»Nu he, was machst du denn mit dem Kindel?« fragte die Freirichterin, die versucht war, es aus der Wiege zu reißen.
Auf diese lauten Worte versuchte das kleine Wesen die Arme zu bewegen. Es war aber so schwach, daß sich seine ausgehagerten Händchen nur aufwendeten. Dazu gurrte es kraftlos. Seine faltigen Lider hoben sich aber nicht; man sah nur die Augäpfel darunter beben.
»Aber Marie!« begann Frau Wende wieder, entrüstet über den erbarmungswürdigen Zustand des Unholdes.
Allein die Verirrte rührte sich nicht. Mit steifen Armen auf den Rand der Wiege gestützt, die Achseln heraufgedrückt, den Kopf dumpf vorgereckt, war es, als hänge sie an Stricken in der Luft, ein Bündel, kein Mensch mehr.
Ihr Gesicht trug den Ausdruck vertierter Pein.
»Es wird dir verhungern. Siehst es denn nich?« rief Frau Wende wieder.
Marie hing regungslos über dem Abgrund ihres Lebens. Die Freirichterin ging und reichte dem Knaben selbst die Flasche, der so heißhungrig darüber herfiel, daß die eingesogene Milch immer zur Hälfte wieder aus seinem breiten Munde herausfloß und den abgezehrten Hals hinunterlief.
»Trink, trink, liebes Kindel«, eiferte kosend Frau Wende, die alle Scheu vor dieser grotesken Häßlichkeit vergessen hatte und nur mehr den hilfsbedürftigen Menschenwurm sah, »immer trink, armer, armer Kerle, du. Ja, ja, mir wern dir schon geben. Laß gut sein.«
Süß, streichelnd, mit jenem tiefen Erbarmen eines Mutterherzens, das fast wie erfülltes Glück klingt, redete sie.
Da stieß Marie unvermutet einen qualvoll stieren Schrei aus, der gar nicht enden wollte.
Frau Wende umfaßte sie, fühlte ihren ganzen Leib beben, führte sie von dem Kinde weg ans Fenster, saß bei ihr und stützte sie, bis die alte Ruhe wieder Besitz von ihr genommen hatte.
Aber es war doch nicht mehr die gleiche Starrheit in ihr. Eine Wand schien durchbrochen, und mit stehendem Blick, voll unsäglicher Klage, sah sie unverwandt ihre frühere Herrin an.
»Bis du stille«, tröstete diese, »nee, nee! Fürcht' dich nich, du bist bei mir. Laß gut sein, dei Mann kommt a so bale nich wieder raus, nee, nee, der sitzt. Dem hab'n se sei Jahr weger den Grenzsteenen ufgebrummt. Und wenn er wird das runter haben, da wern se'm a Zips weger'm Schuster schleißen. Laß du's gut sein«, wiederholte sie immer von neuem, streichelte das welke Gesicht, das sich an ihre Brust grub, und umfing den Leib, der unter ihren Worten leise erschauerte wie ein Baum vor fern hinstreichenden Winden.
Als Frau Wende schwieg, lag die Arme an ihrer Seite, und ihr Atem wurde immer stürmischer, angstvoller.
»Mariela, immer wein' du. Laß du's raus. Wir sein dir alle gut, 's ganze Dorf. Da hat's keen, Haus um Haus, Hof um Hof, dem's nich leid tat um dich. Vor allem der ale Freiwald. Schade, daß er tot is. Denk', vorige Woche habens'n begraben.«
So tröstete die Gute, und weil Marie bei Erwähnung des alten Brunnenbauers sichtlich den flutenden Atem zurückgehalten und ruhiger geworden zu sein schien, glaubte sie am besten zu tun, die Geschichte des Greises zu erzähle«. Er habe wohl durch die Auffindung des Schusters einen Stoß bis ins Mark erhalten.
Denn seit der Zeit habe er ohne ersichtliches Leiden gekränkelt. Endlich sei seine Seele lächelnd, schmerz- und kampflos, wie ein stilles Wasser, hinübergeflossen in den unbekannten Brunnen, der die Rinnsale aller Menschenleben auf ewig aufnimmt. Seine letzten Worte seien ein herzlicher Gruß an sie gewesen.
Während der Erzählung hatte sich Marie aufgerichtet. Beim Schlußsatz rückte sie von ihrer alten Herrin hart weg an den Tisch hin, und es war, als sinne sie über das Gesagte nach.
Die Freirichterin sah, daß ihr Besuch nicht umsonst gewesen sei, nahm sich vor, bei gelegener Zeit wiederzukommen, und ging davon, da Marie durchaus auf nichts mehr achten wollte.
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Marie aber fühlte, je länger um so deutlicher, daß ihr Geist in seine alte Wohnung zurückgekehrt sei. Noch ganz erfüllt von der Last seiner geheimen Wanderung, erschüttert von der Heimkehr, brütete er in seinen Gemächern, während von draußen her alle Erinnerungen auf ihn andrangen, wie etwa zur Nacht ein Volkshaufe in verworrener Unruhe gegen das geschlossene Tor einer Stadt sich aufmacht. Gleich einer lichtlosen Wolke aber lag das Bewußtsein über diesem letzten Zwiespalt ihres Lebens.
Sie hatte wieder einen Blick, aber sah noch nichts; empfand, aber ungeschieden; erkannte, aber faßte noch nicht.
Indessen saß sie am Tisch in der Unruhe eines Menschen vor der nahen Abreise, legte die Hände ineinander, tat einige Schritte in die Stube, kehrte zurück und sah auf den Fuß des überschlagenen Beines, dessen Spitze von dem stürmischen Herzschlag leise auf und ab pendelte, blickte durchs Fenster, kehrte sich ab und verfiel unter erwartungsvollen Atemzügen in ein leeres Hingenommensein.
So verging Stunde um Stunde.
Gegen das Ende des Nachmittags begann der Wechselbalg röchelnd zu schreien, schwieg wie erstickt, rang angstvoll schnurrend auf. Dann ging sein kurzer Atem, wie wenn eine zähe Masse in seinem Brüstchen koche.
Marie sah an sich nieder und erkannte ihre Verwahrlosung, stand auf, wusch sich, kämmte ihre Haare und zog sich saubere Kleider an. Bei allem hatte sie die Empfindung, letzte Hindernisse wegzuräumen. Als sie sich geschmückt hatte, spürte sie jenes unbezwingliche, von Herzklopfen getragene Durst- und Hungergefühl, das Nervöse vor einer entscheidenden Tat befällt. Sie trank in gierigen Zügen einen Krug Milch.
Mit dem Rest trat sie an die Wiege, das Kind zu tränken. Das lag weißblau und still. Die Augen waren tief eingerunzelt, der breite Mund offen, die dürren Händchen lagen regungslos hingebreitet.
Sie griff ihn an, und da eine welke Kälte in ihm war, legte sie ein Bett über ihn, daß er sich wieder erwärme.
Indessen war das Dämmern des Abends gekommen, und eine Garbe roten Lichtes floß durch das Fenster über Marie, die davon erschrak und nicht anders meinte, es sei jemand von hinten an sie herangetreten und habe sie berührt. Sie wartete ein wenig, ob der Schein reden würde. Aber gleichgültig verbreitete er sich in der Stube, floß über alles und ward endlich zu Ringeln und Flecken, die aufleuchteten und verschwanden. Marie aber traute doch diesem Spiel von Licht und Schatten nicht, sondern setzte sich an den Tisch und beobachtete alles mißtrauisch.
»Wart' och. – Wart' och«, sagte sie immer lauernd in sich hinein. Irgendwo, in der Schlafkammer oder unter dem Tisch oder hinter dem Ofen, kauerte etwas und wartete, sie zu überfallen. – Da kam es schon. Mochte es sich noch so sehr den Anschein geben, es sei ein Schatten. Sie wußte ganz genau, nun ging es an ihr Leben. Langsam schob es sich mit der Geräuschlosigkeit eines Katzenleibes über die Diele.
»Was willst du?« fragte sie, um es zu verscheuchen.
Der Schatten rückte weiter auf sie zu. Da geriet sie in Angst. »Wer sein Sie'n? – Ich hab' Ihn doch nischt getan!« Aber das graue Tier ließ sich nicht halten. Jetzt war es schon so nahe, daß sie seine Weichen vom unterdrückten Atem zittern sah. Um sich vor ihm zu retten, stieg sie auf die Bank. – Auf einmal war alles finster, und sie wußte, sie sei gestorben. Als sie in namenloser Angst darüber nachsann, was nun werden solle, da sie lebendig im Grabe liege, erhob jemand über ihr ein Gelächter, als verhöhne er sie. Nach einer Weile wagte sie die Lider ein wenig zu lüften. Da sah sie neben sich eine winzig kleine Muttergottes stehen. Sie leuchtete von selbst und verzog spöttisch das Gesicht.
»Hast du gelacht über mich?« fragte sie die Heilige, schon im Zorn, aber doch noch demütig. Die Figur nickte nur steif mit dem Köpfchen und erlosch. Da sank ein Bann in Marie nieder. – Sie erkannte sich plötzlich wieder, sah, wo sie sei, und wußte alles, was mit ihr vorgegangen war.
In