»Was ich tun kann, will ich tun«, entgegnete ich dem armen Aufgeregten, der meine Hand ergriff, sie heftig preßte und dann mit den Worten: »Na, da dank ich Ihn recht schön. Ma muß halt das Leben kaun, und wenn eem de Zähne vollends gar ausbrechen«, an mir vorüber auf dem Wege nach Raspenau zu eilig fortstolperte. Seine Schritte klopften noch eine Weile durch den Dunst; dann verloren sie sich plötzlich, als seien sie von der Erde eingeschluckt worden. Daraus entnahm ich, daß er sich in einem Graben in den Hinterhalt gelegt habe, um seine Tochter abzufangen, wenn sie ja etwa, trotz meiner Einsprache, auf der Flucht bestehen sollte. Das war mir eine Beruhigung, und eiliger setzte ich meinen Weg fort. Die Birkenkronen, die erst als durchsichtiges Grüngewölk am Boden zu liegen schienen, schwebten, als ich die letzte Bodenfalte hinter mir hatte, nur wenige Schritte entfernt, gerade vor mir, gleich grüngoldigen Flammen auf den schwanken Alabasterleuchtern ihrer Stämme, denn eben wurden sie von dem schrägen Golde des letzten Lichtes getroffen. Und dort erspähte ich auch schon den dunklen Kopf Lieses. Sie saß auf einem begrasten Steine zwischen zwei Birken, leicht an einen der beiden Stämme gelehnt, das ziemlich umfangreiche Bündel neben sich. In der Haltung eines tief Versunkenen wandelte ich an die Wartende heran, das Gesicht abgewendet, als habe ich nur Äugen für den Flug Krähen, die über dem Wald des Feistelberges fort sich in dem Dämmern immer mehr verloren. Da grüßte mich auch schon ihre leise, wohllautende Stimme, und als ich mich umwandte, erhob sie sich in der ihr eigenen demütigen Art von dem Steine und bemühte sich in der Verlegenheit, das herabgeglittene helle Kopftuch aus dem Nacken über das reiche braune Haar zu ziehen.
»Ach, das ist ja die Liese!« rief ich mit gut geheucheltem Erstaunen. »Wo wollen Sie denn noch so spät hin, nach Raspe oder wieder in die Schule? Da können wir ja zusammengehen.«
Sie bewegte verneinend den Kopf, und mit geschlossenen Augen sagte sie leise: »Nich nach Raspe und nich nach Hause. Ich habe plötzlich einen Gang, und es is möglich, ich komme zum Abende nich nach Hause, vielleicht auch morgen nich, ma weeß eben nich.«
»Und das Bündel, da neben Ihnen?« fragte ich.
»Das sein meine nötigsten Sachen«; antwortete sie, die Augen zu Boden geschlagen.
»Da wollen Sie wohl dem Herrn Lehrer fortlaufen?«
»Meinem Herrn? meinem Herrn?« fragte sie, und es klang wie erhaltene Beglückung. »Nee, aber ausweichen will ... will ich ... muß ich, nich auf lange.«
»Aber Liese ...«
Doch sie unterbrach mich, erhob ihr blasses, zartes Gesicht und heftete die großen Augen fest auf mich: »Gelt. Sie verstehn mich nich! Das glaub' ich schon. und ich wirde es auch nich gewagt haben, wenn ich nich wüßte, wie Sie mit meinem Herrn stehn. und daß Sie der eenzige Mensch sein, dem er vertraut da hier rum.«
»Hat es denn etwas gegeben?« fragte ich, da sie verstummte.
Sie errötete, glücklich lächelnd. »Ach. Sie meinen, er wäre böse of mich gewesen. Nee, das kann mein Herr nich. Aber sehn Sie, es reißt was Schweres an ihm. Er sagt nie was, zu niemandem. Aber ich hab's gefühlt, wie es auf ihn zukam, schon vorm Jahre, und nu is ganz über ihm. Ich weeß, er muß wohl fort von hier. Aber verstehn Sie, das halt' ich nich aus. Das könnt' ich nich ertragen, auf der Treppe zu stehn und zu sehn, wie er fortginge aus der Schule und aus Wecknitz. Sie müssen wissen, er hat an mir gehandelt wie ein zweiter Vater. Und deswegen zittre ich, wo ich geh' und steh', und es geht um mit mir bei helllichtem Tage. Deswegen will ich fort, irgendwohin in den Busch, wo die Menschen weit sein und ihre Häuser, wo ich nich amal den Rauch aus den Essen rich und keene Sonne seh', und da will ich liegen und warten, bis alles vorbei is, was ich nich versteh', und was doch sein muß. Dernachern will ich den Packs da nehmen und will wieder nundergehn zu meim Vater und will mich hinter den Webstuhl setzen, wo mich mein Herr hat afürgezogen. Und zwischen dem Poltern kann sich mei Auge dann und wann durchstehlen durch de Obstbäume zur Schule. Da wird wohl alles gehn.«
Um die Flügel ihrer dünnen, schönen Nase nestelte verhaltenes Weinen, und erschöpft sank sie auf den Stein zurück, faltete die Hände im Schoß und senkte Wieder das Gesicht.
Ich wollte fragen, ob sie ihren Herrn liebe, kam aber nicht dazu, sie mußte schon von meinem Gedanken getroffen worden sein, denn sie sagte unvermittelt: »Aber denken Sie nich etwan was anders. Ich hab's mit dem ersten Herrgottsleibe ein mich gelegt, daß ich ihm fir all sein Guttäte dienen will, aso lange sich eine Ader rührt in mir.«
»Aber warum gehen Sie denn fort?«
»Weil ich zitter; weil ich Angst Hab' und kann mir nich helfen, und wenn ich um ihn bleib', da könnt' er am Ende bloß aus Barmherzigkeit zu mir dableiben und doch nich mehr recht froh werden. Denn er hat schon amal, ich weeß ganz genau wegen mir, den Schröfel abbestellt und die Kiste wieder ausgepackt.
Nu hab' ich noch eene Bitte, Herr Lehrer, deshalb Hab' ich auch of Ihn gewart'. Gehn Sie nunder und sagen Sie meinem Herrn, Sie hätten mich getroffen, und das Plaschke-Mädel sei ein widerborstiges Ding, dumm und nich recht gescheidt und besteh' darauf, fortzulaufen. Reden Sie's ihm recht ein und helfen Sie ihm so viel wie möglich, daß er feste bleibt und fortgeht. Und nu gute Nacht ...«
Ihre Stimme schlug über. Sie wendete das Gesicht ab und riß mit zitternden Händen an dem Bündel herum.
»Aber liebes, törichtes Mädchen«, sagte ich tief ergriffen und zog ihre Hände von dem Bündel fort. »Liese, begreifen Sie nicht, daß Sie durch all das Ihren Herrn gerade dazu brächten, entgegen seiner Notwendigkeit zu handeln?« Dann setzte ich ihr auseinander, daß ihr Verschwinden im Dorfe nicht unentdeckt bleiben könne, daß die Aufregung, die darüber entstände, meinen Freund zwänge, hier auszuharren, um böse Gerüchte zu entkräften; daß er außerdem dazu getrieben würde von Furcht und Sorge um sie, und als ich geendet hatte, saß sie lange mit bedeckten Augen, und ihr junger Busen ging stürmisch auf und nieder. Endlich richtete sie sich auf.
»Gut, ich will mich zusammennehmen«, sagte sie mit einer tiefsonnigen Stimme. »Es ist schon finster. So komme ich wohl ungesehen zur Hintertür hinein in meine Küche. Ich danke Ihnen recht schön, Herr Kastner!«
Sie nahm ihr Bündel auf den Rücken und verschwand nach links zwischen den Stämmen.
Als ich aus dem Gewirr der Steige zwischen den Gärten glücklich den Zugang zum Schulhause gefunden hatte, hörte ich schon Fabers tiefe Stimme, die mit einem unförmigen Brummelbaß Zwiesprache hielt, die Treppe herunter auf mich zukommen. Etwas von dem alten Schneid lag in ihr, und nachdem auf ungelenken, schweren Beinen ein plumper Ballen mit Gemurmel, das als Fluch und Gruß gelten konnte, sich hart am Zaune an mir vorbeibugsiert hatte, stand Fabers hoher Schatten vor mir, und er legte grüßend die Hand auf meine Achsel, indem er sagte: »Ich dachte schon, du würdest nicht kommen.« Dem Davongehenden rief er zu: »Gute Nacht, Schröfel!«
»Entschuldige,« erwiderte ich, »ich habe mich unterwegs aufgehalten.«
»Ist dir etwa die Liese begegnet?« fragte er, und ich staunte, wie ruhig er war.
»Warum hätte mir ausgerechnet ›Fräulein‹ Plaschke begegnen sollen?«
Vorsichtig drückte ich mich an der Wahrheit vorbei.
»Weil ich sie seit etwa einer Stunde vermisse und im ganzen Hause nicht finden kann«, entgegnete er.
In demselben Moment stieß eine Holzkanne an die Tür, nach welcher hin wir langsam geschritten waren, und gleich darauf stieg Liese die Treppe herab und schritt auf den Brunnen zu.
»Ach, da ist sie ja«, rief Faber. »Liese!«
»Ja, Herr«, antwortete das Mädchen leise. »Guten Abend, Herr Kastner!«
»Wo sind Sie denn? Seit einer Stunde