Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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ja.«

      »Die hier sind für Sie.«

      Einer der Briefe kam von Séverin. Der andere von den Ilustrados. Mit klopfendem Herzen öffnete Enrique den zweiten Brief und überflog ihn. Heiße Scham durchflutete ihn.

      … wir haben den Eindruck, diese Position liegt ein wenig außerhalb Ihres Kompetenzbereichs, Kuya Enrique. Das Alter erst verleiht uns Weisheit, und so ist uns bereits die Weitsicht gegeben, die Unabhängigkeit voranzutreiben und zu erkennen, wie wir sie erreichen. Sie sind ein Mann von kaum zwanzig Jahren. Woher nehmen Sie die Sicherheit, zu wissen, was Sie wollen? Mag sein, dass wir uns in friedlicheren Zeiten einmal genauer mit Ihnen und Ihren Angelegenheiten beschäftigen werden. Doch für den Moment unterstützen Sie uns von dort, wo Sie jetzt stehen. Genießen Sie Ihre Jugend. Schreiben Sie Ihre inspirierenden historischen Artikel. Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen …

      Enrique wurde schwindelig. Er sank auf einen der Stühle. Seine halben Ersparnisse hatte er darauf verwendet, den Lesesaal zu mieten, Essen und Getränke zu organisieren und einige der Artefakte als Leihgabe aus dem Louvre hierhertransportieren zu lassen. Und wofür?

      Die Tür flog auf. Enrique sah hoch – welche Hiobsbotschaft hatte der Kurier wohl noch zu überbringen? Doch es war nicht der Bote. Ganz und gar nicht. Enriques Puls schoss in die Höhe. Mit diesem Mund, der fürs verschmitzte Grinsen gemacht schien, und Augen, so klar wie gefrorene Feenteiche, marschierte Hypnos auf ihn zu.

      »Hallo, mon cher.« Er gab ihm zwei Küsschen auf die Wangen.

      Wohlige Wärme durchströmte Enrique. Vielleicht waren nicht all seine Träume töricht. Nur ein Mal wollte auch er umworben werden, jemandes erste Wahl sein. Unentbehrlich sein. Und nun stand Hypnos vor ihm.

      »Falls du gekommen bist, um mich zu überraschen und dem Vortrag zu lauschen, weiß ich das sehr zu schätzen … du scheinst allerdings der Einzige zu sein.«

      Hypnos blinzelte. »Dem Vortrag lauschen? Mais non. Es ist vor zwölf. Da bin ich doch normalerweise kaum Herr meiner Sinne. Ich bin hier, um dich abzuholen.«

      Die wohlige Wärme verpuffte und rasch faltete Enrique seine Träume zusammen und verstaute sie wieder tief in seinem Inneren.

      »Hast du denn den Brief nicht erhalten?«, fragte Hypnos.

      »Ich habe mehr als genug Briefe erhalten«, murrte Enrique.

      Hypnos öffnete den von Séverin und hielt ihn ihm vor die Nase.

      EIN PAAR AUGENBLICKE später gesellte Enrique sich zu Laila in Hypnos’ Kutsche. Sie schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter. Hypnos rutschte zu ihnen auf die Bank, ergriff seine Hand und streichelte sie mit dem Daumen.

      »Wie ist es denn gelaufen?«, fragte Laila. »Hast du meine Blumen bekommen?«

      Enrique nickte. In seinem Magen brannte noch immer die Scham. Die Ilustrados hatten ihm unmissverständlich mitgeteilt, dass seine Ideen es nicht wert waren, gehört zu werden. Aber den Schatz des Gefallenen Hauses zu finden, dem Orden Die Göttliche Lyrik zurückzubringen … das könnte das Blatt noch einmal wenden. Abgesehen davon fühlte es sich irgendwie richtig an, auf eine letzte gemeinsame Akquisitionsmission zu gehen. Als würde er so nicht nur Tristans Andenken in Ehren halten, sondern auch auf befriedigende Weise mit diesem Kapitel seines Lebens – als Historiker des L’Éden und als Teil von Séverins Mannschaft – abschließen.

      »Es ist keiner gekommen«, sagte er, doch seine Worte wurden von dem Geräusch der anfahrenden Kutsche auf dem Schotter verschluckt.

      Sie verhallten ungehört.

      Zofia

      Während des letzten Jahres hatte Zofia Boguska zu lügen gelernt.

      Im Dezember hatte sie den anderen erzählt, sie wolle Chanukka in ihrer polnischen Heimatstadt Głowno feiern, wo ihre Schwester Hela als Gouvernante für die Kinder ihres Onkels arbeitete. Doch das war nicht die Wahrheit. In Wahrheit lag Hela im Sterben.

      Nun stand Zofia in voller Reisemontur vor der Tür zu Séverins Arbeitszimmer. Weder hatte sie das Gepäck in ihr Gemach gebracht, noch hatte sie den Mantel oder den veilchenfarbenen Hut abgelegt, der – wie Laila gesagt hatte – ihre Augen »hervorhob«, weshalb sie ab und an ängstlich ihre Lider betastete. Sie hatte nicht so bald wiederkommen wollen. Da Séverin keine neuen Akquisitionsmissionen angenommen hatte und ihre Fähigkeiten bei der Suche nach dem Buch Die Göttliche Lyrik bisher keine große Hilfe gewesen waren, war es auch gar nicht notwendig gewesen. Zwei Tage zuvor hatte sie jedoch einen Brief von Séverin erhalten, mit der Aufforderung, umgehend ins L’Éden zurückzukehren. Warum, hatte nicht darin gestanden.

      »Fahr ruhig, Zosia, es geht mir schon viel besser«, hatte Hela gesagt und ihr einen Kuss auf den Handrücken gedrückt. »Du musst dich doch auch um dein Studium kümmern. Bekommst du nicht ohnehin Schwierigkeiten, weil du so lange nicht an der Universität warst?«

      Zofia wusste nicht mehr, wie viele Lügen sie inzwischen erzählt hatte. Letzten Endes war ihr keine Wahl geblieben. Sie musste zurück, denn ihr Erspartes ging zur Neige. Und Hela hatte recht – ihr Zustand schien sich tatsächlich zu bessern. Vor einigen Tagen noch war sie von Fieberkrämpfen geschüttelt worden. Als sie wieder einmal ins Delirium gefallen war, hatte ihr Onkel nach einem Rabbi geschickt, der die Sterberituale durchführen sollte. Doch stattdessen war ein neuer Arzt gekommen. Er beharrte darauf, Zofia habe für seine Dienste gezahlt, und obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, bat sie ihn herein. Hoffnung ließ sich nicht von Statistiken beeindrucken. Einen Versuch war es wert. An diesem Abend verabreichte der Arzt Hela eine Arznei, von der er behauptete, sie sei nirgends sonst zu bekommen. Und er versprach, dass Hela leben würde.

      Und das tat sie.

      Am nächsten Tag kam Séverins Brief. Doch auch wenn Hela nun auf dem Weg der Besserung war, entschied Zofia, nicht dauerhaft in Paris zu bleiben. Sie wollte heimkehren und sich um ihre Schwester kümmern … es fehlten ihr lediglich die Mittel. Ihre gesamten Ersparnisse hatte sie für Helas Pflege aufgebraucht. Und für die Zahlungen an ihren Onkel, zum Ausgleich für die Zeit, die Hela seine Kinder nicht unterrichten konnte. Sollte sie sterben, würde er die restlichen Schulden jedoch »großzügig« verfallen lassen.

      Schließlich gehörten sie zur Familie.

      Und so war Zofia nach Paris zurückgekehrt. Sie wollte sich verabschieden. Außerdem würde sie ihre Laboreinrichtung verkaufen. Mit dem Erlös könnte sie Hela weiter pflegen.

      Nun klopfte sie an Séverins Tür. Hinter sich hörte sie die eiligen Schritte seines Faktotums. »Mademoiselle Boguska«, zischte er leise, »sind Sie sicher, dass das nicht warten kann? Monsieur Montagnet-Alarie ist äußerst beschäf–«

      Da öffnete sich die Tür und Séverin stand plötzlich vor ihr. Er warf seinem Bediensteten einen kurzen Blick zu und der Mann eilte den Flur hinunter. Zofia fragte sich, wie Séverin es schaffte, ohne Worte Befehle zu erteilen. Diese Art Macht würde sie selbst nie besitzen. Aber – sie umfasste ihr Kündigungsschreiben noch fester – wenigstens würde sie jemanden retten, den sie liebte.

      »Wie war deine Reise?«, erkundigte sich Séverin und trat zur Seite, um sie einzulassen.

      »Lang.«

      Jedoch weit weniger schlimm, als sie hätte sein können. Séverin hatte seinem Brief ein Erste-Klasse-Ticket für ein privates Zugabteil beigelegt, sodass sie unterwegs mit niemandem hatte sprechen müssen. Im Abteil hatte es Lampen mit vielen Fransen gegeben und einen einfarbigen Teppich. Sie hatte beinahe die ganze Fahrt damit verbracht, laut Dinge zu zählen. Nicht nur, um sich zu beruhigen, sondern auch, um sich auf die Aufgabe vorzubereiten, die vor ihr lag.

      Abrupt streckte sie Séverin das Schreiben hin. »Ich muss zurück. Meine Schwester braucht mich. Ich kündige. Ich bin nur zurückgekommen, um mich von euch allen zu verabschieden.«

      Séverin starrte das Dokument an.

      »So