Allein ich knickte nicht zusammen, da er in grausamer Mühe Nägel in mein Gemüt trieb. Es riß die Wehmütigkeit aus meiner Seele, und mit keckem Zorn im Auge antwortete ich scharf und laut: »Jawohl, der bin ich!«
»Seh' mir einer den Wicht an!« rief er mit leisem Empören. »Warum kommst du denn da erst her? Ein Lump wirst du ja doch.«
»Das wird sich zeigen!« gellte ich.
Dann floh ich ohne Gruß. Ein Würgen fraß sich in meiner Brust aufwärts. Ich lief wie sinnlos über den Kies. Aber in der Mitte des Kirchplatzes legte es sich wie zwei unbarmherzige Arme um meine Brust und preßte sie so heftig zusammen, daß ich nach Atem ringend stehen bleiben mußte.
Plötzlich verdunkelte es sich um mich; es rieselte grau aus der Höhe, ein ganz leiser Wirbel, der bald wie kreisender Nebel um mich stand und durch mich lief, daß es ätzend über meine Augen floß und stoßend durch meine Brust polterte.
Eine alte Frau ging gerade vorüber.
»Jüngla, dir is wohl schlecht?« fragte sie mitleidig. Wahrhaftig, da stand ich großer Junge, der ich mich vor der Mitternacht und dem Rinke-Tischler nicht gefürchtet hatte, mitten auf dem Kirchplatz und weinte. Ärgerlich riß ich mit dem Ärmel der Jacke die Tränen aus den Augen. Dann wandte ich mich um und spähte, ob irgend jemand dastehe und sich über mich lustig mache. Ich wäre in blindem Zorn über ihn hergefallen. Wie ich mit meinen Blicken so in Streitlust umherstöberte, kam ich an das vergoldete Bild des gekreuzigten Menschenfreundes, das an einem massigen Kreuze vor der Mitte der Kirchenfront hing. Die Schatten der kahlen Zweige der beiden Ahornbäume lagen wie blutschwarze Striemen über seinem Leib. Aber in unermüdlicher Wehrhaftigkeit beschützte er mit ausgebreiteten Armen sein Haus. Die Mauer der Kirche hatte hinter seinem Rücken einen tiefen Riß, vom Dachfirst bis in die Grundmauern, doch der Heiland wußte davon wohl noch nichts; denn sein Antlitz strahlte wie immer voll göttlicher Sicherheit. Ich bemerkte den Schaden heute zum ersten Male, und eine seltsame Ruhe kam in mich. Nicht, als ob ich die eben erlittene Züchtigung als berechtigt anerkannt hätte; ein kühler, unbegreiflicher Trost floß in mein Herz. Grübelnd ging ich von dannen. Auf dem Ringe fiel mir ein, daß sich mein Vater über die lieblose Behandlung, die mir in der Schule zugefügt worden war, beim Pfarrer beschwert hatte. Aber was konnte ich für die Bosheit der anderen? Oder hatte der Pfarrer bemerkt, daß ich das Weihwasser von meiner Stirn gewischt hatte, da mein Vater aus der Kirche vertrieben worden war? Ach nein, ich war ja schon außerhalb der Kirche gewesen. Vielleicht hatte es jemand gesehen und ihm gemeldet. Der Kirchplatz war aber doch leer gewesen.
Zuletzt überfiel es mich wieder: Die Kirche hat einen Riß vom Dach bis in den Grund.
Sonderbarerweise nahm ich das als die Erklärung der pfarrherrlichen Lieblosigkeit hin.
Zu Hause angekommen, wich ich mit großer Ruhe und männlicher Sicherheit den Fragen meiner Mutter nach dem Ausfall der Audienz durch allgemeine Bemerkungen aus.
Ich war gewachsen und fühlte es in der Ferne meines Bewußtseins wie ein dumpfes, namenloses Wehe, eine schmerzvolle, weite Leere, über der bitterblasse Helle lag.
Dann stieg ich mit kaltem Lächeln die Treppe hinauf. In der Kinderkammer stand ich lange neben meinem Bette, in dem ich mich so oft mit traumheißen Wangen umhergeworfen hatte und genoß in wehem Stolz etwas wie das Gefühl des Vertriebenseins. Ein schmaler Sonnenstreifen strich über meinen Scheitel hin. Ich ließ das feine Gewebe der rastlos tanzenden Lichtstäubchen über mich rinnen, trat ins Dunkel zurück und sah es mit wartenden Sinnen an, wiegte mich hin und her, aus dem Licht in den Schatten, und alles geschah so willenlos, als sei ich ein Gewächs, das von einem inneren Luftzug geschaukelt würde wie eine Blume, die sich befruchtet fühlt.
Da traf mein Auge, die bebende Sonnenschwinge entlangschauend, auf den zitternden Lichtkreis, den sie an die gegenüberliegende Bretterwand malte. Das Loch in der Finsternis um uns ... und plötzlich fiel mich große Trauer an, daß ich so im Schatten stehe und eigentlich nichts mehr habe, als diesen ärmlichen Lichtkreis, hinter dem doch auch nur wieder eine Dachkammer lag. Tiefe Schwermut wurde durch den Gedanken noch vertieft, daß das alles die Strafe für meine Sehnsucht sei, einmal durch das Loch hinter die unendliche Nacht sehen zu können, wie mein Vater.
Niedergeschlagen stieg ich die Treppe hinab, setzte mich in einem Gefühl der Ermattung auf die Bank unter unsere Haustür und starrte mit zerstreuten Augen auf die Straße.
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So stürzen Städte in uns ein; Welten der Seele veröden leise; Revolutionen stoßen neue Erden auf mit anderen Steinen und anderen Sonnensystemen in Traumwelten. Das knickt den gesunden Menschen nicht, der der Schacht seiner Erneuerung ist. Er lächelt ein kümmerliches Lächeln, er schaut mit den großen Augen einer bitterglücklichen Sehnsucht: manchmal ein noch nie gehörter Laut nur, ein vorübergehendes allgemeines Müdewerden – je nachdem.
Dann bläst uns schon wieder der krause Wind der Stunden in den Nacken, und wir trotten weiter mit wirren Gesichtern, tiefer in die Gosse, näher der Sandwüste der Gewöhnlichkeit, höher hinauf – – je nachdem.
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Die Vorbereitungen zu meiner Übersiedlung in die Präparandenanstalt einer benachbarten kleinen Stadt drängten die Empfindung des neuen Zustandes in mir zurück.
Mein Vater segnete mich zum Abschiede mit einem langen, stummen Blick. Dann drückte er mir stark die Hand und sprach: »So geh' also!« Nichts weiter; aber wie er es sagte, enthielt es eine ernste Mahnung; eine Drohung, einen Schlag von unten her, eine Übertragung seiner Kraft.
Mit zuckenden Lippen murmelte ich irgend etwas, streckte ihm noch einmal die Hand hin und ging. Er blieb im Zimmer, und ich hörte noch, wie er mit langen Schritten umherzugehen begann.
Meine Mutter ließ sich von dem Kutscher zwischen Betten und Kisten auf den Rücksitz eines alten Halbgedeckten pferchen. Ich kletterte neben den Rosselenker auf den Bock. Der kleine Mann lächelte mir mit seinem roten, viereckigen Gesicht zu, um das ein spärlicher Bart wie eine graue, mottenzerfressene Boa hing, und fuhr dann dem abgetriebenen Schimmel mit der Peitsche um die Ohren. Das Rößlein schlug ärgerlich mit dem Schwanze und schlenkerte auf geschwollenen Beinen davon. Die Kotbleche schwirrten; die Häuser rannten langsam zurück. Da war der Kirchhof, da die letzte Fabrik! Nun polterte das Gefährt über die Bohlenbrücke, daß es war, als falle ein Gebäude ein. Die hellgrünen Weiten der Felder, der Tanz einsamer Bäume an fernen Rainen verwandelte die geheime Kümmernis meines Herzens in frohes Schauen. Dann lief der leichte Wind mit meiner letzten Trauer davon. Ich kam mir ordentlich beneidenswert vor, so in die weite, schöne Welt hineinzufahren und sah zu meiner Mutter zurück. Die saß da und hatte große, reine Augen, über denen gar keine Brauen waren, ein stillseliges Gesicht, wie es Kinder haben. Darum fragte ich nicht, ob es schön sei, sondern betrachtete alles mit noch größerer Freude. Dorf um Dorf – Felder – Wälder – stundenlang so.
Dann holperten wir über das löcherige Pflaster der kleinen Stadt, die wie ein grauer, verwitternder Ballen zwischen die Berge geklemmt war. Das wilde Wasser hatte ihn irgend einmal hierhergespült und in die Enge eingeteilt. Aus den weiten Wäldern, die die seinen Täler wie dunkelblauer Rauch füllten, waren dann Menschen hervorgekommen und hatten mit Axt und Säge sich aus ihm die ersten Hütten gebaut. Nun blühte die kleine Siedlung im Vermorschen und vermorschte im Blühen seit Jahrhunderten. Die Menschen kamen und verloren sich in den engen Straßenzeilen; aber die ernste Fröhlichkeit aus den ferneren Wäldern ging ihnen auf der kurzen Lebensausfahrt nimmer ganz verloren.
Ich kam zu einer Witfrau, die in einem langen, kahlen Raume, dessen Wände rosa getüncht waren, außer mir noch sieben Bürschlein eine recht schmale Kost verabreichte. Acht Betten standen rundherum an den Mauern, vor oder neben jedem ein hölzerner Koffer für die wenigen Habseligkeiten. Bald war auch mein Ruhelager bereitet, und die Mutter streichelte die kanariengelbe Kattundecke mit den schwarzen, großen Punkten darüber.
Der