Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus J. Duisberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9788726264821
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auch, und gerade deshalb, in allen ihren Äußerungen innerlich unwahr. Das Gespinst der Lüge erstickte schließlich die Herrschenden selbst. So stand am Anfang des Untergangs – wie so oft – Verblendung.

      Für Deutschland aber war es eine glückliche Fügung, daß Honecker in diesen Wochen durch Krankheit und Alter bereits geschwächt und der tatsächlichen Entwicklung etwas entrückt war. Im Vollbesitz seiner Kräfte wäre er wohl imstande gewesen, auch ohne Rücksicht auf die Sowjetunion seine Armee marschieren und die Demonstranten zusammenschießen zu lassen und damit möglicherweise auch den großen Verbündeten doch noch zum Handeln zu zwingen. Seine Genossen aber besaßen nicht mehr ein vergleichbares Maß an Ruchlosigkeit; sie wollten wohl sich selbst und das System retten, schreckten aber vor dem Äußersten zurück. Ohne Einwirkung von außen sind Revolutionen immer dann erfolgreich, wenn das Aufbegehren von unten auf inneren Verfall und Schwäche der bisher Herrschenden trifft.

      Führungswechsel

      Am 18. Oktober wurde Honecker gestürzt. Nach einer Auseinandersetzung im Politbüro erklärte er in einer Sitzung des Zentralkomitees seinen Rücktritt nicht nur vom Posten des Generalsekretärs der SED, sondern auch von seinen staatlichen Ämtern. Gleichzeitig verloren die Politbüromitglieder Günter Mittag und Joachim Herrmann, zuständig für Wirtschafts- bzw. Informationspolitik, ihre Ämter. Die amtliche Verlautbarung ließ bereits erkennen, daß dieser Wechsel nicht freiwillig, sondern Ergebnis eines Machtkampfes war.

      Honeckers Nachfolger, zunächst als Generalsekretär, wenig später, am 24. Oktober, auch als Vorsitzender des Staatsrats, wurde Egon Krenz. Er galt schon seit langem als Kronprinz, wenngleich auch immer wieder Zweifel aufgekommen waren; man redete von Affären und Alkoholproblemen, ohne freilich Genaueres zu wissen. Wie einstmals Honecker hatte Krenz seine politische Laufbahn in der FDJ begonnen, an deren Spitze er auch lange stand; bei offiziellen Anlässen erschien er im blauen offenen FDJ-Hemd, was mit vorrückenden Jahren einen etwas albernen Eindruck machte. Später suchte er sich einen staatsmännischen Anstrich zu geben. Bräutigam, der ihn einmal in einer Diskussion mit westlichen Botschaftern erlebt hatte, zeigte sich beeindruckt von seinen intellektuellen Fähigkeiten. Ich begegnete ihm zum ersten und einzigen Mal einen Monat später bei einem Besuch von Minister Seiters in Berlin. Krenz hatte etwas Grobschlächtiges an sich, das seine zivilen Umgangsformen als aufgesetzt erscheinen ließ. Sein schweres, breitflächiges Gesicht mit den auffällig unterlaufenen Augenhöhlen ließ an einen mehrfach geschlagenen Boxer denken. Er sprach langatmig und etwas monoton, wobei er immer wieder mitten im Satz, ohne erkennbaren Anlaß, den Mund zu einem Lachen verzog, was gleichermaßen töricht und irritierend wirkte, zumal er dabei ein großes Gebiß entblößte, das mich unwillkürlich an Rotkäppchen und den Wolf im Bett der Großmutter denken ließ.

      Ich hielt Krenz von Anfang an für einen Mann des Übergangs. Da er sich selbst aber zweifellos nicht so verstand und entschlossen schien, den Machtanspruch der SED kompromißlos und mit aller Härte zu vertreten, ließ sich freilich zunächst nicht absehen, wie lange dieser Übergang dauern würde. Am Abend des 18. Oktober wandte sich Krenz mit einer wohlvorbereiteten Rede im Stil einer Regierungserklärung an die Öffentlichkeit. Er gab eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Führung und Bevölkerung, Fehleinschätzungen und wirtschaftliche Probleme offen zu, ließ aber keinen grundsätzlich neuen Ansatz zu Reformen erkennen. Von dem ausschließlichen Macht- und Führungsanspruch der SED machte er keinerlei Abstriche. Zwar sprach er von »Kontinuität und Erneuerung«, legte den Akzent aber eindeutig auf die Kontinuität: Es sollte nicht anders, nur besser gemacht werden. Dies war ganz gewiß kein Signal, um den wachsenden inneren Druck abzubauen. Vage Ankündigungen bloßer systemimmanenter Verbesserungen konnten nicht ausreichen, um Vertrauen zu gewinnen. Schließlich war nicht zu erwarten, daß die Menschen, die in den letzten Tagen und Wochen zu Tausenden auf die Straße gegangen waren, still in ihre Wohnungen zurückkehren würden, nur weil ein anderer Mann an die Spitze getreten war.

      Während seine Rede also innenpolitisch wenig Bewegung verhieß, suchte Krenz nach außen Flexibilität zu demonstrieren. Dabei stand an erster Stelle das Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. Ungeachtet der Wiederholung stereotyper Angriffe warb Krenz unüberhörbar um Unterstützung und Ausbau der Zusammenarbeit, wobei er langfristige vertragliche Regelungen und institutionalisierte Gesprächsebenen für alle Bereiche, erstmals auch für humanitäre und touristische Fragen, anbot. Offenkundig sah die neue Führung das innerdeutsche Verhältnis mehr denn je als entscheidend für die innere und äußere Existenz der DDR an.

      Werben um Hilfe

      Wenige Tage später, am 24. Oktober, erschien Dr. Alexander Schalck-Golodkowski in Bonn zu einem Gespräch mit den Ministem Schäuble und Seiters. Was Vogel für das Humanitäre, war Schalck fürs Geld. Offiziell war er Staatssekretär im Außenhandelsministerium der DDR, doch mit dieser Amtsbezeichnung wurde seine Funktion nur höchst unzulänglich beschrieben. Abgesehen davon, daß er dem zuständigen Minister Gerhard Beil in keiner erkennbaren Weise unterstellt war, sondern ganz autonom agierte, war er Herr über ein in seinen vielfachen Verflechtungen unter der Bezeichnung »Kommerzielle Koordinierung« (»Ko-Ko«) erst später vollständig bekanntgewordenes Imperium in- und ausländischer Firmen, deren Zweck vornehmlich darin bestand, der DDR auf legalem und paralegalem Wege dringend benötigte »Valuta«, das heißt Hartwährung oder nur in Hartwährung zu erhaltende Güter, zuzuführen. Das reichte vom Antiquitäten- bis zum Waffenhandel, schloß aber noch vieles andere ein; auch die finanzielle Abwicklung der »Besonderen Bemühungen« fiel in seine Zuständigkeit.

      Schalck war der Bundesregierung schon 1974 von der DDR-Führung als Unterhändler für besondere Angelegenheiten benannt worden. In der Folge handelte Staatssekretär Günter Gaus, der erste Leiter unserer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, mit ihm die Vereinbarungen über die Grunderneuerung der Autobahn zwischen Helmstedt und Berlin, eine Autobahnverbindung von Berlin nach Hamburg und eine Reihe anderer Verkehrsprojekte aus, alle nach demselben Muster, daß nämlich die DDR ihre Arbeits- und Dienstleistungen auf eigenem Gebiet mit einem gehörigen politischen Aufpreis an die Bundesrepublik gegen Zahlungen in Deutscher Mark verkaufte.

      Die Verhandlungen hatten einen bizarren Zug insofern, als alle wesentlichen Sachgespräche im geheimen mit Schalck unter vier Augen geführt wurden, daneben aber eine offizielle Verhandlungsebene beim Außenministerium der DDR bestand, auf der ebenfalls Gespräche stattfanden, die jedoch ohne jede Bedeutung waren. Nach Abschluß der Verhandlungen trat Schalck ins Dunkel zurück, während der offizielle Vollzug im Lichte der Öffentlichkeit durch das – vorher sachlich kaum beteiligte – Außenministerium der DDR erfolgte.

      Später verkehrte Schalck unmittelbar mit dem Chef des Bundeskanzleramts und daneben besonders mit dem bayrischen Ministerpräsidenten, wobei die Kommunikation zwischen diesen beiden Gesprächspartnern oft zu wünschen übrigließ. Auch die Vorbereitung des Honecker-Besuchs im Sommer 1987 lief über Schalck, der in mehreren Gesprächen mit Schäuble die Einzelheiten des Programms und die Grundzüge der Ergebnisse aushandelte. Dies war übrigens das einzige Mal, wo Schalck erkennbar bedauerte, an dem Ereignis selbst nicht beteiligt zu sein, sondern nach den Vorgesprächen wieder in den Hintergrund treten zu müssen.

      Als Verhandlungspartner war Schalck diskret und absolut zuverlässig. Er verfügte über einen kleinen, sehr effizient arbeitenden Stab und hatte unmittelbaren Zugang zu Honecker, so daß er immer außerordentlich schnell verbindliche Verhandlungspositionen präsentieren konnte. Auf unserer Seite ließ die Schwerfälligkeit der interministeriellen Abstimmung eine rasche Reaktion dagegen gewöhnlich nicht zu; nur in Ausnahmefällen, wo sich – wie im Sommer 1987 – alles im kleinen Kreis, d.h. praktisch in Schäubles und meinem Büro vollzog, konnten wir zügig vorgehen.

      Schalck besaß eine hellwache Intelligenz und viel Witz. Er war genau, aber nicht kleinlich, hart im Geschäft, aber umgänglich. Ihm eignete eine burschikose Jovialität, die er im Gespräch – oft mit einem berlinisch gefärbten Wortschwall – taktisch gut zur Geltung zu bringen wußte. Obwohl unbedingt loyal gegenüber seinem System, war er alles andere als ein Apparatschik und sprach mit oft erstaunlicher Offenheit über die Schwächen der DDR, die er freilich wie kaum ein anderer kannte. Vielleicht vor dem Hintergrund seiner Verbindung mit dem