Mit lieben Armen half die Mutter mir Zögerndem auf. »Geh, Kind,« sprach sie dabei gütig, »sag's dem Vater, was dir fehlt oder was es ist.«
Ich muß wohl einen erbarmungswürdigen Anblick geboten haben mit dem kummerblassen Gesicht, dem stumpfen Blick und der schlaffen Gestalt, durch die die letzten Wellen des Schmerzes in bebenden Stößen fuhren, denn die Stimme meines Vaters war ungewöhnlich sanft, als er ermutigend sprach: »Nun, red' nur, Franz!« Und ich schüttete vor dem Rat dieser beiden treuen Herzen meinen Schmerz aus. Da ich geendet hatte, holte mein Vater, als schöpfe er ihn aus einem Brunnen, mühsam Atem und hielt ihn eine Weile drohend an. Dann platzte er donnernd heraus: »Junge, ist das auch wahr, was du gesagt hast?«
»Vater, wahrhaftig meiner Leib und Seele, so wahr ich Ministrante bin!« beteuerte ich und sank ihm in die Knie. Da legte sich seine harte, große Hand auf meinen Scheitel und mir war, als wälze sich eine große stumme Last, eine Quader auf mein junges Herz, daß ich vor Bestürzung still war.
»Pfui«, sagte mein Vater. »Hast du's gehört. Weib? Soll ich das Schnupftuch auch auf den Fleck legen? Das Geschwür stech' ich auf! Keinem hab' ich aufs Bein getreten!«
Und als meine Mutter doch noch zum Guten reden wollte, schnitt er ihr das Wort ab: »Egal! Es muß ein Ende gemacht sein. Ich schlage an die Tür der Schule, der Pfarre und des Rathauses!«
Er verließ die Stube und kehrte nicht lange darnach zum Ausgang gerüstet wieder zurück, gab noch diese und jene geschäftliche Anordnung, fragte mich, ob der Pfarrer Zimbal Schulrevisor sei, strich sich vor dem Spiegel den Schnurrbart zurecht und ging mit dem grimmig-lustigen Ausruf: Nu kann's losgehen! von dannen.
Allein es half nichts. Der Lehrer setzte mich zwar an den alten Platz, blieb aber lieblos, ja abstoßend zu mir. Der Pfarrer zeigte seine Abneigung anders. Im Kommunionunterricht zog er mich auffällig oft zu Antworten heran und erklärte dann mit Erbarmung und Liebe: Ja, ja, armer Faber, lerne, lerne! Sei fleißig im Weinberge des Herrn! Du hast das Licht der Religion und die Gnade Gottes ganz besonders notwendig. Von solchen Worten kam ich mir wie bespien vor, und eine Feindseligkeit gegen den Geistlichen, die meinem frommen Herzen wehe tat, kam in mir auf.
Selbst von der Kanzel herab warf dieser Gottesmann eines Sonntags seine giftigen Pfeile. Ich saß mit meinem Vater in der Kirche und hörte seiner Predigt über den guten Hirten zu. Er beschäftigte sich mit den Pflichten des Priesters seinen Pfarrkindern gegenüber. So kam er auch auf die »teuflische neuzeitliche Bewegung unter den Kindern der Welt« zu sprechen; diesen »wahren Knappen Belials«. Seine Stimme ward stark, dröhnend; er schlug leidenschaftlich auf den gepolsterten Rand des Predigtstuhles und hob dann beschwörend die Hände gen Himmel.
»Ha, o der frechen Gemeinheit dieser Gesellen«, rief er etwa. »Denn, wenn durch die Vorsehung Gottes Licht in die verborgenen Höhlen ihrer Seele fällt, wenn treue Christen in der Betrübnis ihres frommen, einfältigen Herzens dieses gottabgewandte Leben an den Pranger stellen und öffentlich, wenn auch geschützt, auf sie weisen, um sich ihrer Bosheit nicht auszuliefern, dann, oh, dann nimmst du, Lästerer, um dich den Mantel der gekränkten Biederkeit und dringst mit harten Worten in die geweihte Klause der Priester des ewigen Gottes.«
Seine Stimme schnappte über. Es entstand eine Bewegung unter den Zuhörern; viele wendeten die Köpfe nach meinem Vater, dem also Geschändeten. Der reckte sich starr auf. Die Züge seines Gesichtes wurden hart wie Stahl. Dann schoß er zu seiner ganzen Größe auf und heftete einen Augenblick sein Gesicht voll tiefster Verachtung auf den Pfarrer, der nur eine Bankzeile von uns entfernt war und bei dem Anblick des drohend Aufgerichteten erbleichte, weil er fürchten mochte, mein Vater würde sich zu einer Entgegnung hinreißen lassen. Aber der ging, ohne ein Kreuz zu schlagen, erhobenen Hauptes hinaus, und die tausend Augen der Gemeinde schillerten in Schadenfreude hinter ihm her. Mein Herz trieb mich dem Beschimpften nach. An der Stiege, welche von dem Bauernchor in das Schiff der Kirche herunterführte, blickte er sich nach dem scheuen Trippeln um, das seinem Schritt folgte, und eine trauervolle Freude erhellte die Starrheit seines Antlitzes. Am Weihkessel ging er, abgewandten Gesichtes, vorbei. Ich aber griff hinein und besprengte mich mit dem geweihten Wasser. Wie ich mich umwandte und hinausschlüpfen wollte, schrie der Pfarrer Zimbal eben dröhnend: »Auf, tuet euch weit auf, ihr Tore des ewigen Heils, auf daß die Pest des Unglaubens von dir weiche, du gute und sehr gute Herde des göttlichen Hirten!«
Da wischte ich draußen im Lichte der Sonne das heilige Naß von meiner Stirn, denn ich wollte sein wie mein Vater. Der aber eilte ohne Umsehen weiter und betrat seit diesem Sonntage keine Kirche mehr. Er versuchte auch nicht, den Pfarrer Zimbal wegen Mißbrauches der Kanzel zur Rechenschaft zu ziehen oder wenigstens zu erforschen, wessen geheime Wühlarbeit seit Wochen und Monden seinem Leumund so schadete. Er lebte still und aufrecht hin, nur eifriger tätig als sonst, als sei nichts vorgefallen, was ihn innerlich angehe. Denn es gibt eine tugendhafte Mannesschwäche. Das ist die aus edlem Stolz. Mein Vater besaß sie. Bei diesem Mann der wortarmen Entschiedenheit gab es nichts Dekoratives, nichts Halbes. Jede Tat, ja jede Äußerung bis herab zur Geste sprang mit urwüchsiger Gewalt unmittelbar aus seinem Wesensmittelpunkte. Keinen Vorhalt, kein tastendes Präludium sandte sein Wollen voraus. Bis in den kleinsten Zug fertiggefeilt schob seine verschlossene Seele endlich den Entschluß ans Licht, hart und unwiderruflich. Ihm war die Zähigkeit der Kleinen fremd, dem als recht Erkannten unter kluger Benutzung der Verhältnisse bei seinen Mitmenschen Geltung zu verschaffen. Sein Edelstreben befaß keine Modulation. Verteidigung und Angriff bestanden bei ihm aus einem, dem Hieb. Wohl aus Ehrfurcht vor sich und den Menschen war es ihm unmöglich, mit dem Schmutz und der Verschlagenheit seiner Gegner zu rechnen, denn Gemeinheiten machen den Helden wehrlos aus Ekel.
Darum kam auch nichts als ein bitteres Lächeln in seine Züge, als einige Tage nach seiner Flucht aus der Kirche die Polizei bei ihm Haussuchung nach sozialistischen und anarchistischen Büchern und Briefen hielt. Mit kalter, verachtungsvoller Höflichkeit geleitete er den Beamten zur Tür hinaus. Kein Wort der Genugtuung kam über seine Lippen, daß man auch nicht ein verdächtiges Papierschnitzel gefunden hatte. Mit hocherhobenem Haupte stand er noch immer da, und wenn er auch dann und wann in ein düsteres Fernsein verfiel, so rettete sich sein Auge doch immer wieder in das blitzende Leuchten, und wie je schütterten seine Schritte über Flur und Stiege.
Behaglich und gesammelt saß er nach leidenschaftlich-fleißigem Tagewerk in seiner Sofaecke und ließ, vom Sinnen zurückkehrend, sein Auge wohl über den Tisch wandern, der nun einsamer stand als sonst. Denn seit hinter jedem Schritte meines Vaters das Zischeln lief, waren so nach und nach all die Schwätzer und Stuhlwärmer ausgeblieben. Nur der Dorn-Schuster hatte sich fester auf seiner Bank eingenistet. Stets betrat er mit bekümmerter Miene unsere Stube, und stets kam doch die alte, kindhafte Aufgeräumtheit über ihn beim Anblick meines unberührten Vaters, der ruhig jeden Versuch seiner märigen Güte, dem »niederträchtigen Volke«, insbesondere aber dem Rinke-Tischler, eins zu versetzen, zurückwies, im übrigen aber geduldiger und aufmerksamer des Schusters komische Mutmaßungen über die große Wendung der Zeit ertrug. Ja, tauchte aus der Seele des Aufgeregten, der die ganze Welt nur durch seine Schusterkugel betrachtete, ein treffender Gedanke, so beteiligte sich mein Vater mit einem langen Blick, einer zustimmenden Geberde oder kurzen Bemerkung sichtbar an dessen Kummer. Verlor sich Dorn gar – und es geschah fast immer – in seine Familiensorge, dann blühte im Gesicht meines Vaters ein tiefes, ehrlich-schönes Mitleid, wenn er es auch vermeiden gelernt hatte, ihm Räte zu erteilen oder ein zu herzliches Erbarmen zu zeigen. Denn der gütige Mensch war zu keiner Strenge gegen seinen ungeratenen Jungen zu bringen, dessen Leichtsinn schon zu Veruntreuungen übergegangen war, sondern er drohte, beschwor, klagte, vertuschte und bezahlte, um am Ende in eine fast wirre Verstörtheit zu verfallen, während sein kleinmütiges Weib tagelang von sinnloser Angst durch die Finsternis der Dachkammern getrieben wurde und dann wie in Todesgier sich aus schwindelnd hohen Fenstern neigte. Erzählte das Dorn, so griff mein Vater herzlich nach dessen großen, mehligweißen Händen, die zuckend auf dem Tische lagen, und hielt sie, bis in dem Gesichte des Armen das Zittern vergangen war. Immer verließ uns dann der Schuster in halber Gebeugtheit, und mein Vater begleitete ihn, die Rechte wie schützend