um, der mit den Augen rollte und hastig die Lider niederschlug. »Ich habe meine Braut gewählt.«

      Der König nickte. »Das habe ich gerade gesehen. Nun denn. Ich hätte Euch gerne meine Tochter mitgegeben, aber wenn Ihr Euch mit meiner Cousine zu vermählen wünscht – bitte sehr. Ihr seid der Kaiser. Wann soll ich Eure Braut nach Kirifas bringen?«

      »Ich nehme sie sofort mit«, sagte Kanuna. Er hatte nicht die Absicht, sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Die Vorbereitungen für die Hochzeit werden bereits getroffen. Wer an den Feierlichkeiten teilnehmen möchte, muss uns jetzt begleiten.«

      Der König rang die Hände. »Das ist – knapp.«

      »Ich habe keine Zeit zu verlieren«, verkündete Kanuna.

      Er ließ Fanes’ Hand nicht los, ihre warme, trockene Hand.

      »Wo warst du?«, fragte er leise. »Warum habe ich nicht gewusst, dass es dich gibt?«

      Rahmon tobte. Er legte die Stirn in Falten, in seiner Stimme zitterte der Zorn. Er sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war, aber Kanuna kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies der Ausdruck seiner äußersten Wut war.

      »Was um alles in der Welt hat Euch geritten, eine so alte Frau mitzubringen?«

      »Fanes ist nicht alt.«

      »Nein? Wie alt ist sie denn? Vierzig? Fünfzig? Ich gebe ja zu, bei Euch Riesen lässt sich das Alter schwer schätzen. Ihr braucht einen Erben! Wie konntet Ihr das vergessen, Majestät? Einen Erben!«

      »Sie kann mir noch einen Erben schenken«, sagte er. Eine Stunde vor seiner Hochzeit wollte er sich nicht mit seinem besten Freund streiten. Wenn Rahmon nur sein Ratgeber gewesen wäre, hätte er für diese frechen Worte längst seine Faust zu spüren bekommen.

      »Dann müsst Ihr Euch aber wirklich beeilen damit. Was meint Ihr, warum ich Euch ein so junges Mädchen wie Kirja ausgesucht habe? Mit ihr hättet Ihr noch viele Kinder haben können und wenn vielleicht wieder ein paar darunter sind, die ...«

      »Die