Am Brunnen angekommen, blieb Faber stehen und sagte mehr zu sich als zu mir: »Gott, ja! es kann ja sein, warum denn nicht!«
»Wie kommst du darauf, verzeihe, wenn ich überhaupt frage, anzunehmen, die Liese könnte davongehen?«
»Ach, eigentlich sage ich das aus einer puren Empfindung heraus, und dann wäre das auch nach ihrem seltsamen Wesen in der letzten Zeit denkbar. Überhaupt ist sie ein Geschöpf, das nur aus Seele und Liebe zu bestehen scheint«, redete er versonnen.
»Also doch Liebe?« fragte ich.
»Ja, wie ich sie um der paar Fähnchen und um der wenigen Hilfe willen wahrhaftig nicht verdient habe. Sie lebt nur für mich. Je tiefer dieser letzte Zwiespalt über mich kam, um so größer wurde ihre Angst. Da läuft ihr dann allerhand über den Weg. Zum Beispiel heut nachmittag erst. Ich höre sie eilig den Flur hin zur Haustür laufen, und wie ich eine Weile nachher herauskomme, lehnt sie am Türpfosten, schreckensblaß und mit geschlossenen Augen. Rein wie in Bewußtlosigkeit. Und als ich sie mit Mühe wachgeschüttelt habe, öffnet sie die Augen und sieht mich groß und schmerzverwundert an. Nach vielen Bemühungen bekomme ich's endlich aus ihr heraus: Sie habe stark und eigen jemand an die Haustür klopfen hören, so daß es sie aus der Küche hinausgetrieben habe, und als sie laufend die Tür erreicht habe, steht da ein hochbetagter Greis, ausgerüstet wie ein Wanderer, über den Brunnen gebeugt und trinkt aus der hohlen Hand Wasser. Als er seinen Durst gelöscht hat, dreht er sich nach ihr um und nickt ihr freundlich zu, in der Art, als solle sie herabkommen und mit ihm gehen. Aber sie kann kein Glied rühren, ein solches Entsetzen kommt über sie, denn der Greis trägt ganz meine Züge, verwittert und vertieft vom hohen Alter, aber unverkennbar. Auch Haltung und Gebärde machen ihn ganz zu meinem weißhaarigen Abbild. Er lächelt ihr in gütiger Größe zu, darauf wandelt er, bedachtsam den Stab setzend, den Gang hinunter und verschwindet zuletzt zwischen den Gärten, wie aufgesogen von Grün und Licht.«
Nun verstand ich, was Liese mit dem »Umgehen« gemeint hatte, sagte aber Faber auch jetzt noch nichts davon, sondern fragte: »Und was denkst du darüber?«
»Was soll man denken, wo denken zu nichts führen kann?« antwortete er nach einigem Überlegen. »Vielleicht hat Liese wirklich hellseherisch den Ausgang meines und ihres Lebens geschaut. Denn der Mann ihres Gesichtes hat wirklich in meinem Leben existiert und existiert noch, wenn auch als überwundene Macht. Unser Inneres wurzelt in der Zeitlosigkeit. Wir haben es nicht allein, wir haben es mit allen und dem All gemein. Vornehmlich aber mit jenen, die mit uns eines Sinnes sind. Aus diesem Grunde allein kann ihr Wissen um mein Geheimstes gestiegen sein, da ich natürlich ihr nie davon gesprochen habe. Ja, vor diesen Tiefen des Daseins ergreift den Schwindel, vor dem sie sich auftun!«
Faber stand, den Kopf erhoben, und atmete stürmisch, als glänze ihm eine Erscheinung. Und jetzt, da er zu reden begann, klang seine Stimme von Glück zitternd. »Kästner,« rief er stürmisch aus, »mein lieber, einziger Freund, so wäre es möglich, daß auch in diesem schwarzen Schatten meine Erlösung läge, wie der Samen in der Erde! Ich, der Halbzerbrochene, könnte wirklich noch als Mann der hohen Warte enden, gleich ihm!?«
»Welche Schatten meinst du und welchen Mann?« fragte ich, weil Faber wie im Hinhorchen verstummte. Da fiel die Verklärung wieder von ihm ab. und er antwortete: »Ach, laß nur! Die Wasser meines Lebens sind in Fluß geraten, und bald wirst du meine rätselhaften Worte verstehen lernen. Es stößt mich wohl von selbst bis dahin. Und viel zu früh muß ich vielleicht erkennen, daß der Blitz, der mich eben erschüttert hat, eine Täuschung gewesen sei. Aber das ist mir doch unumstößlich klar; das Gespinst, das mein Leben und das Leben dieses kleinen Mädchens verbindet, ist ohne eines Menschen Zutun, wie uranfänglich geflochten. Denn vom ersten Tage meines Hierseins, erst fern und immer näher umschwebt mich diese schmetterlingsflüglige Seele. Wie oft, in der Schulzeit noch, hat sie sich unbemerkt ins Haus eingeschlichen, um die Nacht auf der Schwelle meiner Tür zu schlafen. Wie es über sie fiel, so wird es wieder von ihr sinken. Nein. Nein. Die voreiligen Willensmenschen! Was ich muß, das werde ich tun, und wen das Leben fängt, den kann sein Wille nicht befrei'n.«
»Komm,« sagte er dann nach längerem Schweigen, »es wird kühl hier. Droben brennt die Lampe. Wir müssen uns sputen. Ich fürchte, die heutige Nacht wird länger als die erste.«
In langen Sprüngen stürmte er die Bodenstiege hinauf. und als ich hinter ihm eintrat, hatte er der kleinen Stube schon einen Anstrich von Ordnung gegeben. Die paar Stühle standen an die Wand gedrückt, der eine war in die Ecke zwischen dem rechten Fenster und den Kleiderschrank geschoben. Daneben auf dem Fensterbrett standen eine Flasche mit Wasser und ein Glas.
»Willst du dich an das Fenster setzen?« fragte ich.
»Ja«, entgegnete er. »Ich glaube, in dem halben Dämmern, in dieser Abgeschlossenheit komme ich leichter zu der Empfindung einsamer Sicherheit, und dein Aufmerken stört weniger. Ich genieße die Kraft deiner mitgehenden Seele, ohne von dem Gericht deiner Blicke da und dort doch verwirrt zu werden. Ich denke, wir tragen das Sopha und den Tisch auch noch etwas nach dem Ofen hin.«
»Wie du willst«, sagte ich, ein wenig gedrückt.
»Du bist doch nicht beleidigt? Sieh.« sprach er rasch und überzeugend, »ich erzähle doch eigentlich wegen mir, vor dir, nicht für dich, und je mehr du unsichtbarer Miterleber bist, um so sicherer bauen sich die Notwendigkeiten meines Lebens in mir auf. – Leidende sind nun mal schon grillig«, fügte er lächelnd hinzu, als alles stand, wie er es sich dachte, und sah mich mit Augen an, die um Schonung baten.
Ich reichte ihm wortlos und herzlich die Hand. Dann suchte ich die heilste Stelle auf dem klippenreichen Sofasitz. Er war einen Schritt zurückgetreten und stand, halbabgewendet, in der Stube, den Kopf sinnend geneigt.
»Du bist mir gestern abend die Angabe der Gründe schuldig geblieben, die deinen Vater zu dem unvermittelten Bruch mit dem Tischler Rinke geführt haben«, begann ich, um ihn weiter zu führen.
»Ich weiß schon, ich weiß,« sprach er suchend, »ja, sicher wollte mein Vater seinen Freund nicht für immer von sich treiben, sondern ihn nur in seiner Weise zum Aufgeben ehrloser Pläne zwingen. Daß das Zerwürfnis zum ewigen Bruch der beiden Männer führte, daran war neben der gehässigen Hartnäckigkeit des Tischlers die Stimmung jener Zeit schuld, in die es fiel.«
Mit leisen, überlegenden Schritten war Faber, während er diese Worte sprach, an seinen Platz hinter den Schrank gegangen. Dort saß er einige Minuten schweigend, ein Bein über das andere geschlagen, zurückgelehnt, daß ich nichts von ihm sah, als seine überlangen Füße.
Dann begann er mit ruhiger Stimme weiterzuerzählen:
»Ein neuer Geist rumorte im Lande. Die Eisenbahnlinie war ausgebaut und sah nachts mit den roten Lichtern ihrer Signalmasten bis zu unsern Fenstern. Der Zug rollte an der Stadt vorüber, und an stillen Tagen dröhnte sein Keuchen bis auf den Marktplatz von Heisterberg. Die scheuen Dohlen des grauen Wartturmes aber stoben gackernd aus den Mauerritzen und umkreisten lange die plumpe Spitze, die den Doppeladler trug. Die alte Gemächlichkeit war auf Nimmeraufstehen aus ihrer Ruhe gerüttelt worden, und der neue Lauf der Dinge, der sonst nur gute Freunde zu läßlichem Streit am sicheren Ofen geführt hatte, wuchs sich immer mehr zu einer besorgniserregenden Angelegenheit aller aus. Er lockte dem Bauer das Gesinde vom Hofe, zauberte Fabriken um die Stadt, machte die Armen begehrlich und dreist, die Besitzenden anmaßend und hart. Das behäbige breitbeinige Dahertreten verschwand; hastig, mit gebeugtem Rücken, wie im Stoß, rannte das Leben hin. Die schmaltürigen Läden der Krämer gingen ein. Die meisten rissen die kleine, heisere Klingel von der Wand. Prunkvolle Schaufenster blühten über Nacht auf und waren oft nach Wochen schon geschlossen. Der Hammer des Verganters pochte bis tief in die Nacht. Das weite, neue Reich erbebte unter dem Geschrei überhitzter Massen, und der dumpfe Marschschritt der Arbeiterbataillone warf sein leises Echo bis in die holprigen Straßen unseres Bergstädtchens. Mit dieser Auflösung alter Verhältnisse und Begriffe ging, sicher auch in meiner neuen Heimatsstadt, eine gewisse Verirrung der Sitte. Denn von jeher, wie ich weiß, stand sie in dem Ruf, das Bedürfnis nach Moral dann und wann durch einen tollen Exzeß besonders in Punkto Liebe auffrischen zu müssen. Und so benutzten