»Und 's zweete: dieses Kind. Mann, bist du Vater, un lachen deine Kinder? Da biste eim Himmel. Denn wenn Kindla lachen, steht de Welt stille.«
In Verzückung geratend, warf sie den Kopf zurück und die Hände in die Höhe.
»Ach du mei allereenziges Mädla, mei Wackala, un wo bist du? Hörst du's nich, dei Mütterla ruft: wo, wo, wo? Dr Wind geht, de Sonne steht uf, wenn's Morgen is. Dr Vogel fliegt aus'm Neste. Wo aber wirst du ufstehen, wo gehn, wo fliegen?
Tot vor dr Geburt, gestorben vorm Leben, un warst scheen wie ne Rotfinke eim Frühjahre un wie a Star ei der erschten Brut.«
Das sprach sie singend wie einen Hymnus.
Wie sie aber die alte, müde Stellung einnahm und ihre Augen niedersanken, erblickte sie Kathe und den Knaben in deren Armen. Da ward ihr Gesicht noch bleicher, und den Leib schüttelte ein Schauer.
Plötzlich, tödliche Verzweiflung im Auge, traf sie in wirrer Wildheit Anstalten, wie sie war, aufzustehen.
Die Männer sprangen hinzu und beruhigten sie. »Ich geh', ich mach ein Ende«, murmelte sie fortwährend hinaufringend. »Wenn ihr den Vater in meinem Namen... haha... Vater... ein scheener Vater...«
Dann ward sie still; aber nur, um nach einigen Augenblicken schreiend aufzufahren:
»Oh, du verfluchter Glaube!« –
Stier redete sie fort:
»Wie der Kuckuck eim Pusche, aso rufste überall. Es ruft – ach, wie hat's mich geruft! Ich mach' mich uf, lauf'm nach, vom Wege, vo mei'm scheen Wage runter, über Stock un Steen, durch Löcher un reißniche Wasser, bis ich nich meh weeß, wohin noch her... un immer ruft's noch: Kuckuck... Kuckuck... Kuckuck...«
Ihre Stimme war immer leiser geworden. Das letzte Wort konnte man nur noch von den Lippen ablesen. Zurückgesunken, die blauen Lider über die tiefliegenden Augen geschlagen, verharrte sie, als wollte sie schlafen.
Nun glaubte der Staatsanwalt, seine Zeit sei gekommen. Er machte sich leise heran und richtete allerhand Fragen nach dem Schuster an sie. Ihr blasses Gesicht blieb unbeweglich. Er entfaltete den Zettel des Verunglückten und beschuldigte sie zuletzt auch des sträflichen Verkehrs mit ihm, und daß das Kind wohl die Frucht dieser Sünde sei. Alles das, um sie zu reizen. Marie veränderte keine ihrer leidensstarren Mienen. Plötzlich riß sie sich aus einer unsichtbaren Umklammerung und gebot mit herrischer Stimme und bohrendem Blick ins Wesenlose: »Ha, Vater! Du, hast du noch nich genung?! – Laß mich los, ich habe nischt mit dir zu schaffen!!«
Dann lag sie wieder totenblaß, regungslos, welk.
Die drei Männer des Gerichtes sahen ein, daß mit dem unglücklichen Weibe nichts anzufangen sei, und gingen mit dem Entschluß von dannen, zu gelegener Zeit den Versuch zu wiederholen, ein bündiges Zeugnis von ihr zu erlangen.
Aber Marie hatte lange Tage vollkommener Hingenommenheit, rührte das Essen kaum an und hielt ihr Gesicht fortwährend den Fernen zugewendet. Ihre Lippen waren wie trinkend geöffnet. Ein unsichtbarer Strom ergoß sich in ihre Augen, die davon stiller wurden, den wirren Glanz verloren und tief in die Höhlen sanken. Am fünften Tage fiel sie in Schlaf, aus dem sie erst nach vierundzwanzig Stunden erwachte.
Sie richtete sich auf und rief nach Kathe, die bald vor dem Bette stand und erstaunt wartete.
»Da bin ich nu schon eben, was will ich machen?« sagte Marie nach langer Pause zu ihr, schwerfällig, als mache es ihr große Mühe, einen Gedanken zusammenzubringen.
Kathe vermochte nicht zu sprechen, weil sie vor den Augen Maries erschrak. Sie waren stumpf wie ein ruhendes Wasser im tiefen Nebel, ohne eigentlichen Blick.
»Siehch mich immer a«, sagte sie, »'s mag dumm sein, daß ich nich gehn mag. Aber 's lohnt sich nich mehr. Auch das: der Strauch macht sich nich alleene dürre, und kee Wasser schluckt sich selber. Auch das: wer sich schlägt, hat noch was. Aber ich? – – Of dem Wege, den ich gegangen bin, sah ich een Mann, der war wie ein blühnicher Strauch... er war meine, und ich hab'n nich genommen... gib mir deine Hand, Kathe, und fürcht dich nich.«
Das Mädchen tat es.
»Nu, ja, ja, Mädla«, sprach Marie dann mit schwachem Lächeln, »es muß eben sein, warum, weeß ich freilich nich. Geh un bring mir meine Kleeder; drnach pack dir deine Sachen zusammen; bis bedankt fr alles, was de an mir getan hast, und laß mich alleene.«
Das tiefe Mitleid verdunkelte Kathe die Augen mit Tränen, doch aus Barmherzigkeit drängte sie den Schmerz zurück und antwortete:
»Nee, nee, Mariela, du bist noch zu schwach. Steh uf, wenn de denkst. Aber fort geh' ich nich. Alle Arbt of eemal wär zuviel für dich.«
Nach kurzem Überlegen ergab sich Marie darein, und Kathe war ihr beim Ankleiden behilflich. Als sie ihr den rechten Arm beim Anlegen der Jacke hob, schrie das arme Weib leicht auf.
»Ich ha noch gar kee rechte Gewalt mehr uf den Arm. Das is vo dem langen Liegen. Er wird sich wohl wieder einrichten.«
»Du wirst dir's Geblüte erfroren haben.«
»Eim Bette?«
»Nu nee, eim Bette nich. Das weßte alls nich, daß de den Arm verleicht vier Tage un vier Nächte hast haußen liegenlassen?« »Ach, dort war alles möglich.«
Dann schritten sie über die Schwelle.
Marie ging bis in die Mitte der Stube, und als sie sich rund umsah, begann sie zu wanken. Wenn Kathe sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie zu Boden gefallen. Matt lehnte das Weib den Kopf an die Schulter des Mädchens. In dieser Stellung verharrte sie lange, während ihre Augen groß und verstört niederblickten. Ängstlich hob Kathe ihr endlich das Haupt und sah einen irren Ausdruck im Gesicht.
»Was hat's nu mit dr?« fragte sie dabei.
Statt aller Antwort trat Marie einen Schritt zurück und riß Kathe mit sich.
»Siehch!« stotterte sie und wies mit bebendem Arm in die Luft.
»Was hat's nu?« fragte das Mädchen abermals voll Schrecken, weil sie durchaus nichts sehen konnte.
Marie richtete sich gewaltsam auf, ging an den Tisch, blieb lange unentschlossen sitzen und blickte dann Kathe unter Kopfschütteln an.
»Nee, nee«, hauchte sie, »kümmer dich nich. De Kranken regiert eben de Schwäche. Mach du och, ich erhul mich schon.«
Um sie nicht noch mehr aufzuregen, schwieg das Mädchen und ging bekümmert ihrem Tagewerk nach.
Marie verfolgte all ihr Tun mit den Augen. Es kam ihr ganz unbegreiflich, ganz zwecklos vor, was sie da erblickte, und sie sagte enttäuscht zu sich: »Das is das Leben, das is also...«
Als aber Kathe den schreienden Knaben auf den Arm nahm, konnte das Weib die Augen nicht offenhalten. Die rauhen Laute des Unholds taten ihr so weh, daß sie zu zittern begann und mit abgewandtem Gesicht in das Schlafzimmer flüchtete, wo sie den Kopf tief in die Kissen wühlte.
Doch mit der ganzen Kraft ihrer versinkenden Seele hielt sie an dem Entschluß fest, das letzte zu wagen, und nach einigen Tagen war sie imstande, das Kind zu halten. Mit leerem Gesicht arbeitete sie, ging leise umher wie ein Wesen ohne Seele, ohne Liebe, ohne Hoffnung, tot, aber geschäftig wie eine Maschine. Sie hatte gemerkt, daß ihre versonnenen Reden Kathe beunruhigten. Darum beherrschte sie sich und sprach selten und nur Alltägliches.
Nachdem sich auch Joseph überzeugt hatte, daß der Geisteszustand seiner Schwägerin zu keinen Sorgen mehr Veranlassung biete, erreichte sie es endlich, daß man ihr die Führung des Haushaltes ganz überließ.
»Bloß Wasser werdet ihr mir schicken müssen. Alle zwee Tage een Faß voll is genung.«
»Ja, ja, Mariela«, dies war die herzliche Einwilligung Josephs, »un so bale wie's geht kommste zu uns nuf, ganz, mit Sack und Pack.«
Dabei streichelte seine große Arbeitshand