»Eine Melodie aus dem Chorwerk vielleicht? Sie ist zu dem Gerhardtlied: ›Geh aus, mein Herz, und suche Freud.‹ Das Lied ist durchkomponiert als Arie für den Sopran.«
»Herr Friedrich, das Lied von Christi Garten,« rief sie.
Harro sagte: »Rose, du fängst an zu blühen, du hast jeden Augenblick rötere Lippen und wirst dich überfreuen. Es ist genug, Hans Friedrich, für heute, komm her zu mir.«
Hans Friedrich stand gehorsam auf. Aber die junge Königin bekam nasse Augen. »Du bist grausam, Harro ...« Dann verstummte sie und bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Harro war graublaß geworden und biß sich auf die Lippen. Der Künstler sah seinen Freund an und ging leise hinaus.
Als er draußen war, kniete Harro neben Rosmarie nieder, und legte seinen Kopf auf das Polster des Diwans neben ihrem Kissen.
Sie ließ ihre Hände sinken und sagte flehend: »Harro, ich wollte das nicht sagen... O Gott, was habe ich getan!... nun Hab ich dir weh getan!... Ach, nun ist es zu spät...«
Harro sagte dumpf: »Warum sagst du das zu mir, Rose! Nun hast du etwas zerbrochen, was nie wieder ganz wird. Etwas, woran ich mich immer noch gehalten habe... aber du hast ja recht, ich durfte deine Freude nicht stören mit meinen rohen Händen... Gott, mit jedem Wort, das ich sage, geb ich dir weiter recht. Grausam ist's von mir... Warum kann ich meine Qual nicht für mich behalten... Gott, wie das stößt, dein Herz... und deine Augen! Ich will gehen und Ulrike rufen.«
Sie hielt ihn fest. »O Harro, nicht, ich flehe dich an... laß mich nicht wieder allein – laß mich dir sagen... Kümmere dich nicht um das Herz, das hat schon oft so gestoßen... Verlaß mich nicht, Harro... du mußt mich anhören. Das Wort – o Gott, was hab ich getan... warum verlangte ich das Lied denn! Es geht auch ohne das Lied... und nun habe ich dich darum kränken müssen.« Sie verbarg ihr Gesicht in ihre Kissen und brach in bitteres Schluchzen und Weinen aus. »O mein Harro... ich habe ihm weh getan.«
In seinen Augen flackerte der Dämon auf. Er riß sie an sich, er bedeckte ihr Gesicht, ihre Haare mit seinen wilden Küssen, er vergaß alles in dem Sturm seiner Leidenschaft. Sie hätte in seinen Armen sterben können, so drückte er sie an sich, die man sonst vor jeder harten Berührung bewahrte. Sie weinte nicht mehr, sie ließ seine Wildheit über sich ergehen, wehrlos. Vielleicht litt sie nicht einmal, vielleicht verdeckte ihr der wilde Strom, der über sie hinweg brauste, alles andere. Erwärmte sie, überstürzte sie, benahm ihr Denken... Und seine Worte wurden immer wilder...
»Rose, ich ertrag es nicht mehr... ich will wieder mein eigener Herr sein... Ich will loskommen von dem, was mich erdrückt... Vor den Augen, die mich ansahen... vor meinem neuen Ich... Ich will wieder zurück, tun dürfen, was ich will. Ich will nicht in das finstere kalte Tal hinunter, wo ich nun mein ganzes Leben gehen soll. Ich will auch sterben, mit dir will ich sterben. Laß deine himmlischen Gärten. Komm mit mir! Kann uns Gott in seinem Lichte nicht brauchen, dann soll er uns in seine Dunkelheiten nehmen, er hat deren genug... Du brauchst nicht mehr zu leiden... du brauchst die lange Qual nicht... Da in meinen Armen, du fühlst es nicht. Und ich komme dir nach. Unsere Seelen reißt nichts auseinander... Du, du meine Seele! In welche Seligkeiten willst du dich verstecken, daß du mich nicht nach dir schreien hörst?«
Er hält sie, nun ganz in seinen Armen, ihr Körper liegt auf seinen Knien – fast leblos zuerst, aber plötzlich stemmt sie die blassen Hände gegen seine Brust. Da sind seine Worte in ihre Seele eingedrungen... Sie schlägt die großen Augen zu ihm auf, die sanften Augen. Da weicht der Dämon von ihm... ein eiskaltes Entsetzen packt ihn... ja, kann er denn noch zurück? Jetzt hat er furchtbare Leiden rettungslos über sie gebracht. Einen Augenblick schlagen seine Zähne aufeinander. Dann trägt er sie auf ihre Kissen. »Ich hole dir Hilfe.«
»Nein,« sagt sie ganz klar und hell. Sie hat ihren ganzen Willen zusammengerafft. »Du bleibst bei mir, Harro, kümmere dich jetzt nicht, wie mein Herz geht... dein Herz ist viel kränker... Harro, wohin willst du denn fliehen vor Gott? Warum wütest du gegen dich selbst? Warum vertraust du dich ihm nicht? Hat er sich nicht schon einmal zu dir geneigt? Du mußt dich in seinen Abgrund werfen. ›Dein Wille geschehe!‹ Harro... Hab ich das nicht auch getan?«
»Du, du,« er stöhnt es dumpf zwischen seinen Händen hervor.
»Meinst du nicht, es sei ein bitterer Weg gewesen, den ich allein gegangen bin? Komm zu mir, Harro. Ich will meine Arme um dich legen.«
»Wie darf ich dich wieder berühren, nach dem, was ich getan habe.«
»Komm zu mir,« flehte sie.
Er gehorchte, und sie zog ihn zu sich herab. »Mein armer Harro.« Sie strich ihm über seine Schläfen, sie faltete ihre Hände um seinen Kopf. »Meinst du, ich hätte die Fluten deiner Liebe nicht gefühlt! Du hast mir nicht weh getan. Wohl hast du mir getan. Deine wilden Worte, meinst du, ich hätte all die Zeit nicht gefühlt, was in dir brannte. Warum bist du immer fortgerannt von mir in die Wälder und wußtest nicht, wo du gewesen warst, und mußtest mich anlügen, wenn ich dich fragte. Und immer bist du auf der Flucht vor Gott gewesen und kannst doch nie wieder loskommen, du selbst hast das goldene Band hinausgeworfen und nun gehörst du ihm...! Warum hältst du ihm nicht still und lässest seine Güte auf dich herabkommen? Du hast ja gar keine Wahl mehr. Du bist sein Gefangener, Harro!«
»Seele,« stöhnte er, »laß mich nicht allein, laß mich nicht. Sonst die Dämonen... Nie wieder kannst du sagen, ich hätte dir kein Leid getan, nie wieder... das ist auch dahin. Das habe ich zerbrochen, das Goldglas... Jetzt bin ich ein Bettler. Warum muß ich auch in diese Tiefe hinuntergestoßen werden? War ich denn nicht zerschlagen genug? Ich weiß, ich soll das nicht zu dir sagen; ich soll wieder meine Maske vorziehen.«
»Du sollst nicht, Harro. Du sollst jetzt nichts tun als dich lieb haben lassen. O mein armer, armer, müder Harro. Auf den wilden Wegen ist er gegangen und die Dornen haben ihn blutig gerissen. Und alles, was er am meisten fürchtet, das ist über ihn gekommen. Und sein Leid ist so viel schwerer, härter und bitterer als das meine, wie seine Seele größer ist als die meine. Da ist ja nur so ein kleines Licht, du hast eine große Flamme. Darum ist auch ein solcher Kampf um deine Seele, Harro. Und vielleicht, wenn wir immer glücklich geblieben wären, so hättest du dein Herz noch ganz hart gehämmert. Nicht gegen mich, nein, nie gegen mich. Und was können wir auch, wir zwei armen Kinder tun gegen unseren Vater im Himmel? Wir müssen ihm stillhalten. Und du meinst, ich könnte mich in keiner Seligkeit vor deinem Weh verstecken!«
Harro zuckte zusammen. Sie hielt ihn an ihrer Brust, so fest ihre Arme halten konnten.
»Lieber, ich will auch keine Seligkeit ohne dich... In meinen Kinderhimmel wollte ich schon nicht ohne dich. Aber sieh, nun bin ich auf dem Wege... wir verstecken uns ja doch nicht mehr vor einander, wenn wir unser Leid miteinander tragen, ich fürchte mich nur mit dir zu sprechen, weil ich weiß, wie wund du bist. Aber du hast selbst angefangen, und nun ist's gut. Und ich bin auf dem Wege, weil mich Gott gerufen hat. Da muß der Zugvogel aus seiner Heimat. Er muß. Und ich gehe zu Gott. Das ist mir genug. Ich sehe meinen Vater an und seine Liehe, die mich umgibt wie mit warmer Sommerluft, und denke, daß Jesus gesagt hat: Unser Vater.«
Ihre unruhige Mutterliebe treibt die alte Dame herein. »Kinder, ich ängstige mich. Herzblatt, wie liegst du da!... so... hingeworfen. Harro, warum versteckst du dich vor mir?«
»Liebe Mutter,« antwortete die Rose, »Harro trägt mich in mein Bett und wacht bei mir. Ich kann nicht allein gelassen werden, ich muß ihn haben... Ich bin wieder hartnäckig, Uli... Komm, Harro, du hast mich doch vorher auch tragen können. Bin ich dir nun zu schwer?«
»Es tut dir weh, Kind, wenn er dich allein trägt, ich will Märt rufen.«
»Es tut mir wohl, Uli, wenn er mich trägt.« Und mit einem wundervollen Lächeln streckte sie ihre Arme nach ihm aus. Er hob sie auf und sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Und so trug er sie hinüber. Drüben, ehe er sie ihrer Mutter überließ, neigte er sich noch einmal über sie und flüsterte ihr zu: »Du, du, das war das allerschönste, was du getan hast!« –
Rosmarie