Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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im Adamskostüm schlossen.

      Genug, die wenigen, die von dem Bahnbau und überhaupt von der ganzen neuen Zeit nur Schlimmes erwartet hatten, behielten recht. Die Schar der Furchtsamen und Besorgten wuchs. Aber niemand wußte eigentlich recht, wer an den allgemeinen Nöten die Schuld trug. Man mußte wenigstens einen Namen haben, ein Schlagwort, das wie eine Fahne alle Elemente der Ordnung um sich scharte. Endlich hatte man es gefunden: die Sozialdemokraten waren die Anstifter all der Schäden.

      Und so blind die Vielen sich anfangs der Gewalt des Umschwunges hingegeben hatten, so unbesehen stolperten sie auch in die summarische Verurteilung der Verwandlung und ahnten nicht, daß die Sozialdemokratie nur einen winzigen Bruchteil dessen darstellte, was untötbar seine Keime gebärend in alles Leben streute und überlegten nicht, daß die sozialdemokratische Anschauung nicht allein durch den wirtschaftlichen Umschwung veranlaßt, sondern auch eine notwendige Folge des zentralisierten Polizeistaates, der Kasernierung einer Nation durch Generationen, der allgemeinen Volksschule und nicht zum geringsten des christlichen Bekenntnisses sei. Man beging den Fehler, in den die Masse dem Neuen gegenüber scheinbar naturnotwendig immer verfallen muß, man maß die auftauchende Bewegung nach dem Unbehagen, das ihre Verwirrungen verursachten. Sozialdemokrat wurde ein Sammelname für Unglauben, Unzucht, Betrug, Raub und Diebstahl. Und die Bürger glaubten in Wahrheit für das Dasein Gottes, die Unschuld ihrer Töchter, gegen die verwerflichen Neigungen ihrer Söhne und die ärgerliche Anmaßung des Gesindes zu kämpfen, wenn sie sich gegen diesen inneren Feind erhoben. Unsere beiden Kapläne versammelten die Wohlgesinnten in der Hinterstube einer Konditorei am Ring und nannten diesen Verein, der wöchentlich geheimnistuerische Zusammenkünfte abhielt, Kasino. Der Bürgermeister Schrader, als Organ der exekutiven Polizeigewalt und Kriegervereinshauptmann, erließ geschwollene Aufrufe zum Krieg gegen den Umsturz. Kein Geburtstag, kein Schweineschlachten ging ohne Kaiserhoch ab. Überall setzte man an Stelle des schmucklosen Rechtssinns schneidiges Draufgängertum; lärmender Patriotismus verdrängte die selbstverständliche Vaterlandsliebe. Aber es blieb bei diesem künstlichen Taumel der Loyalität nicht allein, man bemühte sich, des Gespenstes der neuen Zeit in einem Menschen von Fleisch und Bein habhaft zu werden, um auf seine Brust das Mal der Schande zu heften, nachdem man sie so gründlich durch Thesen und Resolutionen verdammt hatte.

      Zwei junge Burschen wurden vom Tanzsaale abgeführt und in der Folge zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie in der Trunkenheit den Kaiser beleidigt hatten. Gekränkte Frauen bezichtigten ihre Männer, verlassene Mädchen ihre ungetreuen Liebhaber. Jedes selbständige, freie Urteil machte verdächtig. Allenthalben erwachte ein schleichendes, horchendes Wesen, und nur jene waren befriedigt, deren Wohlergehen sich beim Anblick der Bedrängnisse anderer steigert, die nur der Fanatismus beglückt und jene, die so voll Niedrigkeit sind, daß sie um zeitlicher Vorteile willen ihre Grundsätze verschachern. Mein Vater hielt sich abseits von diesem Treiben und ließ sich durch nichts verleiten, hinter seinem Werktisch hervorzukommen, ja, mit einem deutlichen Zwang ließ er des Dorn-Schusters weitschweifige Berichte über alle Vorgänge in der Stadt über sich ergehen und stand nur von Zeit zu Zeit, wie um seine Geduld zu lüften, auf, um unter einem höhnischen Auflachen einen Rundgang durch die Stube anzutreten. Stets auch ließ er uns alle im Unklaren, ob er über die hanebüchene Torheit der Erzählung oder die Gutgläubigkeit des Erzählers in diese spottende Lustigkeit ausbrach. Nie aber legte er der Langatmigkeit Dorns die geringste Fessel an. Denn neben der schmerzvollen Verwunderung über die »neumodische Zeit« beschwerte allerhand häusliche Sorge des Armen Gemüt, und wenn er auch in Scham mehr darum herredete, so hatten wir alle es bald heraus, daß sein Junge, der Robert, nicht gut an seiner Stelle tue. Er war von seinem Vater, dem wegen geistiger Enge alles Außergewöhnliche und Ferne kostbar erschien, als Kellnerbursche nach Wien verdingt worden und hielt nun durch allerhand unziemliche Streiche seiner Eltern Kummer in stetem Atem. Kam auch der arglose Schuster über seines Einzigen Entgleisungen unschwer hinweg, so wurde sein Weib davon um so tiefer bedrängt, die, von Natur aus menschenscheu, sich immer mehr in Kleinmut verlor. So saß Dorn an manchen langen Abenden und schwatzte Himmel und Erde durcheinander, von niemand gestört, von niemand angeregt. Nur wenn er auf des Rinke-Tischlers seltsamen Aufschwung zu sprechen kam, empfand ich ein Aufhorchen meines Vaters. Ohne im mindesten die Gebärde der Gleichgültigkeit zu versehen, saß er da und schob dann und wann mit der Spitze seines Fußes etwas beiseite, in keinem Worte des Zerwürfnisses mit seinem Freunde gedenkend, ob der Schuster auch oft genug sich verwunderte, den Krummen gar nicht mehr bei uns zu treffen.

      Er ist heraufgekommen, pflegte mein Vater in scheinbar gütigem Gleichmut zu sagen, hat das Haus voll Leute und muß die Ohren steif halten, seit ihm alle kirchlichen und städtischen Arbeiten übertragen worden sind. Ich sah ihn erst heute da und da, und wenn sich der Dunst in seinem Kopf gelegt hat, kommt er von selbst wieder und setzt sich auf die Bank hier hinter den Tisch. Auf diese Weise brachte er es dahin, daß Dorn jedesmal ahnungslos seinen Windsack weiter ausbeutelte. Aber wenn des Schusters tappsender Schritt sich aus dem Hausflur auf die Straße verloren hatte, verharrte mein Vater lange in tiefen Gedanken auf seinem Platz in der Sofaecke. Die Pfeife ging ihm aus, und trüber Ernst grub Falten in sein Gesicht. Vielleicht verließ ihn in diesen Augenblicken der Glaube ganz, es könne ihm je gelingen, den Verirrten mit der Treue seines unerschrockenen Herzens aus den schmachvollen Verwickelungen zu lösen.

      Mir frühwachem Knaben waren seit jener Kampfesnacht die bunten Schatten vom Auge geglitten, und meine junge Seele nahm teil an dem Gram der Alten. Denn seit die Wirbel der tollen Monde sich ganz in mir zur Ruhe gerast hatten, ging ich wieder im Banne stiller Betrachtsamkeit. Brach von Zeit zu Zeit auch die kaum überwundene Ungebärdigkeit in mir durch, so war ich doch meist wie sonst: fügsam, fleißig und gut.

      Da setzte der Kampf meiner Eltern gegen ihr Schicksal ein, an dem mein Leben einen so tiefen Anteil nehmen sollte, während meine beiden Geschwister fast nur wie nahe Fremde darunter litten.

      Ich war Ministrant geworden und hatte mich unlustig eines Morgens um sechs Uhr unter dem steifgefrorenen Deckbett hervorgewunden. Zitternd vor Kälte entzündete ich das Lichtstümpfchen auf dem Mehlkasten und begann dann nach meinen Unterhosen zu suchen, die nirgends zu finden waren. Nach wenigen oberflächlichen Bemühungen weckte ich unsanft meine Schwester und machte ihr harte Vorwürfe über die Unordnung. Natürlich nahm sie die Störung mit gehöriger Entrüstung auf, und wir befanden uns bald in einem erregten Streit, bei dem meine Schwester so in Nachteil geriet, daß sie in lautes Weinen ausbrach, dem ich mit leisem Pfeifen und Singen sekundierte. Die Unterbeinkleider hatten sich endlich unter meinem Bett gefunden, und ich war im Begriff, mit dem Licht die Kammer zu verlassen. Da rüstete sich die kleine Flamme zum Erlöschen. Ich stellte den Leuchter wieder auf den Mehlkasten zurück, um dem letzten Ringen des Lichtes zuzusehen. Kurz vor dem Erlöschen brennt jede Flamme eine Weile gleichmäßig, wie mit einem zitternden Lächeln, um dann mit immer schwächer werdendem fieberndem Auffahren in die Nacht zu hüpfen. Diese Stille war eben über das kümmerliche Licht gekommen. Die Hände auf die Knie gestemmt, stand ich vor dem Mehlkasten. Jetzt – jetzt – jetzt, sagte ich in Gedanken; aber das Flämmchen kämpfte tapfer. Mit ganz leisem, doch hörbarem Jappen fuhr es immer auf, als schnappe es in Todesangst nach Luft. Da – ganz finster war es! Ich war tief betroffen, als mich plötzlich Nacht umfing und starrte einige Augenblicke auf die Stelle, wo eben das Licht noch leise gezittert hatte. Ein fernes Mitleid mit irgend etwas machte mich traurig ernst. Ich zog die Zehen der nackten Füße von den eisigen Dielen, streckte die Hände vor mich und tappte der Tür zu. Meine Schwester schlief schon wieder. Ihr ruhiges Atmen wurde nur manchmal von einem Stoßen ihrer Brust erschüttert, sonst war es ganz still. Ich hatte mich an die Stiege fortgegriffen und stand am ersten Stufen. Da hörte ich auf der unteren Treppe Schritte heraufkommen, mühselig, behutsam. Ich bückte mich, um zu erkennen, wer es sei. Ein schwaches Dämmern schwankte auf dem unteren Flur auf und nieder, an der Wand entlang, über eine Tür und einen daneben stehenden gelben Schrank. Dahinter wandelte ein blasser Lichtkreis, wie ihn Laternen mit runden Scheiben werfen. Nun stand meine Mutter in der Haltung eines tiefgebeugten Menschen vor der Tür auf dem zweiten Flur, stellte die Laterne vor sich auf den Boden, sah starr in den schmutzig-gelben Schein und fuhr sich dann unter schwerem Aufatmen mit der Hand über die Stirn. Ein heißer Schmerz stieg in mir auf, und wie ein Stein flog ich die Treppe hinunter an ihren Hals. »Mutterle, sei nich böse. Ja? Gelt, sei wieder gut«, flüsterte ich.

      Sie neigte sich